Hilmar Klute: Oberkampf

In „Oberkampf“ erzählt Hilmar Klute von der „Generation Agentur“ in Zeiten des Terrors. Von Charlie Hebdo und einem Mann auf Sinnsuche in Paris.

„Jonas bekam wieder richtig Lust, sich mit Steins egomanischer Literatur zu befassen. Hatte der Alte denn nicht recht? Galt es nicht, sein eigener Roman zu werden, losgelöst von den Zumutungen der Geschichte und der Wirklichkeit?“

Hilmar Klute, “Oberkampf”


Was anfangen mit einem Leben, wenn man mit Anfang 40 schon alles hat und einen im Grunde nichts mehr interessiert? Leidenschaften und Träume mit dem „modernen Erfolgsmenschenalltag“ nicht kompatibel sind? Hilmar Klute, Chef der Streiflicht-Redaktion der Süddeutschen Zeitung, begeisterte mit seinem federleicht geschriebenen Romandebüt „Was dann nachher so schön fliegt“ Kritik und Leser gleichermaßen. Dort stand dem Protagonisten noch die ganze Welt offen, waren Träume – unter anderem vom Dasein als Schriftsteller – noch möglich. In seinem zweiten Roman, „Oberkampf“, sendet der Schriftsteller nun einen rund 20 Jahre älteren Protagonisten auf Sinnsuche, einen, der seinem selbstgeschaffenen „Museum der Ereignislosigkeit“ entkommen und ebenfalls als Schriftsteller leben möchte.

Ein Neuanfang an der Seine

Jonas Becker, ein typischer Vertreter der „Agenturen-Generation“, lässt Frau, Job, Wohnung, sein ganzes bisheriges Leben in Berlin zurück, um in Paris neu anzufangen. Der Zufall will es, dass er in der Nacht vor dem Attentat auf die französische Satirezeitung „Charlie Hebdo“ in der französischen Metropole ankommt und sein kleines Appartement in der Rue Oberkampf nahe der Redaktion liegt. Der Anschlag ist ein Ereignis, das die jungen Franzosen, die Jonas in dieser Nacht kennenlernt, bis auf den Kern erschüttert. Insbesondere Christine, die später seine Geliebte wird, will wissen, woher der Hass und der Zorn aus den Banlieues stammen. Jonas dagegen verfolgt die Vorgänge, die Welle der Gewalt, beinahe kalt und analytisch: „Er konnte nichts mehr für dieses Land tun – dieser Gedanke, der aberwitzig und anmaßend war, begann sich in seinem Kopf festzusetzen.“  Für Jonas scheint es klar, dass der Terror, der in jenen Tagen in die europäischen Städte einzieht, sich nicht auf eine Weise erklären ließ, „die über das bloße soziologische Ereignis hinausging“.

Bild von Walkerssk auf Pixabay

Ebenso distanziert und beinahe gleichgültig geht Klutes Protagonist jedoch nicht nur mit den politischen Ereignissen um, sondern auch mit den kleineren und größeren menschlichen Katastrophen, die sich in seinem Leben ereignen. Angetreten in Paris, um die Biographie eines egomanischen Schriftstellers zu schreiben, verliert Jonas bald das Interesse an dem Job und dem von ihm bewunderten Richard Stein. Zwar begleitet er diesen auf dessen Suche nach dem drogenabhängigen Sohn in die USA, doch auch dort bleibt er auf Abstand, betrachtet er die Welt distanziert: „Es gab kaum etwas Falscheres auf der Welt als diese Landschaft“.

Midlife-Crises mit kleineren Längen

Bei einem schlechteren Erzähler als Hilmar Klute könnte sich die Beschreibung eines gelangweilten Mannes in vorgezogener Midlife-Crisis schnell auf das Gemüt des Lesers schlagen und Langeweile bei der Lektüre verursachen. Doch Klute hat seinen Stoff gut im Griff, bis hin zur bitteren Pointe ganz am Schluss: Jonas, endlich bereit, sich wirklich von allen Lebensfesseln zu befreien, betritt den Pariser Club Bataclan, um ein Konzert der Band „Eagles of Death Metal“ zu besuchen …

Klute lässt seinen neuen Protagonisten nicht mehr so hoch und leicht und unbeschwert fliegen, vielmehr ist nun eine leise, untergründige Melancholie in sein Schreiben eingezogen. Dieses Psychogramm eines überdrüssigen, am Leben eigentlich unbeteiligten Mannes stellt ganz leise und behutsam entscheidende Fragen: Unter anderem die, wie man sein eigenes Leben mit Sinn und Gehalt erfüllen will, wenn der Tod in Form des Terrors hinter jeder Clubtür lauern kann.

Aber wie der Vorgänger, an dem jeder Roman eines Schriftstellers gemessen wird, ist auch dies ein Buch, das durch seine wunderbare Sprachkraft glänzt. Ganz wenige missglückte Bilder (was ist ein „entzündlich glänzender Mann“ oder warum muss die Metro als „immer bereit gestellter Fahrdienst“ bezeichnet werden?) durchbrechen diese ausgefeilte Sprache, in die man gut und gerne abtauchen kann. Hilmar Klute verbeugt sich mit seinem zweiten Roman auch vor Leonard Cohen, dem im Buch eine wunderbare Referenz erwiesen wird. Da gibt es Parallelen: Beide Künstler sind Suchende, Zweifelnde, Hinterfragende, die mit dem wunderbaren, einzigartigem Talent gesegnet sind, der Melancholie ihre Schönheit zu belassen.


Bibliographische Angaben:

Hilmar Klute
„Oberkampf“
Verlag Galiani Berlin, 2020
Gebunden, Lesebändchen, 320 Seiten, 22,00 Euro
E-Book 18,99 Euro
ISBN 978-3-86971-215-4

Ferdinand von Schirach: Terror

Ferdinand von Schirachs „Terror“ ist von bedrückender Aktualität. Der Text stellt die Frage nach Sicherheit versus Freiheit, der Leser wird zum Geschworenen.

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Bild: Florian Pittroff, https://flo-job.de/

Ein Beitrag von Florian Pittroff

Ferdinand von Schirachs „Terror“ ist ein Buch von bedrückender Aktualität. Plötzlich hat man Paris wieder vor Augen. Der Text stellt die Frage, wie wir künftig leben wollen. Muss man sich in Zeiten wie diesen für die Freiheit oder für die Sicherheit entscheiden? Ist die Würde des Menschen trotz Terror unantastbar oder doch antastbar? Schirach macht die Leser zu Geschworenen.

Entführtes Passagierflugzeug als Waffe

Der Plot: Auf dem Flug von Berlin nach München bringt ein Terrorist eine Lufthansa-Maschine in seine Gewalt und will sie über der Allianz-Arena bei München abstürzen lassen. Und zwar während eines Länderspiels. Die Arena ist mit 70.000 Menschen restlos ausverkauft. Zwei Kampfjets der Luftwaffe versuchen, das Flugzeug zur Landung zu zwingen – ohne Erfolg. Sie eskortieren die Maschine und kurz vor dem Stadion beschließt einer der beiden Eurofighter-Piloten, den Airbus abzuschießen. Die 164 Insassen werden alle getötet – die 70.000 im Stadion werden jedoch durch den Abschuss alle überleben.

Aufgearbeitet wird die ganze Geschichte in einer Gerichtsshow. Das Spannende daran ist, dass der Leser als mündiger Bürger quasi im Saal dabei ist, in Entscheidungsprozesse eingebunden wird und Entwicklungen mitbekommt, in einem Moment noch den Verteidiger, im anderen Augenblick aber auch die Staatsanwältin versteht, sich in den Gewissenskonflikt  des Piloten einfühlen kann – oder eben nicht. Jeder kann für sich entscheiden.

Rede zum Attentat auf Hebdo

Die Aufgabe des Lesers wird durch die Plädoyers des Verteidigers und der Staatsanwältin nicht leichter. Oft hat man Aha-Erlebnisse, ist sich plötzlich ganz sicher: „Ja so ist das – man kann niemals ein Leben gegen ein anderes aufrechnen“. Und nur einen kurzen Moment später denkt man: „Doch das kann man nicht nur, das muss man sogar“. Der Zwiespalt wächst, die Unsicherheit wird größer, der Gewissenskonflikt hat einen fest im Griff: Wie wiegt man Menschenleben gegeneinander auf? Ferdinand von Schirach hält uns mit seinem Buch genau diese Frage vor Augen.

Ein tiefgründiges Buch, in dem Nüchternheit groß geschrieben wird. Für Emotion und Gefühl ist der Leser zuständig. Schirachs Rede auf Charlie Hebdo ist ebenfalls in diesem Band enthalten. Alles unbedingt lesenswert!

In der dramatischen Fassung geht “Terror” bereits um die Welt, das Theaterstück war und ist an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland zu sehen. Und die Zuschauer werden jeweils direkt vor die Gewissensfrage gestellt: Was ist Schuld?


Informationen zum Buch:

Ferdinand von Schirach
Terror
btb Verlag, 2106
ISBN: 978-3-442-71496-4


Über den Gastautor:

Florian Pittroff ist Magister der Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Journalist und Texter. Seine Buchbesprechungen waren unter anderem zu lesen im Kulturmagazin „a3kultur“ und im deutschsprachigen Männermagazin „Penthouse“.  Er verfasste Kulturbeiträge für das Programm des „Parktheater Augsburg“, war unter anderem verantwortlich für die Medien- & Öffentlichkeitsarbeit des kulturellen Rahmenprogramms „City Of Peace“ (2011) und die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften (2015) in Augsburg. Florian Pittroff erhielt 1999 den Hörfunkpreis der Bayrischen Landeszentrale für neue Medien für den besten Beitrag in der Sparte Kultur.

Homepage: www.flo-job.de

Karim Miské: Arab Jazz

Ausgegrenzt und voller Hass: In “Arab Jazz” wirft Karim Miské einen Blick auf die Jugendlichen in den Banlieues von Paris. Ein Krimi als Gesellschaftsanalyse.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Wer etwas über die innere Befindlichkeit einer Gesellschaft erfahren möchte, ist mit Kriminalliteratur nicht schlecht bedient. Wenn sie denn auch noch so hervorragend flüssig geschrieben ist wie das Romandebüt des Journalisten und Filmemachers Karim Miské. Bereits ab 2006 arbeitete der Pariser, Sohn eines Mauretaniers und einer Französisin, an “Arab Jazz” (was den deutschen Verlag dazu verleitete, diesen eingängigen Titel, der bei den meisten Übersetzungen beibehalten wurde, durch “Entfliehen kannst du nie” zu ersetzen, das weiß der Himmel). Und beschrieb darin, was Frankreich seither immer wieder erschüttert: Die Gewalt islamistischer Attentäter.

Zustandsbeschreibung eines zerrissenen Landes

Ein Einwanderer mit psychischen Problemen, die bestialisch ermordete Tochter strenger Zeugen Jehovas, Jungs, die Salafisten in die Hände geraten, junge Frauen, die auf jüdisch-orthodoxe Weise an Fremde verheiratet werden sollen, korrupte, rassistische Polizisten sowie ein originelles, intellektuelles Ermittlerpaar: Diese Gemengelage nutzt Miské nicht nur für eine rasant daherkommende Handlung mit überraschenden Wendungen, sondern auch, um einen glasklaren Blick auf den Zustand des modernen Frankreichs zu zeigen.

Hass, Brutalität, Orientierungslosigkeit – da trifft die Verführungskunst orthodoxer Prediger auf offene Gemüter. Denn eine ganze Generation wird ausgeschlossen und vernachlässigt, steht außerhalb. Das wird allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger erzählt, sondern in einen raffinierten Plot verkleidet, stilistisch sind deutliche Anklänge bei Ellroy  zu erkennen (der Titel “Arab Jazz” ist eine Hommage an den US-Amerikaner und dessen Roman “White Jazz”, was von Weißen verursachter Trubel bedeutet). Aktueller können die Bezüge kaum sein – so wenn die Kommissarin, Tochter weißrussischer Einwanderer, auf den älteren Kollegen, “eingeborener” Franzose trifft, dann ist sie “charlie”:

“Ekelhaft. Der Kerl ist einfach nur ekelhaft. Allein sein Anblick weckt in ihr das Bedürfnis nach einer Dusche. Er ist einer von den ewig Gestrigen – fett, aber muskulös, ein verbitterter Rassist, überzeugter Macho und verbissener Schwulenhasser. Und natürlich Antisemit, vor allem wohl deshalb, weil man ihn mit seinem elsässischen Nachnamen oft für einen Juden hält. Wenn sie ihm gegenübersteht, lässt Rachel unwillkürlich die engelsgleiche Antirassistin heraushängen, oder sie gibt sich als Wachhündin und Abonnentin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.”

Miské zeigt, wie Jugendliche aus Einwandererfamilien – egal ob zuhause der Islam gepredigt oder die Thora gelesen wird – zunächst eben durchaus wie in einem “melting pot” zusammenleben, bis die Ereignisse Fronten schaffen und einige in die Radikalität, andere in die Kriminalität treiben. A lost generation. Das alles, wenn auch etwas brutal, rasant, temporeich und äußerst unterhaltsam geschrieben von einem, der die Lebensumstände dieser Generation kennt: Miské arbeitete an einer Langzeit-Filmdokumentation über die Fundamentalistenströmungen in Frankreich, als er mit dem Buch begann.


Bibliographische Angaben:

Karim Miské
Entfliehen kannst du nie (Arab Jazz)
Übersetzt von Ulrike Werner-Richter
Bastei Lübbe, 2014
ISBN: 978-3404168729