Thomas Mann mal ganz zuckersüß: Als “hochgezüchteter Marzipan-Mann” aus Lübeck.
Zugegeben: Es gibt in Lübeck bedeutsamere Orte für Literaturliebhaber als das Obergeschoss des Cafés Niederegger. Das Buddenbrookhaus natürlich. Das Günter Grass-Haus beispielsweise. Oder man spaziert mit der entsprechenden Appgemeinsam mit Thomas, Christian und Tony an alle jene Orte in der Hansestadt, die im ersten Roman von Thomas Mann eine bedeutende Rolle spielen.
Aber auch bei diesem Gang durch die Altstadt kommt man an dem Café, dessen Name durch eine Lübecker Spezialität weltberühmt wurde, kaum vorbei. Im 2. Stock wartet das Haus in seinem Marzipan-Museum mit einer besonderen Überraschung auf: Mann in Marzipan. Kaum zu glauben: Der strenge Thomas zuckersüß (aber beileibe nicht zum Anbeißen).
Er befindet sich dort als lebensgroße Marzipanfigur in ungewöhnlicher Gesellschaft, als Marzipan-Liebhaber residierend zwischen Wolfgang Joop und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Freilich, über die künstlerische Ausgestaltung lässt sich streiten. Und auch darüber, ob Thomans Mann tatsächlich ein so großer Liebhaber dieser (und anderer) Süßigkeiten war, wie es der Museumstext suggeriert. Denn Mann beschrieb beispielsweise die weihnachtliche Mandel-Crème der Buddenbrooks als “üppige Magenbelastung aus Mandeln, Zucker und Rosenwasser” und vermutete bei Marzipan, dass das Rezept “zu diesem Haremskonfekt über Venedig an irgendeinen alten Herrn Niederegger nach Lübeck gekommen ist”.
Für was das “Haremskonfekt” nicht alles herhalten musste unter Literaten! 1910 beschimpfte Theodor Lessing seinen Kollegen aus der Hansestadt als “hochgezüchteten Marzipan-Mann”. Thomas Mann soll gelassen reagiert haben.
Wer Lust hat, sich selbst an der Mandel-Crème zu versuchen: Marion von den Blogs “Schiefgelesen” und “Schiefgegessen” hat sich an dem Rezept versucht: Mandel-Crème aus Thomas Mann “Buddenbrooks”.
Unzählige Male wieder aufgelegt, gelesen und besprochen, mehrfach verfilmt, aber auch immer wieder als “überholt” und “überschätzt” geschmäht – und dennoch: Die “Buddenbrooks” ist einer der großen Romane der deutschen Literatur. Und es ist schön, dass er – und mit diesem, seinem ersten Roman – nun auch Thomas Mann in der Reihe #MeinKlassiker angekommen ist. Zu verdanken haben wir dies Ines Daniels, die lange mit zum Team bei “Feiner reiner Buchstoff” gehörte, nun seit aber fast einem Jahr einen eigenen Blog namens “letteratura” betreibt. Dort gilt ihr Leseinteresse vor allem der zeitgenössischen Literatur – hier aber schreibt sie über ein zeitloses Werk, eines der großen Bücher der deutschen Literatur:
Als ich darüber nachdachte, welchen Klassiker ich als #MeinKlassiker bezeichnen würde, welche Lektüre mich nachhaltig beeindruckt hatte, so dass ich immer noch an sie zurückdenke, da kam mir recht bald „Buddenbrooks“ in den Sinn. Es muss um die zwanzig Jahre her sein, dass ich mich mit dem Wälzer zurückzog und – so die Erinnerung – komplett versank in dieser Familiengeschichte, in der alles mit der Zeit den Bach heruntergeht, heißt es doch wenig geheimnisvoll im Untertitel: „Verfall einer Familie“. An Einzelheiten erinnerte ich mich fast gar nicht, als ich den Roman erneut zu lesen begann, mit einer Ausnahme: dem Tod Hannos. In meiner Erinnerung fand dieser irgendwann in der Mitte des Romans statt, hatte ich damals nicht auf den verbleibenden Seiten stets danach gesucht, dass die Figuren sich an ihn erinnern? Dass er wieder und wieder erwähnt würde? Dass sie so um ihn trauern würden, wie ich getrauert hatte?
Bei der Wiederlektüre des Romans um den letzten Jahreswechsel herum und inzwischen altersmäßig deutlich weiter entfernt von Hanno zum Zeitpunkt seines Todes (der mich vermutlich auch gerade wegen dieser Nähe damals so ergriffen hatte), stellte ich fest, dass die Erinnerung getrogen hatte. Hanno ist nur der letzte in einer langen Reihe von Todesfällen in Thomas Manns frühem Roman – und da sich die Geschichte über mehrere Generationen erstreckt, ist es nur natürlich, dass einige Figuren das Zeitliche segnen im Verlauf der vielen, vielen Seiten.
„Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ erschien 1901, als Thomas Mann gerade einmal 26 Jahre alt war. Angesichts der Fülle des Stoffs, des umfangreichen Personals, das er unterbringt, der Virtuosität, mit der er vor- und zurückschaut und Dinge an- und vorausdeutet, ein erstaunliches Alter. Nun gibt es ganze Bibliotheken mit Sekundärliteratur zu Thomas Mann und seinem wohl berühmtesten (und 1929 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten) Roman, doch soll es hier um eine umfassende Analyse ja auch gar nicht gehen.
Unerwartet war bei meiner aktuellen Lektüre des Romans, dass er zunächst wenig in mir auslöste. Ich las Manns nüchternen, doch auch virtuosen Stil, fieberte mit seinen Figuren, doch was wollte und sollte ich zu dem Roman sagen, zu dem alles schon gesagt wurde? Die Geschichte musste ruhen, um erneut ihre Wirkung zu entfalten, die mich zuvor quasi übermannt hatte – womöglich bin ich damals viel unbedarfter an die Lektüre herangegangen.
Ein Klassiker zeichne sich unter anderem dadurch aus, dass er zeitlos sei, dass er uns auch heute noch etwas sagen könne, so war auch im Zuge von #MeinKlassiker schon zu lesen. Die Buddenbrooks leben ihr Leben im 19. Jahrhundert, doch sind sie in dem, was sie sich wünschen, in ihrem Streben, in den Schwierigkeiten, das Private und das Geschäftliche unter einen Hut zu bringen und dabei den Konventionen gerecht zu werden, nicht immer allzu weit von uns heute entfernt, auch wenn sich natürlich einiges geändert hat. Eine Scheidung zum Beispiel stellt nicht mehr die gleiche Schande dar, die möglichst durch eine erneute Verheiratung wettgemacht werden muss. Toni, die sogar zweimal geschieden wird, ist eine der Figuren, die mir neben ihren beiden so unterschiedlichen Brüdern Thomas und Christian und natürlich Hanno, der tragischsten Figur der Geschichte, am eindrücklichsten in Erinnerung bleiben.
Und es sind vor allem die letzten Kapitel, die letzten Seiten des Romans, die den tiefsten Eindruck hinterlassen. Thomas, der immer versucht hat, ein rationaler Geschäftsmann zu sein, der immer hart gearbeitet hat, drohen seine Gewissheiten zu entgleisen. In seinem Bruder, dem wehleidigen, hypochondrischen Christian hat er immer sein Gegenstück gesehen – eines, das er verachtete, im Grunde aber auch ein Stück weit beneidete. Christian erlaubte sich ein freieres Leben, das Thomas sich schon von vornherein selbst verbot. Es ist erschütternd, mitzuerleben, wie Thomas letztendlich an der Einhaltung der Regeln, die ihm die Gesellschaft zwar auferlegt, deren strengster Überwacher er aber selbst ist, zugrunde geht.
Ihre Schwester Toni bleibt mir einerseits durch ihre Naivität, andererseits aber auch durch ihren Pragmatismus in Erinnerung. Sie ist letzten Endes Optimistin, der es als junge Frau verwehrt wird, aus Liebe zu heiraten und stattdessen später zweimal geschieden wird. Letztlich macht sie sich das Glück ihrer Tochter zur Lebensaufgabe.
Hanno hingegen scheint von Anfang an wie nicht geschaffen für das Leben, er kränkelt, ist schüchtern, bringt keine guten Leistungen in der Schule und ist ein Außenseiter. Er und seine Mutter Gerda sind die einzigen in der Familie, die musikalisch begabt sind und so aus der Rolle fallen. Hanno ist eine äußerst tragische Figur und diejenige, mit der man aus dem Roman entlassen wird.
„Buddenbrooks“ erzählt uns viel über das gesellschaftliche Leben, über Klassen und soziale Schichten. Mich interessiert dabei am meisten, wie die Figuren damit umgehen, was von ihnen erwartet wird, wie sie ihr Leben meistern und die Probleme, die sich für sie ergeben, lösen. Wenn am Ende das Familienunternehmen und damit auch die Familie selbst „verfallen“ ist und man sich die Frage stellt, was dies für das gesamte gesellschaftliche System bedeutet, dann ist die Familie auf ein paar wenige Mitglieder zusammengeschrumpft. Wer nicht die nötige charakterliche Stärke besitzt, um in der Geschäftswelt zu bestehen, der ist letztlich nicht lebensfähig. Bezeichnenderweise gilt das auch für Thomas Buddenbrook, der doch eigentlich alle Voraussetzungen mitbrachte, um erfolgreich eine Firma zu leiten.
Meine zweite Lektüre der „Buddenbrooks“ um die zwanzig Jahre nach der ersten war eine mit verschobenem und erweitertem Blickwinkel, und auch diejenige einer Leserin, die inzwischen anders liest als damals. Eine Lektüre, die ihre Wirkung nur langsam entfaltete und die sich vor allem auf die Hauptfiguren konzentrierte – nicht mehr so ausschließlich auf Hanno, aber natürlich auch auf ihn. Und wenn ich den Roman in weiteren zwanzig Jahren erneut lesen werde? Was werde ich dann wohl aus dieser Geschichte für mich mitnehmen? Ich freue mich darauf, denn ich bin sicher, ein Roman wie die „Buddenbrooks“ wird nie seine Kraft und Aktualität verlieren.