#MeinKlassiker (35): Herbert liest … Lady Chatterley – Erosion, Emotion und Erotik

Der Literaturblogger Herbert Schmidt bespricht für die Reihe einen Roman, der einst als Skandal galt: “Lady Chatterley” von D. H. Lawrence.

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Bild von Mabel Amber, still incognito… auf Pixabay

Für mich war dies einer der ersten Blogs, denen ich “begegnet” bin: Herbert zählt für mich zu den “Urgesteinen” in der Blogosphäre. Er betreibt das Schreiben über Literatur mit wahrer Leidenschaft: Seine Leseinteressen sind vielfältig, seine Besprechungen mannigfaltig. Der Blog aus.gelesen ist eine wirkliche Fundgrube für alle wilden Leser: Da findet man Rezensionen zu Klassikern, zu Neuerscheinungen auch abseits des Mainstreams, aber auch zu Sachbüchern und Büchern, die sich sonst niemand vorzustellen traut. Und auch für #MeinKlassiker stellt er ein außergewöhnliches Buch vor – zu seiner Zeit ein Skandal, heute gehört es zu den Jahrhundertwerken der Literatur.

Vor einigen Wochen las ich eine recht positive Rezension über den Roman Lady Chatterley von D.H. Lawrence, die mich daran erinnerte, daß ich noch diese ‘Langversion’, die zweite Bearbeitung des Stoffes durch Lawrence, im Regal stehen hatte [Anmerkung: die grünen Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Roman, die rot markierten Passagen habe ich der Lady Chatterely-Ausgabe der Deutschen Buch-Gemeinschaft von 1967 entnommen]. Zudem passte dieser Roman in gewisser Weise zu meiner gerade beendeten Lektüre von Pat Barkers Trilogie über den 1. Weltkrieg [3], hängt die Geschichte, die uns Lawrence erzählt, doch ursächlich mit diesem Krieg zusammen.


1917 nämlich heirateten der 29jährige Clifford Chatterley und die 23jährige Constance Reid. Die beiden verlebten vier (Flitter)wochen zusammen, bevor Clifford wieder in den Krieg nach Flandern ziehen musste. Von dort kam er in Einzelteilen, die sich erstaunlicherweise noch einmal flicken ließen, zurück. Der Unterkörper Cliffords jedoch blieb gelähmt, die von beiden nicht sonderlich hoch geschätzten leiblichen Freuden der Ehe waren damit perdu, Constance war von der Ehefrau zur Pflegerin eines Kriegsversehrten geworden. Das gemeinsame Eheleben erschöpfte sich fortan in Lesen, Vorlesen und in Diskussionen.

Sie wurden in der ersten Zeit erstaunlich gut mit dieser Situation fertig. Clifford wohnte ein großer Lebenswille inne, für Constance war es nicht in Frage gestellte Pflicht. Doch im Lauf der Monate und Jahre trat schleichende Verbitterung ein, die Kontakte nach außen wurden selten(er), vor allem jedoch Constance funktionierte mehr und mehr wie ein Automat. Ihr Vater, der zu Besuch kommt, sieht seiner Tochter das Unglück an, rät ihr dringend, unter Menschen zu gehen, ihr Leben zu leben. Aber erst als der Zustand der jungen Frau so ernst wird, daß ihre Schwester sie zum Arzt bringt und der ihr sehr eindringlich ins Gewissen redet, gibt sie nach. In Mrs. Bolton findet sie eine verwitwete Frau, die Erfahrung in der Betreuung von Kranken hat und die die Pflege von Clifford Chatterley übernimmt.

Clifford Chatterley seinerseits hat sich die Vorwürfe seines Schwiegervaters – trotz der auf Gegenseitigkeit beruhenden Abneigung der beiden Männer – zu Herzen genommen, in einer Schlüsselszene des Romans reden die beiden Eheleute miteinander über dieses Thema. Ist zuerst der Mann in der Offensive, indem er seine Frau Constance ermuntert und auffordert, unter Leute zugehen und sich zu öffnen, dreht Constance, die anfänglich unangenehm von dem Gespräch berührt ist, den Spieß um und drängt ihren Mann in die Defensive. Denn dieser hat die Konsequenzen seines Vorschlags offenkundig nicht zu Ende gedacht: Was, wenn sie einen Mann kennenlernt, was, wenn sie mit diesem Mann schläft – oder gar ein Kind bekommt?

Letztlich gesteht Clifford ihr das Recht auf diese sexuelle Freiheit zu. Auch ein eventuelles Kind wäre für ihn kein Problem, denn letztlich ist für ihn nicht entscheidend, wer das Kind gezeugt hat, sondern, wer es erzieht. Trotzdem stellt er seiner Frau die Bedingung, daß der Liebhaber, dem sie sich hingibt, gleichrangig sein sollte.

Gleichrangig, denn Clifford vertritt eine sehr klassenbewusste Einstellung: es gibt die, die oben sind, die denken, handeln, Verantwortung tragen und so den Lauf der Welt bestimmen und es gibt die unten, die kaum Menschen zu nennen sind, weil sie Massen sind, die geführt werden müssen und zu arbeiten haben.

Was Constance angeht, ist es mit dieser einschränkenden Bedingung schon zu spät – was Clifford natürlich nicht ahnt. Was ihm nur auffällt ist, daß seine Frau von manchem ihrer Waldspaziergänge mit vollerblühter Schönheit, mit einem inneren Strahlen wieder zurück nach Wragby kommt. Denn im Wald lauern auf Constance nicht die Räuber, sondern es wartet in seiner Hütte der Wildhüter, Oliver Parkin, auf sie. Ihrer Ladyship kam der Wildhüter in der täglichen Begegnung anfänglich zwar eher grob vor, doch eines Tages hatte sie ihn bei einem ihrer Spaziergänge an seiner Hütte überrascht, als er sich wusch. Der heimliche Anblick dieses weißen, seiner Kleidung entledigten männlichen Oberkörpers rührte in seiner Vollkommenheit tief in ihr ein Begehren auf, das sie so noch nicht gekannt und das sie bei ihrem Mann nie erlebt hatte.

However, die beiden überspringen eines Tages die Schranke der gesellschaftlichen Trennung und aus diesen ersten, verstohlenen Begegnungen, die Constances Körper förmlich erwecken und sie selbst in eine anderen – man kann es nicht anders sagen – Bewusstseinszustand einführen, entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die sich im wesentlichen auf die körperlichen Aspekte gründet.

Es setzt nun in ‘Connie’ ein langsamer Erosionsprozess ein. Ist ihr Mann Clifford ein strikter Vertreter der englischen Klassengesellschaft und ihr Liebhaber Oliver ein Angehöriger der Arbeiterklasse, so steht sie jetzt zwischen ihnen. Dieses ‘Dazwischen’ bezieht sich sowohl auf das Körperliche, aber auch auf das Gesellschaftliche, denn im Gegensatz zu ihrem Mann sieht sie die Angehörigen der Arbeiterklasse nicht per definitionem als minderwertig an, sondern billigt ihnen all das zu, was Clifford ihnen an Werten abspricht.

Wird die Bindung zwischen Constance und ihrem Liebhaber trotz gelegentlicher kurzer Eintrübungen immer enger (und im gleichen Maß die zu ihrem Mann immer brüchiger), so entwickelt sich auf der anderen Seite nach anfänglicher Abneigung Cliffords gegen seine Pflegerin Mrs. Bolton auch hier eine besondere Beziehung mit ihrer eigenen, subtilen Intimität, eine Beziehung, die jedoch nie die Klassenschranke überschreitet.

Im Sommer fährt Constance wie im Winter verabredet mit ihrer älteren Schwester Hilda und dem Vater nach Frankreich, in die Sommerfrische. Anfänglich genießt Constance diese Fahrt, aber bald erträgt sie die gesellschaftliche Atmosphäre in der Villa, in der sie unterkommen, nicht mehr. Dazu kommt, daß sie von zuhause beunruhigende Nachrichten erhält: des Wildhüters wildes Weib, von dem er schon lange getrennt lebt, aber (noch) nicht geschieden ist, ist von ihrem Liebhaber vor die Tür gesetzt worden und wieder bei Parkin aufgetaucht. Im Naturzustand soll sie in seinem Bett gelegen und ihn zur Begattung aufgefordert, ja, gedrängt haben. Parkin sei, so bekommt sie in Briefen berichtet, da er dieses Weib nicht loswerden konnte, zurück zu seiner Mutter gegangen, doch jetzt verbreite Bertha Coutts unsägliche und unsagbare Einzelheiten über Intimitäten aus der Zeit der Ehe in den Dörfern, die das Ansehen Parkins schwer beschädigen würden…. Constance war ob der Nachrichten not amused, es war ein harter Kampf für sie, sich über ihre Eifersucht auf Bertha Coutts zu erheben und ihren Hass gegen ihn, weil er mit Bertha Coutts in Verbindung gewesen war, zu überwinden. Es drängte sie nach Hause.

In den wenigen Wochen der Sommerfrische hat sich vieles geändert, grundlegend geändert. Constance ist trotz der Einwürfe ihrer Schwester, solche Männer seien allenfalls für einen temporären Lustgewinn akzeptabel, entschlossen, ihren Mann zu verlassen und Parkin zu heiraten. Clifford seinerseits überrascht sie mit der Tatsache, daß er unter dem Einfluss und der Ermunterung von Mrs. Bolton gelernt hat, sich auf Krücken fortzubewegen. Parkin dagegen hat mittlerweile seine Stellung als Wildhüter bei Clifford gekündigt und will in Sheffield im Stahlwerk arbeiten.

Constance besucht ihn dort, er lebt bei einer ihm bekannten Familie. Es ist der erste ‘wirkliche’ Kontakt, den sie mit einer Arbeiterfamilie hat, er ist ernüchternd. Vor allem aber ist sie schockiert darüber, daß Parkin all die Ausstrahlung, die er im Wald, in Wragby auf sie ausübte, unter diesen Verhältnissen verloren hat. Sie kann ihm jedoch jetzt das Versprechen abnehmen, mit dieser schweren Arbeit, für die er einfach nicht geeignet ist, aufzuhören und eine kleine Farm zu bewirtschaften, die Constance von ihrem Geld kaufen will. Mit dieser Überwindung seines Stolzes (ein Mann lässt sich schließlich von einer Frau nichts schenken oder kaufen) gewinnt Parkin wieder ein wenig von seinem alten Wesen zurück.. und wie ein ganz normales Liebespaar aus der Arbeiterschicht verabreden die beiden sich und gehen in ein Waldstück, um sich hinter Büschen versteckt zu lieben… wobei sie jedoch vom örtlichen Wildhüter ertappt werden….


John Thomas und Lady Jane bzw. in der ‘endgültigen’ Version ‘Lady Chatterleys Lover (bzw. kürzer einfach nur Lady Chatterley) ist einer der großen Ehebruchsromane des letzten Jahrhunderts. In seinem Nachwort zu der von mir gelesenen Ausgabe gibt Roland Gart (seinerzeit Cheflektor des Heinemann-Verlags, London, in dem die erste englische Ausgabe erschien) eine kurze Darstellung der Veröffentlichungsgeschichte dieses Romans, von dem Lawrence insgesamt drei Versionen verfasst hat. Die vorliegende ist die umfangreichste, die 1954 das erste Mal in Italien publiziert worden ist. Die erste englischsprachigen Ausgaben erfolgten erst 1972 in London und New York.

Das Buch – und damit ist jetzt im wesentlichen Lady Chatterley gemeint – war zu seiner Zeit ein Skandal. Die Darstellung einer echten Liebesbeziehung zwischen einem einfachen Mann aus der Arbeiterklasse mit einer jungen, verheirateten Frau der Oberklasse war an sich schon skandalös, sie ging weit über ein möglicherweise still duldbares Verhältnis dieser Art, das sich auf Sex beschränkte, hinaus. Daß der Autor diesen Sex für seine Zeit deutlich schildert, daß (in der deutschen Übersetzung) der Begriff ‘ficken’ (im englischen Original unprintable (four-letter) words) häufig auftaucht, daß die Befriedigung der durchaus aktiv auf Sex drängenden Frau durch den Mann eine so große Rolle spielt, weil diese nicht nur zum Höhepunkt kommt, sondern sich auch das Bewusstsein und die Wahrnehmung ihres Selbst durch dieses sexuelle Erlebnis wandelt, hat noch bis in die 60er Jahre hinein zu Problemen bei der Publikation des Romans geführt.

Trotzdem wäre (und ist) die Einordnung von Lady Chatterley als (nur) erotischem Roman irreführend. Die Erotik und der Sex sind für Lawrence Mittel zum Zweck. Welch anderen Weg hätte er gehabt, eine Verbindung zwischen zwei Angehörigen der Unter- bzw. Oberschicht zu schaffen als über diese ‘unkontrollierte’, über ein heimlich duldbares erotisches Verhältnis hinaus wachsende Liebesbeziehung. Denn in Wirklichkeit ist Lady Chatterley als Gesellschaftsroman zu lesen.

England hat im Ersten Weltkrieg enorme Verluste erlitten, über 700.000 Soldaten fielen auf dem Kontinent, in England selbst waren die Opferzahlen geringer, aber auf der Insel herrschte Not und Elend. Dies konnte nicht ohne Rückwirkungen auf die Gesellschaftsstruktur bleiben – und blieb es nicht [3]. Die Oberschicht sah sich durch aufmüpfige Arbeiter, die beispielsweise bolschewistisches Gedankengut verinnerlicht hatten, bedrängt und bedroht. Mein Gott, wenn wir hier in England eine Revolution bekommen, wie gern würde ich mit Maschinengewehren gegen den Mob vorgehen … Diese verdammten Sozialisten und Bolschewisten.. muss sich Constance Weihnachten von ihren Gästen anhören. Auch ihr Mann Clifford ist Mustervertreter einer Einstellung, daß die von altersher gegebene Teilung der Gesellschaft in ‘unten’ und ‘oben’ einer natürlichen Ordnung entspricht, Lawrence macht seine Einstellung stellvertretend für seine gesellschaftliche Schicht in vielen Diskussionen, die Clifford und Constance führen, deutlich. In anderer, i.e. erotischer Hinsicht ist Hilda, die Schwester Constances, Vertreterin dieser überkommenen Einstellung, sie will der Schwester deutlich machen, daß Männern der unteren Klasse allenfalls fürs Bett in Frage kommen, aber man ansonsten nichts mit ihnen zu tun haben sollte. Ein Gedanke wie ‘Heirat’ sei geradezu abwegig.

Lawrence macht damit Constance, die selbst der Oberschicht angehört, zur Verteidigerin der ‘Interessen’ der unter Klasse. Der Wildhüter, Oliver Parkin, wäre schwerlich selbst in der Lage gewesen, mit Clifford Chatterley zu diskutieren. In der endgültigen Version der Lady Chatterley ist Lawrence von dieser konsequenten Trennung der Klassen dann aber abgewichen: die Rolle des Wildhüters Parkin nimmt dort der Mellors ein, der fast ein Gentleman sein könnte…, der Offizier war, Sprachen beherrschte…

Es gibt einige sehr symbolträchtige Szenen im Buch. Schon die ganze Konstellation der Figuren ist ein Bild: Der Angehörige der Oberklasse, Clifford Chatterley, ist gelähmt, so daß er sich ohne fremde Hilfe nicht fortbewegen kann. Das Sexuelle sprich: Vitale galt ihm schon vor seiner Verwundung nicht viel, so daß ihm danach nur noch das Denken, Reden und Planen blieb. In einer Szene beschreibt Lawrence, wie auf einem Waldspaziergang, bei dem Clifford Constance begleitet, der Motor des Rollstuhls seinen Dienst versagt. Mit kaum zu bändigender Wut muss Clifford erdulden, daß ein Vertreter der Arbeiterklasse, nämlich der Wildhüter, ihn nach Hause schiebt. Ein schönes Bild dafür, daß die Oberklasse ohne die Arbeiter aufgeschmissen wäre….

[Clifford] war noch ohne Liebeserfahrung, als er heiratete, und das Sexuelle galt ihm nicht viel. … Und Connie schwelgte in dieser Intimität jenseits alles Geschlechtlichen, …. beschreibt es Lawrence in der endgültigen Version der Lady Chatterley. Parkin dagegen, obwohl aus schlechter Erfahrung heraus was Frauen angeht, sehr zurückgezogen, gelingt es sehr schnell, Connies dazu zu bringen, unbewusst spitze, helle Schreie auszustoßen. Ein Naturtalent.

Überhaupt – und dies las sich für mich jetzt unfreiwillig komisch – konstruiert Lawrence um das Zeugungsorgan des Wildhüters einen förmlichen Kult. Spürt Constance schon beim Anblick des bloßen Oberkörpers, daß es eine Welt gab, die rein und machtvoll leuchtete, daß sie einen Körper sah, der das Dunkel durchdrang wie eine Offenbarung, so deutlich wurde ihr, daß es Gott auf Erden gab; oder Götter. Im Verlauf ihrer Affäre sollte sie realisieren, was ein Phallus wirklich war: Es war ein primitiver, grotesker Gott – aber lebendig und unaussprechlich lebensvoll, … die Auferstehung des Fleisches. .. bei einem wirklichen Mann (wie dem Wildhüter) hat der Penis ein eigenes Leben und ist der zweite Mann im Mann. …. der Phallus im alten Sinne hat Wurzeln, die tiefsten aller Wurzeln in der Seele, … und durch die phallischen Wurzeln gelangt die Inspiration in die Seele. Oder kurz gesagt: Er hat etwas Sternengleiches an sich … wie ein kleiner Gott. … und so konnte es für Parkin nicht einfach ‘nur ficken’ geben, da bei ihm ‘ficken’ immer bis zu den phallischen Wurzeln der Seele reichte. … Männer wie Clifford dagegen haben einen garstigen Penis, mit dem sie schmutzige Spiele treiben wie kleine Jungs. … Diese Passagen wirken auf uns heutige Leser etwas … nun ja.. lächerlich, sie müssten allerdings, um sie wirklich einordnen zu können, im zeitgeschichtlichen Kontext gesehen werden, der möglicherweise im Kreise der englischen Intellektuellen Strömungen mit solchen Einstellungen aufweist. Das habe ich zugegebenermaßen nicht gemacht…. Zu berücksichtigen ist jedenfalls, daß Lawrence zur Bloomsbury-Group um Virginia Woolf und deren Schwester Vanessa Bell gezählt wird, der ‘sich aus den moralischen Fesseln ihrer Erziehung zu befreien’ trachtete [2].

Und ebenso Constance selbst war in den phallischen Kreis des Fleisches eingeschlossen, so sehr, daß sie den Wildhüter meist ohne Unterwäsche unter dem Kleid zu tragen, besuchte… Mit dieser letzten Bemerkung werde ich jetzt den erotischen Aspekt des Romans weitestgehend ad acta legen.

Aber selbst Parkin mit seinem ‘sternengleichen’ Körper und dem kleinen Gott zwischen den Beinen ist zwar Angehöriger der Unterschicht, aber kein wirklicher Arbeiter: als er gegen Ende des Romans Wragby verlässt und in Sheffield in einer Stahlfabrik arbeitet, verliert er allen Glanz und geht fast unter.

Kommen wir noch kurz auf Constance zu sprechen. Auch ihr Körper steht für etwas, ist Symbol für die dem Untergang geweihte Dekadenz der Oberschicht: Ihr Körper wurde nichtssagend, wurde schwer und trüb – so viel nutzlose Substanz! … Das geistige Leben! Eine jähe Welle wütenden Hasses überspülte sie – dieser Schwindel! Diese sehr negative Selbstwahrnehmung Connies ließe sich jetzt noch einige Absätze lang zitieren. Erst die Bekanntschaft und Erweckung durch den Wildhüter ließ sie wieder erblühen…


Die große Krise für die beiden Liebenden kommt, als Connie im Urlaub ist. Der vierzig(sic!)jährige Parkin wird vom Teufel versucht, dem Teufel in Gestalt seiner Frau. Von der lebte er zwar schon seit Jahren getrennt, aber jetzt taucht sie wieder auf und will ihn um jeden Preis verführen. Und was könnte normalerweise verführerischer sein als der bloße Frauenkörper, mit dem sie sich ihm anbietet? Doch Parkin widersteht der Versuchung, zwar gelingt es ihm nicht, den Teufel/seine Frau zu vertreiben, aber er selbst flieht ihn/sie. Die Nachricht von diesen Vorkommnissen, die Connie in ihrem Urlaub erhält, stürzt sie in tiefer Verzweiflung, hilft aber auch, in sich Klarheit zu schaffen über das, was sie wirklich will.

Denn das ist die große Unsicherheit, die beiden innewohnt: für ihn ist die Frage, ob sie tatsächlich die Klassenschranke überspringen wird und alles für ihn aufgibt, denn die gesellschaftliche Ächtung ihrer ehemaligen Klasse dürfte ihr sicher sein. Und für sie ist die große Frage natürlich, was kommt, wenn sie alles hinter sich lassen wird. Denn auch Parkin muss noch an sich arbeiten, seinen Stolz überwinden und akzeptieren, daß es in dieser Beziehung nicht so sein wird, daß der Mann seine Frau versorgt. Apropos: eine Heirat – auch dies dürfte damals ein Skandalon gewesen sein – planen die beiden nicht, im Gegenteil sieht Connie die Ehe als Tod einer Beziehung, weil man sich im Lauf der Jahre gegenseitig nur noch auf die Nerven geht.

John Thomas & Lady Jane und Lady Chatterley sind Romane, die sich doch durch mehr als Kürzungen oder Ergänzungen unterscheiden. Die Figur des Wildhüters ist anders angelegt, Parkin ist urtümlicher, während Mellors (wie er in Lady Chatterley heißt) mit viel gutem Willen fast akzeptabel sein könnte, auch der Schluss ist anders. In Lady Chatterley bittet Connie ihren Mann, sie freizugeben, den Abschluß bildet ein langer Brief Mellors an seine Geliebte, in dem unter anderen dieser bemerkenswerte Satz steht: So liebe ich denn jetzt die Keuschheit, weil sie der Friede ist, der dem Ficken entspringt. In John Thomas & Lady Jane dagegen bildet die schon erwähnte deprimierende Szene, in der die beiden Liebenden im Park vom Wildhüter aufgescheucht werden, nachdem sie die alte, schäbige Kirche, in der Byrons Herz bestattet worden war, besucht hatten, das Ende des Buches mit einem abschließenden Blick vom Hügel auf die tote Landschaft, unter der die Kohle und das Eisen liegen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Als Erotikon ist Lady Chatterley heutzutage kaum noch auf- oder erregend, die Passagen um den im Urgrund wurzelnden Phallus wirklicher Männer wirken im Gegenteil eher skurril. Lesenswert dagegen ist das Buch immer noch wegen der Beschreibung der Verhältnisse im England nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Folgen die althergebrachte Gesellschaftsstruktur aufzubrechen droht. Sozialismus, Bolschewismus, die rapide Fortschreitende Industrialisierung – all das sind Herausforderungen, der die Klassengesellschaft in England in ihrem überkommenen Strukturen kaum erfolgreich entgegentreten konnte. Möglicherweise liegen hier sogar (zwar keine phallischen, aber immerhin) gesellschaftliche Wurzeln für die momentanen politischen Wirren der Insel, sprich, die Einstellung zur EU. Für die Schwierigkeiten, diese Klassenschranken zu durchbrechen, stehen Constance und Parkin, ihr (gemeinsames) Schicksal läßt Lawrence jedoch offen.

Ob sich Lady Chatterley bzw. John Thomas & Lady Jane (mit dieser Selbstbezeichnung übrigens beendet Mellors in Lady Chatterley seinen abschließenden Brief an seine Geliebte), die ja durchaus ihren Umfang – und damit ihre Längen – haben, heute noch zu lesen lohnt? Das ist die Frage, die ich hier auch nicht beantworten kann…. 😉

Abschließen möchte ich jedoch noch einen der ‘schönen’ Sätze, die Lawrence verfasst hat und die schätzungsweise damals die Gemüter angeheizt haben, zitieren:

Wir haben eine Flamme ins Sein gefickt.
Sogar die Blumen sind ins Sein gefickt
von der Sonne und der Erde.

Nun denn….

Links und Anmerkungen:

[1] zu D.H. Lawrence und seinem Werk: Michael Schmitt:
Der zwiespältige Prophet; in: https://www.nzz.ch/der-zwiespaeltige-prophet-1.653784
[2] vgl. im Wikibeitrag zur V. Woolf: https://de.wikipedia.org/wiki/Virginia_Woolf#Bloomsbury_Group
[3] vgl die Trilogie von Pat Barker, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt: https://radiergummi.wordpress.com/tag/pat-barker/

D.H. Lawrence
John Thomas & Lady Jane
Übersetzt aus dem Englischen von Susanna Rademacher
mit einem Nachwort von Roland Gart
Italienische Erstausgabe: Mailand, 1954
Englische Erstausgabe: London, 1972
Amerikanische Erstausgabe: NY. 1972
diese Ausgabe: diogenes, TB, ca. 500 S., 1978

D.H. Lawrence
Lady Chatterley
diverse, teils ‘bereinigte’ Ausgaben von ‘Lady Chatterley`s Lover’ erschienen ab 1932 in verschiedenen Verlagen
Der/Die Übersetzer/in dieser Ausgabe ist nicht angegeben
Deutsche Buch-Gemeinschaft, HC, ca. 380 S., 1967

Herbert Schmidt
https://radiergummi.wordpress.com/