JOHANNA HANSEN: Mondhase an Mondfisch

Eine Partitur von Robert Schumann, sein Briefwechsel mit Clara Wieck und zwei besondere Worte waren die Grundlage für dieses poetische Projekt: Johanna Hansen schuf mit “Mondhase und Mondfisch” ein Gesamtkunstwerk aus Lyrik und Malerei.

Eine Partitur von Robert Schumann
Fragmente aus dem Briefwechsel von 
Clara und Robert Schumann 
Lyrik und Malerei von Johanna Hansen

Zwei schöne Wörter, eine Liebesgeschichte und eine Partitur haben zu diesem Buch geführt. Zunächst waren da die Kinderszenen und andere Klavierstücke von Robert Schumann. Eine Partitur vom Trödelmarkt, das Papier bereits leicht brüchig und vergilbt, der Einband schwarz wie der von alten Schulkladden.

Ebenso wie die Musik der Schumanns trägt die Lyrikerin und Malerin Johanna Hansen seit Jahren auch die beiden Wörter »Mondfisch« und »Mondhase« mit sich herum. Während der Pandemie reichte sie beide für das Lexikon der schönen Wörter des Literaturhauses Stuttgart ein. Gesucht wurden Trostwörter und solche, die Zuflucht geben: Für Johanna Hansen die ureigentliche Bedeutung der beiden Begriffe.

»Den Hasen im Mond, ein mythisches Tier, das für die Mondgöttin in einem Mörser wohlriechende Kräuter für ein Unsterblichkeitselexier zerstampft, und den Mondfisch, ein lebendes Fossil, zusammenzubringen, reizte mich sehr«, so die Künstlerin.
Aber wo sollten sie sich treffen? Die Partitur von Robert Schumann wurde schließlich, so unvorstellbar es auf den ersten Blick erscheinen mag, der Ort, an dem »Mondfisch« und »Mondhase« sich begegnen können.

Die Partitur als Malgrund wurde zum Bestandteil eines poetisch-künstlerischen Projekts, das seine endgültige Form dann durch die Lektüre des Briefwechsels zwischen Clara Wieck und Robert Schumann fand. Die Hindernisse, die die beiden Liebenden überwinden mussten, um heiraten und zusammen leben zu können, bewegten Johanna Hansen sehr. Da der Vater Clara Wiecks lange einer Heirat nicht zustimmte, konnten sich die beiden Musiker nur unter konspirativen Umständen treffen, der Brief wurde zu ihrem Medium. »Die Kraft dieser Liebe, aber auch ihre künstlerische Auseinandersetzung, das alles hat mich sehr inspiriert«, sagt Johanna Hansen.

Auf den Doppelseiten dieses Kunstbuches treffen sich die Lyrik Johanna Hansens, ausgewählte Zitate aus dem Briefwechsel von Robert Schumann und Clara Wieck sowie die ausdrucksstarken Bilder von Johanna Hansen zu einem einzigartigen Trialog über Menschen, die wie ferne Monde zu sein scheinen und sich dennoch immer wieder berühren und begegnen. »Mondhase an Mondfisch«: Aus ganz unterschiedlichen Elementen ist ein Versuch über die Liebe, in guten wie in schwierigen Zeiten entstanden, eine Wort-Bild-Begegnung über die Sehnsucht nach Nähe, Berührung, aber auch nach dem Einssein mit sich und dem anderen: der Welt.

Das Kunstprojekt wurde gefördert vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen.


Zur Autorin:

Johanna Hansen, Malerin und Autorin, lebt in Düsseldorf. Kindheit am Niederrhein. Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm- Universität Bonn. 1. und 2. Staatsexamen.Zunächst Journalistin und Lehrerin. 1991 Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Autorin und Malerin. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen, seit 2008 literarische Veröffentlichungen. Seit 2013 Herausgeberin der Literaturzeitschrift WORTSCHAU, www.wortschau.com.
In Zusammenarbeit mit Musikern, Komponisten und Videokünstlern entstanden Performances, Poesiefilme und spartenübergreifende literarische, musikalische und bildnerische Projekte. Texte wurden ins Englische, Lettische, Spanische, Französische und Hindi übersetzt.
www.johannahansen.de
Kontakt: johanna.hansen@t-online.de


Stimmen zum Buch:

“Sehnsucht erfasst alles im Sehnsüchtigen: die inneren Bilder, die Sprache, das, was gehört, gesagt und verstanden wird. Wie in einem Trialog aus Sprache, Bild und Musik manifestiert und umspielt Johanna Hansens Buch eine unstillbare und schon allein deswegen nicht zum ultimativen Happy End sich eignende Sehnsucht.” – Stefan Hölscher, Signaturen

Ein Blick ins Buch bei den Signaturen: https://signaturen-magazin.de/johanna-hansen—nie-denke-ich-daran-mich-zu-verlieren-.html

“Ein Werk von großer Poesie.” – Barbara Weitzel, Welt am Sonntag

“Ein Gedichtband, der ein berückend schönes Objekt voller Bilder ist und dazu noch eine Hommage an die Liebe von Clara und Robert Schumann.” – Birgit Koelgen, Düsseldorf aktuell

Mit Musik Schumanns: Kerstin Bachtler stellt “Mondhase an Mondfisch” im SWR vor:
“Eine musikliebende Lyrikerin, die auch malen kann, bekommt eine Partitur von Robert Schumann geschenkt und macht daraus ein neues Kunstwerk. Das ist die Geschichte des Langgedichts „Mondhase an Mondfisch“ von Johanna Hansen.”
https://www.swr.de/swr2/literatur/mondhase-an-mondfisch-von-johanna-hansen-100.html

Im Podcast von Regina Lehrkind: https://open.spotify.com/episode/5sP6nPd6JQKBluKJbiwW23

Bibliographische Angaben:

Johanna Hansen

Mondhase an Mondfisch
Wortschau Verlag, Juni 2022
92 Seiten, Kunstbuch, eine Begegnung von Poesie und Malerei, 69,00 € 
ISBN 978-3-944286-37-2

WORTSCHAU Verlag
Winzinger Straße 48, 67433 Neustadt/Weinstraße
Telefon: 0 63 21/4 81 71 73,
www.wortschau.com


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Autorin

Lawrence Block (Hg.): Nighthawks. Stories nach Gemälden von Edward Hopper

Die Gemälde von Edward Hopper, sie bergen ein Geheimnis. 17 Autoren liessen sich davon inspirieren, erzählen zu “Nighthawks” & Co. fantastische Geschichten.

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Bild von StockSnap auf Pixabay

„Wer sind Sie?“
Bosch erstarrte.
„Wie meinen Sie das?“, fragte er.
„Mit wem identifizieren Sie sich?“, fragte sie. “Mit dem einsamen Mann, dem Paar, das nicht allzu glücklich wirkt, dort zu sein, oder dem Mann hinter dem Tresen? Wer sind Sie?“
Bosch wandte den Blick von ihr ab, betrachtete wieder das Bild.
„Ich weiß nicht recht“, antwortete er. „Und Sie?“
„Definitiv der Einzelgänger“, sagte sie. „Die Frau wirkt gelangweilt. Sie inspiziert ihre Fingernägel. Ich langweile mich nie. Ich nehme den Einsamen.“
Bosch starrte auf das Gemälde.
„Ja, ich auch, schätze ich“, sagte er.
„Was glauben Sie, was für eine Geschichte steckt dahinter?“, fragte sie.
„Wie, bei denen? Wie kommen Sie darauf, dass es eine Geschichte gibt?“
„Es gibt immer eine Geschichte. Malen heißt Geschichten erzählen. Wissen Sie, warum es Nighthawks heißt?
„Nein, eigentlich nicht.“

Aus: Michael Connelly, „Nachtfalken“

Es ist eines der berühmtesten Gemälde der modernen Kunst, dieses Bild von den einsamen Nachtfalken in einer amerikanischen Bar. 1942 entstanden, inspiriert es bis heute andere Kunstschaffende, seien es Maler, Musiker oder auch Autoren. Von Gottfried Helwein bis Banksy, von Tom Waits bis zu den Nighthawks, von Peter Handke über Richard Ford bis hin zu Joyce Carol Oates – die auch in dieser Anthologie vertreten ist, allerdings mit einer Erzählung zu einem anderen Hopper-Gemälde, „Eleven A. M.“ (1926) – sie alle griffen auf dieses Motiv, das wie kein anderes die Einsamkeit in der Moderne symbolisiert, zurück.

Vertreter des amerikanischen Realismus

Edward Hopper (1882 – 1967) gilt als der Chronist der Ödnis der amerikanischen Vorstädte und der Provinz, seine Gemälde erzählen von Einsamkeit, isolierten Menschen, sie sprechen von der Monotonie des Lebens und enttäuschten Erwartungen. Wer Hopper als den Vertreter des amerikanischen Realismus in der Malerei begreift, der begreift auch, dass es nicht viel ist, was das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu bieten hat.

Seine Bildgestaltung, die klaren Konturen, die präzisen Formen, sie scheint einzelne Momente festzuhalten, Momentaufnahmen, beinahe wie in der Fotografie. Und doch laden vor allem die melancholischen Unterströmungen – bedrückt wirkende Menschen, eine Körperhaltung, die Zweifel und Einsamkeit vermittelt, verlassene Orte – geradezu ein, das Bild über den festgehaltenen Moment hinaus zu erforschen, die dahinterliegende Geschichte zu ergründen.

Anlässlich einer Hopper-Ausstellung schrieb John Updike:

„Der Mensch war Hoppers Hauptmotiv, wenngleich er Personen nicht besonders gut malen konnte. Sie erscheinen oft steif und fahl; die überzeugendsten sind jene mit sanft angedeuteten Gesichtern, wie die grübelnde Frau in Hotel Room (1931) und New York Movie (1939). Dennoch empfinden wir seine Porträts der conditio humana bewegender und eindrücklicher als diejenigen von weit lebendiger malenden Zeichnern wie Reginald Marsh und Thomas Hart Benton. Hopper war vergleichsweise zurückhaltend; statt seine Subjekte für eine Aussage zu benutzen – über unsere naturwüchsigen Energien, wie bei Marsh, oder als prismatische Verdichtung unserer sozialen Welt, wie bei Benton –, scheint Hopper darauf zu warten, dass seine Figuren von sich aus das Geheimnis ihrer Bedeutung lüften. Wie bei Vermeer sickert ein Geheimnis in das Bild ein und durchtränkt noch die unscheinbarsten Handlungsebenen.“ 

Dieses Geheimnis, das alles durchtränkt – es brachte wohl auch den amerikanischen Kriminalschriftsteller Lawrence Block dazu, etliche seiner Kolleginnen und Kollegen anzugehen und um Geschichten zu einzelnen Hopper-Bildern zu bitten.

Gemälde, die Geschichten verbergen

Im Vorwort dieses Sammelbandes, der 2016 in den USA erschien und deutscher Übersetzung sowie in schöner Gestaltung Ende 2017 beim Droemer Verlag (jeder Story ist auf einer Seite das entsprechende Hopper-Gemälde vorangestellt), stellt Block jedoch eines klar:

„Hopper war jedes Mal bestürzt, wenn seine Arbeiten als Illustrationen abqualifiziert wurden. Wie bei allen anderen abstrakten Expressionisten auch, galt sein Interesse Form, Farbe und Licht, nicht der Bedeutung oder dem Erzählerischen.
Hopper war weder Illustrator noch narrativer Künstler. Seine Bilder erzählen keine Geschichten. Stattdessen vermitteln sie – kraftvoll und unwiderstehlich – den Eindruck, dass sich darin Geschichten verbergen, die nur darauf warten, erzählt zu werden.“

17 Autoren erzählen also in „Nighthawks“ Geschichten zu Gemälden Hoppers, darunter unter anderem zu den titelgebenden Nachtfalken, zu Summer Evening (1947), Hotel Room (1931), New York Movie (1939) und weiteren Bildern, die durch ihre Bildsprache bis heute prägender Bestandteil der amerikanischen Kultur sind. Bei einem Herausgeber wie Block, selbst mehrfach preisgekrönter Kriminalautor, liegt es nahe, dass unter den beteiligten Schriftstellern etliche aus diesem Genre kommen. So unter anderem Megan Abbott, Jeffery Deaver und Lee Child. Außerdem ließen sich auch, wie bereits erwähnt, Joyce Carol Oates und zudem Stephen King, um die zwei bekanntesten Namen dieser Anthologie zu nennen, von Hoppers Darstellungen inspirieren.

Unterschiedliches Erzählniveau

Nicht alle der Erzählungen sind literarisch auf einer Höhe. So wirkte „Abenddämmerung“ von Robert Olen Butler zum 1914 entstandenen Bild „Soir bleu“ auf mich etwas konstruiert, dagegen fällt „Zimmer am Meer“ von Nicholas Christopher zu “Rooms by the Sea“ (1951) thematisch und sprachlich aus dem Rahmen, doch alle Stories eint, dass das Geheimnis hinter dem Bild meist ein düsteres und nicht selten ein blutiges ist. Die Geschichten (und damit auch die Bilder) erzählen von Männern, die aus Liebe töten, von Frauen, die Sadisten in die Hände fallen, die Frauen, die sich und andere rächen, von enttäuschten Hoffnungen und gebrochenen Herzen.

Meist ist das jeweilige Bild „nur“ die Grundlage, auf der sich eine Geschichte dazu entwickelt, das Gemälde als Anstoß der schriftstellerischen Phantasie. Dass die Gemälde selbst thematisiert werden – so wie in Michael Connellys Beitrag – oder gar Edward Hopper selbst mittelbar auftritt, bildet die Ausnahme. Für diese sorgt die Kunsthistorikerin Gail Levin, die als die Fachfrau zu Hoppers Werk gilt, Bücher über ihn herausgab und Hopper-Ausstellungen kuratierte. Inwieweit ihre fiktive Erzählung vom Prediger, der sammelt, einen Kern der Wahrheit enthält, entzieht sich meiner Kenntnis. Dadurch offenbart sich jedoch ein kleiner Mangel dieses schön gemachten Buches: Ein Überblick mit den wichtigsten Daten zu Hopper wäre eine feine Ergänzung gewesen.

Abgesehen davon ist „Nighthawks“ ein unterhaltsam zu lesendes Experiment: Das Buch zeigt aufs Beste, wie sich Künste gegenseitig inspirieren können – und welche Gedanken ein Bild in Gang zu setzen vermag. Ein Projekt, das im Grunde Auftakt zu einer Reihe sein könnte: Es gibt noch einige Künstler und Bilder mehr, zu denen man herrliche Geschichten erzählen kann.

Informationen zum Buch:

Lawrence Block (Hrsg.)
Nighthawks
Stories nach Gemälden von Edward Hopper
Übersetzt von: Frauke Czwikla
Droemer Knaur, 2017

Franck Maubert: Caroline – Alberto Giacomettis letztes Modell

“Caroline” bietet einen ganz eigenen, persönlichen Zugang zum Spätwerk Alberto Giacomettis. En Interview mit seinem letzten Modell, seiner Geliebten Caroline.

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Bild von StockSnap auf Pixabay

„Das Portrait ist unvollendet, ihr Oberkörper starr aufgerichtet. Alberto hat den kleinen Glanz ihrer Augen noch nicht erfasst, die ersten drei Sitzungen haben nicht ausgereicht. Ihr Oberkörper nimmt die ganze Höhe der Leinwand ein, und der Kopf zieht sich vielleicht mehr als gewöhnlich in den Hintergrund zurück. Den Kopf bezeichnete Alberto als einen «Kern von Gewalt». Ihre Augen bestehen aus einer bestimmten Anzahl von Überlappungen, kleinen harten senkrechten Strichen. Die Augen bleiben das zentrale Element, im Übrigen ist der Körper ätherisch, beinahe farblos. Aber was heißt bei Giacometti vollendet oder unvollendet?“

Franck Maubert, „Caroline – Alberto Giacomettis letztes Modell“


Auch in ihrer Liebe lag ein Kern von Gewalt: 1959 lernt der Schweizer Künstler Alberto Giacometti (1901 – 1966), der seit 1922 überwiegend in Paris lebt, bei einem seiner nächtlichen Streifzüge durch die Kneipen im Quartier de Montparnasse die wesentlich jüngere Caroline kennen. Die Prostituierte, die versucht, in der Stadt an der Seine dem Elend der Provinz zu entfliehen, wird Giacomettis letzte Geliebte und sein letztes wichtigstes Modell: Es entstehen rund 20 Portraits, zahlreiche Zeichnungen und Grafiken, auch eine Bronzebüste.

Eines dieser Bilder zieht den Schriftsteller und Kunsthistoriker Franck Maubert bei einem Besuch im Musée d`Art Moderne in seinen Bann:

„Dort rief mich ein Lichtschein, und diese sitzende Frau sah mich an, sah nur mich an und wurde stärker als alles andere.“

Jahrzehnte später sitzt Maubert dieser Frau tatsächlich gegenüber: In Nizza trifft er Caroline Tamagno, alt, glücklos, verarmt. Aber immer noch einen Rest des Charmes ausstrahlen, der wohl auch Giacometti in seinen Bann zog – ein Charme, gepaart mit traurigen Augen. Verschwunden scheinen jedoch die unbändige Lebenslust und der Freiheitswille, mit dem sie ihren Liebhaber in Atem hielt – Maubert erzählt in seinem schmalen Buch, in Frankreich mit dem „Prix Renaudot Essai“ ausgezeichnet, eine melancholische  Geschichte. Die Geschichte einer Liebe, die nur noch wehmütige Erinnerungen hervorruft.

Das Glück mit dem großen G

Caroline sagt dem Zuhörer, für sie sei es das Glück mit großem G gewesen, auch wenn niemand sonst diese Liebe verstanden hätte. Maubert ist ein guter, zurückhaltender Beobachter. Er studiert die Frau gründlich und auch ein wenig distanziert, als betrachte er ein Kunstwerk, zugleich aber fühlt er sich in ihren Charakter ein, spürt die Widersprüchlichkeiten, auch ihre dunklen Seiten.

„Wolken, kleine Dunstflocken, zerfasern den Himmel. Caroline sackt in sich zusammen, und ihr Kopf scheint zu schrumpfen wie der einer Skulptur von Alberto. Ein Glanz in ihren Augen, eine kleine Sekunde lang, und die Hoffnung nimmt ab, das Leuchten schwindet.“

Von 1961 bis 1965 besucht Caroline Giacometti beinahe täglich in dessen Atelier, eine „amour fou“, deren Bande auch gegen den Widerstand von Annette, Giacomettis Frau, und dessen Bruder Diego immer enger werden: Der wesentlich ältere Liebhaber versorgt Caroline mit Geld, lässt sich von ihren Halbwelt-Freunden ab und an ausnehmen, schenkt ihr ein Auto, hilft ihr manches Mal aus der Bredouille. Er nimmt sie mit in den Louvre, den das Mädchen aus prekären Verhältnissen erstmals besucht, und auf Reisen, unter anderem nach London, durch ihn lernt sie die Kunst und Künstler, beispielsweise Francis Bacon kennen.

Caroline ist bis zuletzt bei dem Künstler

Es scheint jedoch mehr als die bekannte Geschichte vom wohlhabenden älteren Mann und der jungen Frau zu sein – als Giacometti, vom Krebs gezeichnet, in einer Klinik in Chur im Sterben liegt, kommt Caroline, ist in seiner letzten Stunde bei ihm, und ist – wenn auch hinter der Gattin, den Verwandten, den Kollegen – bei seiner Beerdigung. Was ihr bleibt? Ein einziger zerknüllter Zettel, ein handschriftlicher Gruß Giacomettis. Kein Bild, keine Skizze, nicht einmal eines ihrer Portraits. Und auch keine Aufmerksamkeit: An die Musen der berühmten Künstler erinnert sich die Geschichte meistens nicht. Sie wäre vergessen, hätte Maubert nicht diesen Text leisen, intimen Text geschrieben, der die Gesprächssituation mit all ihren Wendungen, mit den Zweifeln und Fragen, die bleiben, lebendig werden lässt. Was verband die beiden, Alberto und Caroline? Wann war es bei ihr Berechnung, wann Gefühl? Und was fand er in ihr, der Künstler?

Für Caroline jedenfalls war dies gewiss: „Ich war seine Maßlosigkeit“.


„Caroline“ erschien in der Reihe der „Nicht so kleinen Bibliothek“ im Piet Meyer Verlag. Der Reihentitel ist ein feines, ein wenig ironisches Understatement für eine ziemlich großartige Bibliothek – hier finden sich literarische Texte über große Künstler, die einen ganz eigenen Blick auf deren Schaffen eröffnen. Literarische Preziosen, liebevoll aufgemacht und schön gearbeitet, mit zahlreichen Abbildungen, biographischen Angaben, mit erläuternden Nachworten und weiteren Informationen. Leider stellte der Verleger seine Tätigkeit 2021 ein.

Joachim Ringelnatz – Bär, aus dem Käfig entkommen

Joachim Ringelnatz verband eine enge Freundschaft mit Renée Sintenis, der Schöpferin des Berliner Bären. Sie illustrierte auch etliche seiner Tier-Gedichte.

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Weit entfernt von der Skulptur der Sinetis: Der Berliner Bär heute. Bild: (c) Michael Flötotto

BÄR AUS DEM KÄFIG ENTKOMMEN

Was ist nun jetzt?
Wo sind auf einmal die Stangen,
an denen die wünschende Nase sich wetzt?
Was soll er nun anfangen?

Er schnuppert neugierig und scheu.
Wie ist das alles vor ihm so weit
Und so wunderschön neu!
Aber wie schrecklich die Menschheit schreit!

Und er nähert sich geduckt
Einem fremden Gegenstande.
– Plötzlich wälzt er sich im Sande,
Weil ihn etwas juckt.

Kippt ein Tisch. Genau wie Baum.
Aber eine Peitsche knallt.
Und der Bär flieht seitwärts, macht dann halt.
Und der Raum um ihn ist schlimmer Traum.

Läßt der Bär sich locken. Doch er brüllt.
Läßt sich treiben, läßt sich fangen.
Angsterfüllt und haßerfüllt
Wünscht er sich nach seines Käfigs Stangen.

Joachim Ringelnatz

Wenn jeweils im Februar bei der Berlinale die Bären verliehen werden, dann wissen wohl die wenigsten, so nehme ich an, wer die ursprüngliche Schöpferin dieses Berliner Wahrzeichens war: Renée Sintenis (1888 – 1965), eine der erfolgreichsten und „bedeutendsten Bildhauerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“  (Zitat auf der Homepage des Georg Kolbe Museums, das ihr eine Werkausstellung anlässlich des 125. Geburtstages gewidmet hatte).

Wie so viele andere weibliche Künstlerinnen, die sich in der Weimarer Republik entfalten konnten, wurde sie im Nationalsozialismus ihrer Möglichkeiten beraubt. Zwar wurde ihr Werk in der Nachkriegszeit wieder beachtet und nachgefragt (so wurde ihr 1932 entstandener „Junger Bär“ 1956 neu gestaltet als „Berliner Bär“ im Rahmen einer Werbekampagne für die Stadt), doch heute, wenig mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod, ist ihr Name kaum mehr bekannt.

Zumindest gab es zur Werkausstellung wieder einige Veröffentlichungen über die Künstlerin und ihre Skulpturen. Im Kunstmagazin „art“ fragte man sich:

„Was wohl Renée Sintenis von jenem Tier gehalten hätte, das seit dem 20. Juni 2001 als kitschiger “Buddy Bär” in Divisonsstärke, aus Polyester gegossen und bunt bekleidet, Berlin unter seiner Fuchtel hat? Verwechslung unmöglich: Während der Jungbär von Sintenis in verspielter Bewegung die Arme hebt und zu tänzeln scheint, steht der Plastik-Buddy starr wie vor einem unsichtbaren Feind, die Arme zur Kapitulation steif nach oben gereckt.“

Renée Sintenis` Buddy war übrigens der eingangs zitierte Ringelnatz. Der kleine, O-beinige, großnasige und – ja, sagen wir es direkt – auch etwas hässliche Dichter aus Wurzen hatte die elegante, attraktive Frau, die mit ihrer Körpergröße von 1,80 Meter eine auffallende Erscheinung war, 1922 kennengelernt. Und wie so oft  entflammte der Herr aus Wurzen platonisch.

„Sie schenken einander ihre Werke, Sintenis modelliert eine expressive Portraitbüste des Dichters, unterstützt und fördert in als Maler und Zeichner, gestaltet nach seinem frühen Tod 1934 seine Grabplatte. Aus dem Nachlass von Joachim Ringelnatz editiert Sintenis 1949 den Band Tiere, eine Auswahl seiner schönsten Tiergedichte, versehen mit 13 ihrer kongenialen Zeichnungen.“

Zwischen den beiden entsteht eine intensive Freundschaft“, schreibt Matthias Reiner im Nachwort zum Insel-Band Nr. 1341: „Joachim Ringelnatz: Im Aquarium in Berlin. Mit Illustrationen von Renée Sintenis.“ Die Insel-Bücherei legte damit wieder auf, was eine Geste des Gedenkens der Künstlerin an ihren Freund war. Doch während Ringelnatz heute ein moderner Klassiker ist, ist „Renée Sintenis, der Stern am Kunsthimmel der Weimarer Republik, hingegen nur noch Spezialisten ein Begriff“, bedauert Reiner in seinem kurzen Essay. Sie war die Frau, die den Filmbären schuf…