Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur.

“Februar 33”: Sorgfältig recherchiert, rasant geschrieben. Ein gelungenes Buch, das nochmals deutlich macht, welchen geistigen Verlust die deutsche Literatur und Kunst in diesen wenigen Wochen erlitten hat.

Wenn man sich dieser Tage darüber echauffiert, wie mühsam und zäh sich in einer vielfältiger gewordenen Parteienlandschaft der Regierungsbildungsprozess gestaltet, ja, dem sei nicht nur Geduld angeraten, sondern vielleicht auch die Lektüre dieses Buches. Prozesse in der Demokratie brauchen ihre Zeit. Notstandsgesetze sind dagegen schnell erlassen, der Terror regiert ohne Rücksicht auf langatmige Meinungsbildung.

Dass der Wandel einer zwar maroden Weimarer Republik hin zum nationalsozialistischem Terrorregime rasend schnell ging, ist jedem mit etwas historischem Interesse zwar bewusst. Aber wie sehr dies die Intellektuellen – die es ja vielleicht besser hätten wissen können – überraschte und überrollte, das macht der Literaturkritiker und Schriftsteller Uwe Wittstock mit seinem Band „Februar 33“ eindrucksvoll deutlich.

Zwischen der Machtergreifung Hitlers und den ersten brennenden Büchern lagen nur wenige Wochen. Und obwohl der „Stürmer“ und andere nationalsozialistischen Presseorgane schon in den Jahren zuvor keine Zweifel daran ließen, dass Autorinnen und Autoren und Journalisten wie Carl von Ossietzky, Erich Mühsam oder Gabriele Tergit auf ihren schwarzen Listen standen, dass selbst der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, der mit den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ noch zu den Befürwortern des Ersten Weltkriegs gezählt hatte, argwöhnisch beäugt wurde – ja trotz dieser offenen Feindschaft zu allem, was als intellektuell, meinungsstark und links galt – ja trotzdem wurde diese Zielgruppe quasi über Nacht nicht nur zum Staatsfeind Nummer eins, sondern zu Gefangenen, Verfolgten, Ermordeten. Erich Mühsam, bereits 1934 von KZ-Wächtern erschlagen, war eines der ersten Todesopfer, die in Wittstocks Buch ihren Platz finden.

Die “Säuberungen” gingen rasend schnell

Er bezeichnet es im Untertitel als den „Winter der Literatur“: In den wenigen kalten Wochen ab dem 30. Januar 1933 wurden die Straßen tatsächlich buchstäblich leergefegt von allem, was zuvor die lebendige, laute und intellektuell herausragende Weimarer Zeit ausgemacht hatte. Wittstock schreibt in seinem Vorwort: „(…) über Schriftsteller und Künstler im Februar 1933 wissen wir unvergleichlich mehr Persönliches als über jede andere Gruppe. Ihre Tagebücher und Briefe wurden gesammelt, ihre Notizen archiviert, ihre Erinnerungen gedruckt und von Biografen mit detektivischem Ehrgeiz durchleuchtet.“

Der Autor, davon zeugt auch die umfangreiche Liste an „benutzter“ Literatur, die Wittstock benennt, hält sich eng an diese Fakten, gibt im Nachwort auch einen Werkstatteinblick, in dem er erläutert, wie er mit diesen Quellen umging. Das ist wohltuend: Gab es in den vergangenen Jahren doch auch eine gehäufte Anzahl an Büchern aus dem Bereich literarischer Dokumentation und fiktionalisierter Biographien, die diese Einblicke nicht erlaubten – und die Lesenden ratlos im Bereich zwischen Dichtung und Wahrheit zurückließen.

Gleichschaltung der Akademie der Künste

Doch die große Stärke des Buches ist, dass Wittstock, anstatt anekdotenhaft ein ganzes Kaleidoskop an Schicksalen und Figuren aufzufächern, um diese Zeit zu bebildern, sich auf ein gutes Dutzend (oder etwas mehr) Protagonisten beschränkt und die Fäden der einzelnen Schicksale und ihre Verknüpfungen immer wieder aufgreift. So am Beispiel von Thomas Mann, Bert Brecht und Hanns Johst, der 1935 Präsident der Reichsschrifttumskammer wird und bereits 1933 die Gleichschaltung der Sektion Dichtung an der Preußischen Akademie der Künste betreibt.

„Eine faszinierende Konstellation: drei Schriftsteller, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in München über den Weg laufen und deren Entwicklung unterschiedlicher nicht sein könnte.“

Gerade am Schicksal der Akademie macht Wittstock eindrücklich deutlich, wie vehement und gut organisiert sich die Nationalsozialisten die Meinungshoheit eroberten und Andersdenkende ausschalteten, wie schnell Mitläufer bereit waren, sich anzupassen oder narzisstische Naturen wie Gottfried Benn versuchten, die Zeitenwende für sich zu nutzen. In der Akademie, den Gesprächszirkeln, den Stammkneipen und den Cafés, in die Wittstock die Leser mitnimmt, war eine Frage, ein Zwiespalt der beherrschende: Gehen oder bleiben? Widerstand aus dem Innern oder aus dem Exil? Und wenn Flucht, was konnte einen dort erwarten? Über Oskar Maria Graf meint Wittstock:

„München und Bayern sind für Graf mehr als nur die Heimat. Sie sind für ihn als Schriftsteller das wichtigste Thema, das unentbehrliche Material, von dem er lebt. Worüber wird er schreiben, wenn er jetzt ins Ausland geht?“

Aber Graf weiß auch: „Unter den Nazis würden seine Geschichten niemals gedruckt und verkauft werden dürfen.“

Wie Thomas Mann von seinen Kindern geradezu gedrängt werden muss, nach einer Lesereise nicht in dieses Deutschland zurückzukehren, das über Nacht ein anderes geworden ist, wie Carl von Ossietzky, sein Schicksal erahnend, beschließt, zu bleiben, wie Brecht, Döblin und andere auf gepackten Koffern sitzen, dies alles verbindet Uwe Wittstock sehr gekonnt mit den parallel verlaufenden Entwicklungen auf der politischen Ebene. Vom Presseball, wo der letzte Tanz der Republik stattfindet, rüber in die Reichskanzlei, wo in der Wohnung des Franz von Papen die Machtübernahme eingefädelt wird, bis gegen Ende des Buches hinein in die Folterkammern der SA: Das liest sich streckenweise atemlos und – wäre es nicht bittere deutsche Vergangenheit – auch wie ein Krimi.

Seit „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“ ist diese Technik der zeitgeschichtlichen Collage geradezu en vogue. Und wie es halt so geht: Da kommen dann auch etliche Schnellschüsse auf den Markt, die nicht allzu sehr überzeugen. Wie gut, dass sich Wittstock für dieses Buch, das einen elementaren Einschnitt in die deutsche Geistesgeschichte beschreibt, offenbar Zeit zum Recherchieren und Schreiben gelassen hat. Ein gelungenes Buch, das nochmals deutlich macht, welchen geistigen Verlust die deutsche Literatur und Kunst in diesen wenigen Wochen erlitten hat.


Bibliographische Angaben:

Uwe Wittstock
Februar 33. Der Winter der Literatur.
C.H.Beck Verlag, 2021
ISBN: 978-3-406-77693-9

Bertolt Brecht: Kuhle Wampe und andere Filme

Bertolt Brecht war zwar vom Medium Film fasziniert, hatte aber damit kein Glück. BB und der Film – das war weniger episches Theater, sondern ein Drama ohne Ende.

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Dabei fing alles so gut an: Bereits 1923 arbeitet Brecht, damals 25 Jahre alt, mit dem Regisseur Erich Engel und mit Karl Valentin zusammen. Die „Mysterien eines Frisiersalons“ erinnern streckenweise an den Surrealismus im „andalusischen Hund“ von Luis Buñuel, sind aber auch komisch, humoristisch und ein wenig chaotisch. Der Film galt lange als verschollen, wurde jedoch in den 70erJahren wiederentdeckt und restauriert.

1930 machte sich Georg Wilhelm Pabst an die Verfilmung der Dreigroschenoper. Brecht, zunächst noch aktiv mit dabei, überwirft sich mit Regisseur und Produktionsfirma, will den Film, auch vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus, mit eindeutigerem politischen Inhalt versehen. Die Streitigkeiten führen zum sogenannten Dreigroschenprozeß. Brecht schrieb unter dem Titel „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“ eine Analyse des Rechtsstreits, die er zusammen mit dem Filmexposé und dem Text der „Dreigroschenoper“ veröffentlichte.

1931 ist BB jedoch wieder bereit für das Medium Film – er arbeitet mit Slatan Dudow und Hanns Eisler „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt?“. Der 1932 erschienene Streifen ist benannt nach dem Zeltplatz Kuhle Wampe in Berlin am Müggelsee, einer der vielen Originalschauplätze, an denen gedreht wurde. Geschildert wird das Schicksal einer Arbeiterfamilie und eines jungen Pärchens, dessen Verbindung angesichts der Massenarbeitslosigkeit ohne Zukunft erscheint. Der Film hat – auch durch den Dreh an Originalschauplätzen und mit „echten“ Arbeitslosen neben erfahrenen Schauspielern – streckenweise dokumentarischen Charakter, zeichnet ein realistisches Bild der Verelendung in der Weimarer Republik. Kuhle Wampe war der einzige eindeutig kommunistische Film dieser Zeit – bis hin zu Arbeitern, die das Lied der „Solidarität“ singen – und wurde nicht nur unter großen Schwierigkeiten gedreht, sondern prompt auch von der Zensur verboten. Nach Protesten wird der Film mit einigen Änderungen freigegeben, Brecht macht dem Zensor das ironische Kompliment, dieser zumindest habe den Film wirklich verstanden – nicht als Darstellung eines individuellen Schicksals, sondern als offene Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen: „Der Inhalt und die Absicht des Films geht am besten aus der Aufführung der Gründe hervor, aus denen die Zensur ihn verboten hat.“

Dann die Zeit des Exils. Letztlich verschlägt es Brecht, wie viele andere Autoren, nach Hollywood. Wie andere ist er gezwungen, dort zu antichambrieren und arbeitet für den Broterwerb an Drehbüchern für die Traumfabrik mit. Seine Erfahrungen in dieser Zeit hat er in den bitteren Hollywood-Elegien verarbeitet.

1943 jedoch hat Brecht die Chance, an einem ambitionierten Filmprojekt mitzuwirken. Unter der Regie von Fritz Lang, ebenfalls einem Exilanten, entsteht „Hangmen also die“ – „Auch Henker sterben“. Die beiden Künstler kannten und schätzten sich bereits in den Tagen der Berliner Zeit. Als Brechts Lage im schwedischen Exil angespannt wird, sorgte Lang, der in Hollywood schnell Fuß gefasst hatte und seine Karriere fortsetzen konnte, mit dem European Film Fund dafür, dass Brecht, Weigel, sowie die beiden Kinder und Ruth Berlau Visa für die USA bekamen, 1941 traf die Familie in Los Angeles ein.

Der Film „Auch Henker sterben“ erzählt bereits ein Jahr nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich in Prag 1942 vom tschechischen Widerstand und der Fahndung der Gestapo nach dem Attentäter. Doch schon während der Dreharbeiten kommt es zwischen Lang und Brecht zu Differenzen. Der cholerische Lang tobt gegenüber Brecht und dem ebenfalls linksgerichteten Co-Autoren John Wexley, er „scheiße auf Volksszenen“, er wolle ein Hollywoodpicture machen. Ungerechtigkeiten bei der Bezahlung – Brecht sollte wesentlich weniger als Wexley erhalten -, Kürzungen im Skript, charakterliche Unverträglichkeiten taten ihr weiteres. Die Zusammenarbeit wurde zum Desaster und gipfelte in einer Anhörung vor der „Screen Writer`s Guild“, weil Wexley als der eigentliche Autor genannt werden wollte, Brecht jedoch nur unter ferner liefen aufgeführt wurde. Die Schiedsstelle entschied zugunsten des Amerikaners. Brecht legte danach die Arbeit am Film nieder, begegnete auch Fritz Lang nicht mehr.

Doch was übrig bleibt: Zum einen überstand auch diese Episode die Freundschaft zwischen Brecht und Hanns Eisler, der als Komponist auch an den früheren Filmen mitgearbeitet hatte. Und vor allem: „Hangmen also die“ ist, wenn auch viele der Ideen und Vorstellungen Brechts nicht verwirklicht werden konnten, eines der wichtigsten Filmwerke geworden, das noch während des Nationalsozialismus eindeutig Stellung gegenüber der deutschen Tyrannei bezog.

Lang setzte dem verlorenen Freund BB später noch ein cineastisches Andenken, so der Filmwissenschaftler Peter Ellenbruch:

„Im Gegensatz zu Brecht, der ein Gegner Langs geblieben sein soll, hat sich Lang immer wieder positiv zu Brecht geäußert, ihn als einen wichtigen Autor geschätzt und sich von seinem Werk inspirieren lassen. So baute er 1963 eine Brecht-Hommage in LES MEPRIS von Jean-Luc Godard ein – in welchem er sich selbst spielte – und die Buchstaben „BB“ stehen innerhalb des Films plötzlich nicht mehr für die Hauptdarstellerin Brigitte Bardot, sondern einen Moment lang für Bert Brecht.“

Karl Kraus – Man frage nicht

Jede Diktatur missbraucht die Sprache für ihre politischen Lügen. Wo gegen Lügen nicht mehr anzugehen ist, droht das Verstummen.

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Bild von TheoLeo auf Pixabay

Man frage nicht

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Karl Kraus (1874-1936)

Als im Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, verstummte Karl Kraus: Der Sprachgewaltige, der Sprachmächtige, er verlor anscheinend vorübergehend die Sprache angesichts jener, die sie vergewaltigten für ihre Hetze, die mit ihren Worten ein ganzes Volk manipulierten.

Erst im Oktober 1933 meldete Karl Kraus sich wieder zu Wort: Erst dann erschien erneut eine, die 888. Ausgabe der Zeitschrift „Die Fackel“. Das Heft umfasste gerade einmal vier Seiten – einen Nachruf auf den Architekten Alfred Loos und jenes Gedicht. Die dünnste Fackel, die es je gab – und wenige Worte genügen, um das Dilemma und Verzweiflung dessen sichtbar zu machen, der nicht nur an die Kraft der Sprache glaubte, sondern auch an ihre moralische Wirksamkeit. Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte…
Die von ihm 1899 gegründete Fackel hatte er auch geschaffen, um gegen Sprachverhunzung, die zumeist auch Wahrheitsverschleierung ist, anzukämpfen. Um die Rhetorik der Machthabenden zu entblößen. Kraus schreibt der Fackel in das Programm: “Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ‘Was wir bringen’, aber ein ehrliches ‘Was wir umbringen’ hat sie sich als Leitwort gewählt.”

1914 noch schreibt er vehement gegen den Missbrauch der Sprache und die öffentliche Kriegstreiberei an. Hat ihn, zwanzig Jahre später, die Kraft verlassen, auch das Vertrauen in das Wort verlassen?

Intensiver mit den Hintergründen setzt sich Richard Schuberth, offenbar ein leidenschaftlicher Kraus-Anhänger, auseinander – man beachte insbesondere Teil 23 bis 25 seiner “Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus”:

“Und so tat Kraus, was er schon bei Ausbruch des I. Weltkriegs getan hatte: Er entzog sich der Kakophonie lauter Parolen und vorschneller Meinungen und recherchierte und reflektierte unermüdlich. Zeit seiner letzten drei Lebensjahre würde eine Öffentlichkeit, die ihm Indifferenz, Feigheit und Faschismus vorwarf, nicht ahnen, dass er Frühling und Sommer 33 nichts anderes getan hatte als an einer 400-seitigen Fackel-Ausgabe mit dem Titel Dritte Walpurgisnacht zu arbeiten, der ersten profunden Kritik des Nationalsozialismus, denen die Faschismusanalysen der kommenden Jahre, wie Friedrich Dürrenmatt meinte, nur noch Quantitatives beifügen konnten. Das Heft war größtenteils schon gesetzt, als sich Karl Kraus entschied, es zurückzuziehen.
Die Dritte Walpurgisnacht, welche 1952 posthum als Buch erschien, beginnt mit jenen berüchtigten Worten Mir fällt zu Hitler nichts ein , deren Zitat vor allem der böswilligen Unterschlagung dessen dienen sollte, was dem Satz folgte, und zwar der scharfsinnigen Erörterung, warum es gegenüber dem Phänomen der Gewalt keine Polemik geben kann und vor dem des Irrsinns keine Satire sowie mehr Einfällen zu Hitler, seinen Schergen, Mitläufern und schwachbrüstigen Gegnern, als irgendeinem seiner Zeitgenossen einfielen.”

Statt der Walpurgisnacht also das öffentlich bekundete Verstummen: Es brachte Karl Kraus viel Kritik (unter anderem die “Grabreden”), bis heute überdeckt es für manchen den Blick auf die  Haltung dieses Schriftstellers, der sich der Schrift im wahrsten Sinn des Wortes stellte. Andere konnten Kraus` Haltung nachvollziehen: “In einem zehnzeiligen Gedicht/Erhob sich seine Stimme, einzig um zu klagen/Daß sie nicht ausreiche” schrieb Bertolt Brecht in seiner berühmten Replik. 1934 kündigte Brecht jedoch Kraus die Freundschaft aufgrund der Kraus-Äußerungen zur Unterdrückung der sogenannten “Februaraufstände” in Österreich.

1934 erschien keine normale Ausgabe der Fackel, sondern die Erklärung Warum die Fackel nicht erscheint. Karl Kraus hatte den Druck der Nummer mit dem 300 Seiten-Torso “Die Dritte Walpurgisnacht” gestoppt. Stattdessen erläuterte er auf beinahe ebenso viel Seiten seine Haltung: Er sei an eine Grenze geraten, weil “Gewalt kein Objekt der Polemik, Irrsinn kein Gegenstand der Satire” sein kann.

Die letzte Nummer erschien 1936, vier Monate vor seinem Tod, diese Ausgabe endete mit dem Wort: Trottel.

Persönliche Anmerkung:
Chemnitz. Ein Beispiel, wenn auch ein Eklatantes, dafür, was gärt und herausbricht. Noch ist es Zeit, ganz laut die Stimme zu erheben gegen den um sich greifenden Rechtsextremismus. Nicht länger stumm bleiben, sondern lauter werden!

Annette Pehnt: Lexikon der Angst

Den großen wie den kleinen Ängsten widmet sich die Autorin in ihrem „Lexikon der Angst“. Schreibend hält sie die Ängste fern, verscheucht die bösen Engel.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Mit dem Engel hat er schon Erfahrungen gemacht, als er noch ein Kind war. Er spielte so vor sich hin, gerade mal vier oder fünf, mit dem Krempel, den seine Eltern ihm gekauft hatten, da erschien ihm ein Engel, der kein Blatt vor den Mund nahm.
Du bist, sagte der Engel mit einer erstaunlich hohen Stimme, die kaum zu seiner stattlichen äußeren Erscheinung passte, seinen wie Kupfer gegossenen Flügeln und seinen leuchtenden bodenlangen Gewand, du bist aufgerufen. (…).
Ich will, dass du von nun an den Frieden des Herrn bringst, befahl der Engel, ein Friedensstifter sollst du sein. (…).

Du wirst ja nicht mal wütend, schimpfte die Freundin, hast du gar kein Feuer in dir. Kampfgeist, schon mal gehört.
Ich kann nichts dafür, sagte er schwach, das war der Engel, aber da hörte sie schon nicht mehr zu, vier Tage später war sie ausgezogen, und beruflich ging es auch nicht bergauf, man stellte ihm im Jobcenter für die Langzeitarbeitslosen ein, die er geduldig und erfolglos betreute. So lernte er, die Engel zu fürchten.“

„Lexikon der Angst“, Annette Pehnt


Jeder kennt sie, diese kleinen, diffusen Ängste – das Bügeleisen, das unausgeschaltet in der verlassenen Wohnung vor sich hin schmort, das Unbehagen bei einer Autobahnfahrt, das Gefühl im Magen, kurz bevor das Flugzeug abhebt. Und es gibt die großen Lebensängste: Um das eigene Kind, vor dem Tod des Partners, vor den Erscheinungen des Älterwerdens, Existenzangst.

„Angst gehört zum Menschen“, weiß auch die 1967 geborene Schriftstellerin Annette Pehnt. Doch bei manchen wird das ureigene, urmenschliche Gefühl zur Störung: „Angst essen Seele auf“. Etwa 14 Prozent der europäischen Bevölkerung leiden an einer behandlungsbedürften Angststörung, so eine Studie 2011.

Den großen wie den kleinen Ängsten widmet sich die Autorin in ihrem „Lexikon der Angst“. Ein Buchtitel, der auf den ersten Blick eher einem medizinischen Fachverlag zugeordnet scheint. Doch so, wie das Lexikalische ein Spiel bleibt, so spielerisch-virtuos geht Annette Pehnt auch mit der ganzen Skala von Angstgefühlen um, die uns Menschen umtreiben kann. Man könnte auch sagen: Schreibend hält sie die Ängste fern, verscheucht die bösen Engel.

Kleine Kurzgeschichten, große Ängste

Die Skala des Unbehagens, das sich (auch auf sprachlich) leisen Sohlen durch eines jeden Menschen Leben schleichen kann, reicht von „A“ wie „Aal“ – eine junge Frau, die Angst beim Milchtrinken empfindet, nur leise angedeutet wird ein Kindheitstrauma – von „Z“ wie „Zirpen“, das von der älteren, einsamen Frau erzählt, die vergeblich auf den Anruf ihres Sohnes wartet. Das Spiel mit der Lexikonordnung besteht also aus kleinen Kurzgeschichten, unter deren lexikalischen Angaben wie „Federschmuck“ oder „Morgenlicht“ sich Überraschendes verbirgt. Kalendergeschichten seien es auch, schrieb Ursula März in ihrer Rezension in der Zeit. Tatsächlich erinnert die klare, nüchterne Erzählweise von Annette Pehnt von ungefähr an einen anderen großen Kalendergeschichten-Erzähler: Bertolt Brecht. Dessen Geschichten von Herrn Keuner kreisen ebenso beiläufig um die „großen“ Fragen und die Alltagsthemen – hier steht Annette Pehnt in einer guten Tradition. Auf die Frage, warum sie, wie in ihren Vorgängerromanen, unter anderem „Mobbing“ und „Chronik der Nähe“, immer wieder „ungemütliche Themen“ aufgreife, antwortete sie:
„Gemütlich kann man es sich vor dem Fernseher machen. Literatur ist etwas anderes. Sie erzählt von den Rissen in unserer glänzenden Oberfläche.“

Angst – ein kraftvolles Gefühl

Angst sei, so sagt sie weiterhin, ein „kraftvolles Gefühl“, aus dem man erzählerisches Material schöpfen kann. Und das ist ihr mit ihrem Lexikon durchaus gelungen: Erstaunlich die Bandbreite der Ängste, Phobien, Befürchtungen, des Unbehagens, die sie hier ganz sacht aufblättert. Und dafür trotzdem kein einziges Mal in die Horrorkiste oder Klischeeschublade greifen muss – weder die cineastisch umgesetzten Ängste vor Serienmördern, Aliens und Weltuntergang sind in diesem Lexikon zu finden, noch Klaustro-, Agora- und Coulrophobie. Vielmehr handelt es sich um jene Befürchtungen, die jeden von uns treffen könnten. Ursula März in der Zeit:

„Annette Pehnt, die sich mit einer Reihe von Romanen wie Mobbing und zuletzt Chronik der Nähe aus dem Jahr 2012 als luzide Beobachterin der deutschen Gegenwartsgesellschaft und empfindsame Phänomenologin des alltagsnahen Geschehens erwies – darin dem Schriftsteller Wilhelm Genazino von fern verwandt –, begibt sich in ihrem neuen Buch auf die Spuren jener schönen, im frühen 19. Jahrhundert kultivierten, minimalistischen Prosaformen, die vom Romanehrgeiz der derzeitigen Belletristik fast verdrängt wurden: die Kurznovelle und die Kalendergeschichte. “

Die schönste aller dieses Geschichten ist für mich jedoch jene, die vom Zustand „vor der Angst“ erzählt: „Nichts“.

„Sie ist fünf, im besten Alter, das es gibt. Sie ist wendig, schlank wie ein Strohhalm und immer warm. Wenn sie etwas lustig findet, einen selbsterdachten Witz, den niemand sonst versteht, lacht sie hemmungslos. Ihre Augen sind klar, sie schaut jeden direkt an und zwinkert selten. Wenn man ihr ein Buch vorliest, legt sie dem Vorleser eine warme Hand auf das Bein, ohne es zu merken. Sie kann im Handumdrehen wütend werden, ein schäumender Zorn packt sie dann, und sie brüllt aus Leibeskräften, bis ihr die Haare verschwitzt in die Augen hängen, sie fegt Bücher vom Tisch oder ein volles Saftglas.“

„Sie hat vor nichts Angst, außer davor, nicht mehr fünf zu sein.“

Schön wäre es manchmal schon, man wäre noch fünf oder siebzehn und frei von den Lebenserfahrungen, die auch Angst machen können. Sie sind subsummiert unter dem letzten Lexikoneintrag „Zittern“, der auch in der erzählerischen Form eine Ausnahme bildet:

Zittern
Hungrig sein im eigenen Hause.
Stinken, ohne davon zu wissen.
Nicht mehr aufhören können zu lachen.
Das eigene Kind nicht lieben.
Sich an den Rändern auflösen.
Nichts mehr hören können.
Nichts mehr schmecken können.
Nicht mehr gehen können.
Nicht mehr singen können.
Zu viel sehen müssen.
Jemanden lieben und es niemals sagen können.
Verspeist werden.
Keinen Tanzpartner finden.
Auch beim nächsten Mal keinen Tanzpartner finden.
Ein weiches Tier zertreten.
Soldat werden müssen.
Ein Tier schlachten.
Mitten auf dem See die Ruder verlieren.
Den eigenen Bruder mit dem falschen Namen begrüßen.
Den Hund in der Tür zerquetschen.
Schweigend beim Essen sitzen.
Streitend beim Essen sitzen.
Gar nicht beim Essen sitzen.
Im Restaurant deutlich hörbar furzen müssen.
Einen Körperteil abgetrennt bekommen.
Sich beim Verwelken zusehen.
Dem eigenen Kind beim Verwelken zusehen.
Schokolade essen und Braten schmecken, Braten essen und Schokolade schmecken.
Am hellichten Tag die Augen öffnen und nichts sehen.
Zittern, einfach so.


Bibliographische Angaben:

Annette Pehnt
Lexikon der Angst
Piper Verlag,2104
EAN 978-3-492-30642-3

Zur Homepage der Autorin: http://www.annette-pehnt.de/

Winfried Stephan: Nicht schon wieder keine Tore

Friedrich Torberg, Urs Widmer, Wiglaf Droste oder auch Benedict Wells: Wenn es um Fußball geht, reden alle mit. Schriftsteller und sogar auch Fußballer.

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Bild: Florian Pittroff, https://flo-job.de/

Ein Gastbeitrag von Florian Pittroff

Jetzt geht das wieder los! In meiner Wahrnehmung teilt sich die Welt ab Freitag wieder in jene, die an akutem Fußballfieber leiden und in jene, die vernunftbegabt sind, dem Ganzen wenig abgewinnen und immer noch Lesen die beste aller Freizeitbeschäftigungen finden. Tatsächlich aber gibt es nicht wenig Grenzgänger die Lesen, Schreiben und Fußballspieler auf einen Nenner bringen. Einer davon ist mein Kollege und Co-Autor hier: Florian Pittroff, der sich kurz vor der Europameisterschaft noch durch einige Fußballbücher gelesen hat. Unter anderem sah er sich “Nicht schon wieder keine Tore” von Winfried Stephan an.

Schade, die „Geschichten und Gedichte rund um den Fußball“ beginnen etwas zäh. Es ist – um in der Fußballersprache zu bleiben – zu Beginn ein Abtasten. Die fiktiven Briefe des Bundestrainers an seine Frau Daniela von Moritz Rinke kommen etwas langatmig um die Kurve. Und auch die autobiografische Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ von Friedrich Christian Delius sowie die Erzählung „1954“ von Günter Grass nehmen nicht so richtig Fahrt auf.

Dantes Tragödie im Jahr 2014

Aber das bleibt im Verlaufe der 272 Seiten zum Glück nicht so. Ein Höhepunkt: “Dantes Tragödie“. Das ist die Geschichte über den verheerenden Fußballabend, den der brasilianische Verteidiger Dante bei der Weltmeisterschaft 2014 im legendären Halbfinale gegen die DFB-Elf erlebte. Schlagfertig und wortgewandt erzählen Tim Jürgens und Philipp Köster, wie der Brasilianer zum Einsatz kommt, wie es nach 29 Minuten 5:0 für Deutschland steht und wie der schwärzeste Tag im Leben von Dante seinen weiteren Verlauf nimmt. „ Es war einer der Tage, an denen jeder noch in Jahrzehnten weiß, wo er sich aufhielt, als es passierte. Die Antwort des brasilianischen Verteidigers Dante lautet: “Ich war in der Hölle“.

Friedrich Torberg, Urs Widmer, Wiglaf Droste und Benedict Wells leisten ihren Beitrag dazu, dass die Begegnung, respektive das Buch, dann doch immer besser wird. Neben  Schriftstellern kommen auch Fußballer zu Wort – beispielsweise Sepp Maier, Günter Netzer, Uli Hoeneß, der sich an seinen verschossenen Elfer beim EM-Finale 1976 erinnert oder Paul Breitner, der von der Erfüllung eines Jugendtraums und von Real Madrid erzählt. Über das bemerkenswerteste Kunstereignis des Jahres 1929 – Schalke 04 gegen Arminia Hannover – hat Bertolt Brecht einen Text verfasst. Oder doch nicht? Die unglaubliche Geschichte die dahinter steht, ist reizvoll und interessant zugleich.

Eine dann doch ganz gelungene literarische Einstimmung auf das bevorstehende Fußball-Fest!


Informationen zum Buch:

Winfried Stephan (Hrsg.)
Nicht schon wieder keine Tore
Diogenes Verlag, 2016


Über den Gastautor:

Florian Pittroff ist Magister der Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Journalist und Texter. Seine Buchbesprechungen waren unter anderem zu lesen im Kulturmagazin „a3kultur“ und im deutschsprachigen Männermagazin „Penthouse“.  Er verfasste Kulturbeiträge für das Programm des „Parktheater Augsburg“, war unter anderem verantwortlich für die Medien- & Öffentlichkeitsarbeit des kulturellen Rahmenprogramms „City Of Peace“ (2011) und die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften (2015) in Augsburg. Florian Pittroff erhielt 1999 den Hörfunkpreis der Bayrischen Landeszentrale für neue Medien für den besten Beitrag in der Sparte Kultur.

www.flo-job.de