Christoph Heubner: Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen

Mit drei eindrücklichen Erzählungen gibt Christoph Heubner den Opfern des Holocaust eine Stimme.

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Das Gemälde “Triumph des Todes”(Die Gerippe spielen zumTanz) von Felix Nussbaum entstand 1944. Reproduktion von Wikimedia, das Original ist im Felix Nussbaum Haus in Osnabrück zu sehen.

„Als Kind habe ich geträumt, dass ich erwachsen bin und fliegen kann. Ich habe geträumt, dass mich Räuber in einen dunklen Wald schleppen, und ich habe geschrien. Der Junge hat zuviel Phantasie, du musst ihn schärfer herannehmen, hat mein Vater zu meiner Mutter gesagt. Also habe ich beschlossen, keinen Unsinn mehr zu machen und nicht mehr zu träumen.“

Christoph Heubner, „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“


Aus dem Jungen wird ein Mann, der Mann wird zum Großvater. Er führt ein angepasstes, arbeitsames Leben in seinem ungarischen Heimatort Kaposvár. Erst durch seine Enkelin, die er über alles liebt, wird der alte Mann wieder zum Jungen, der träumen kann. Doch sie, die kleine Giliki, ist eine der ersten, die aus dem Waggon mit 87 Menschen gezerrt wird, die der Mordmaschine vorgeworfen wird. Während für den Alten sein schlimmster Alptraum wahr wird: In einen Wald verschleppt, ein Waldstück nahe des Vernichtungslagers, wartet er gemeinsam mit einer letzten Übriggebliebenen aus seinem Dorf darauf, was ihm geschehen wird. Die Zeichen, er hat sie schon in früheren Jahren gesehen, geahnt, dass da etwas ist:

„Den Hass und die Verachtung uns gegenüber haben sie sich für zu Hause und die Straße aufgespart. Ich wusste immer, dass sie ein Tier in sich eingesperrt hielten, das endlich raus wollte. (…) Blanker Hass. Und wenn die Meinen auf den Holzplatz kamen, habe ich den Hass hinter ihren Augen gesehen, wenn sie mich angeschaut haben. Sie haben gewartet, dass sie von der Kette kommen.“

Jetzt, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, verstummen die letzten Zeitzeugen mehr und mehr. Und dennoch erscheint es in diesen Tagen umso wichtiger, die Stimmen, die vom eigentlich Unsagbaren erzählen und von den unmenschlichen Taten Zeugnis ablegen, weiterhin hörbar zu machen.

Heubner gibt den Opfern eine Stimme

Einen besonderen literarischen Weg hat dazu der Schriftsteller Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, eingeschlagen. In seinem Band „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ gibt er den Opfern eine Stimme: Einfühlsam, nah an der Realität trotz der fiktionalen Bearbeitung, nachhallend.

Für die drei in diesem Band versammelten Geschichten wählte Heubner drei Stimmen, drei Formen. „Nach Auschwitz – drei Geschichten“, wie der Untertitel sagt, und jeder der drei Geschichten hallt lange nach. „Das leere Haus“, die Erzählung einer Überlebenden, reicht bis in unsere Gegenwart. Sie erzählt vom Überlebenskampf der allein gebliebenen und auf sich gestellten Kinder nach dem Krieg und nach dem Lager, von der Heimatlosigkeit, der Entwurzelung, dem Schuldgefühl der Überlebenden. Wie man sich wieder ein Leben zurechtzimmern kann, wie man weitermachen kann:

„Wir waren für uns. Das war jetzt unser Maulwurfhügel. Weit weg von den alten Gespenstern, die Angst lag in unserer Wohnung wie ein alter Hund, der nur noch leise vor sich hin schnarcht.“

Doch der Kettenhund – ein Symbol in allen drei Geschichten – er schläft nicht, er ist noch lebendig: Die Erzählung endet mit dem Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh 2018, bei dem elf Menschen getötet und andere schwer verletzt wurden.

„Vier Minuten. Es waren vier Minuten. Und mir war, als hätte ich am anderen Ende des Parkplatzes meine Mutter gesehen. Sie war so jung wie damals, als sie uns abgeholt haben und schrie: Vier Minuten, ist es nie zu Ende?“

Stellvertretend für die Toten von Birkenau

In „Ein Stück Wiese, ein Wald“ stehen sich zwei Menschen gegenüber, ein Mann und eine Frau, stellvertretend für die über 440 000 ungarischen Juden, die 1944 in wenigen Monaten in Birkenau ermordet wurden. Menschen, so Christoph Heubner, die sich in den Jahren davor niemals hätten vorstellen können, dass sie in Lager abtransportiert, verschleppt und getötet werden könnten, weil sie Juden waren.

Fiktives Tagebuch von Felka Platek und Felix Nussbaum

In der dritten, titelgebenden Erzählung „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“, setzt Heubner eine Idee fort, die 2007 nach einem Gespräch mit Stéphane Hessel entstand, ein fiktives Tagebuch der beiden Künstler Felka Platek und Felix Nussbaum, die 1944 in ihrem Versteck bei Brüssel aufgegriffen und verhaftet wurden und in Auschwitz starben. Heubner veröffentlichte das fiktive Tagebuch zunächst auf dem Internetportal des Auschwitz Komitees und trug es bei mehreren Lesungen vor – im Nachwort weist er ebenfalls auf den Roman von Hans Joachim Schädlich, „Felix und Felka“, hin.

Bemerkenswert ist es, wie Christoph Heubner es auch in diesem kurzen Text gelingt, innerhalb weniger Seiten die ganze Dramatik des Geschehens deutlich zu machen: Zwei junge Menschen, die jeder für sich aufbrechen, um sich selbst zu verwirklichen, ihren eigenen künstlerischen Weg einzuschlagen, voller kreativer Kraft und Hoffnung. Und wie schnell aus den wenigen Zeilen dann die Verzweiflung spricht, weil ihnen alles geraubt wird – Arbeits- und Lebensmöglichkeiten, wie sich die Klaustrophobie und Unsicherheit in den engen Verstecken auf den Leser überträgt, wie mehr und mehr die Hoffnungslosigkeit zunimmt. Christoph Heubner sagt dazu in seinem Nachwort:

„Die Bilder von Felka Platek und Felix Nussbaum jedoch, gegen die materielle Not, die alltägliche Angst und das Grauen entstanden: auch sie halten stand und erinnern an die Empörung und die Menschlichkeit, die die Résistance gegen die deutschen Nationalsozialisten in Europa getragen hat und zu der auch Felka Platek und Felix Nussbaum für alle Zeiten gehören. Das wollte ich unbedingt erzählen.“

Und dieses Weiter-Erzählen ist so wichtig in unserer Zeit. „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ ist ein schmaler Band, aber von großem Gewicht.


Informationen zum Buch:
Christoph Heubner
Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen
Steidl Verlag 2019
Leineneinband, gebundes Buch, 104 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-95829-717-3

Weitere Informationen:
Christoph Heubner im Interview im Deutschlandfunk
Auf der Seite des Auschwitz Komitees

Eddy de Wind: Ich blieb in Auschwitz

Der holländische Arzt Eddy de Wind überlebte Auschwitz. Schon 1946 veröffentlichte er seinen Bericht, der jedoch erst im Jahr 2020 in deutscher Sprache erschien.

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Bild von Peter Tóth auf Pixabay

„Sie haben ihre Arbeit schlecht gemacht. Nach kurzer Zeit, nach einer Stunde vielleicht, bin ich wieder zu mir gekommen. Ich lag in der Grube, inmitten von lauter ermordeten Frauen, und habe noch gelebt. Da habe ich gespürt, dass sich meine Haltung verändert hat, dass ich am Leben bleiben muss, am Leben bleiben will, um davon zu erzählen. Um allen davon zu erzählen, die Menschen davon zu überzeugen, dass das hier wirklich passiert ist…“

Eddy de Wind, „Ich blieb in Auschwitz. Aufzeichnungen eines Überlebenden 1943 – 1945“.

Dies ist ein Buch, das sich einer gängigen Besprechung entzieht.
Es ist ein Buch, das einen auch heute noch beim Lesen, da die Geschehnisse über ein dreiviertel Jahrhundert zurückliegen, mit Entsetzen und Fassungslosigkeit erfüllt.

Und ein Buch, das Scham auslöst:
Scham darüber, dass das darin Geschilderte tatsächlich geschehen konnte.
Scham darüber, dass dieser Bericht, als er 1946 erstmals und 1980 erneut in den Niederlanden erschien, scheinbar nur wenige Menschen erreichte und interessierte.
Und auch Scham darüber, dass die Hoffnung seines Verfassers, dieses Buch möge mit „einem neuen Humanismus den Weg“ bereiten, nicht erfüllt wurde.

Berichte aus der Hölle von Auschwitz

Bereits vor 30 Jahren hatte Eddy de Wind eine Neuauflage seines Berichtes aus der menschlichen Hölle angestrebt, weil, so heißt es im Nachwort der jetzigen Auflage, er sich zunehmen Sorgen macht „über etwas, das er eigentlich nie mehr erleben wollte, über das Wiederaufflammen von Intoleranz und politischer Gewalt – auch in Westeuropa.“ Wieviel Grund zur Sorge hätte der holländische Arzt und Psychoanalytiker erst heute, in diesen Tagen, da von manchen Politikern der Nationalsozialismus ganz offen als „Vogelschiss“ und das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnet wird und Faschisten in fast allen europäischen Ländern ihre Wiederauferstehung feiern?

Gerade deshalb ist es wichtig, dass dieses Buch gerade jetzt wieder erscheint – erstmals in deutscher Übersetzung (durch Christiane Burkhardt) im Piper Verlag sowie in weiteren zwanzig Ländern.

Die Niederlande unter nationalsozialistischer Besatzung

Eddy de Wind (1916 – 1987) ist der letzte jüdische Student, der an der Universität in Leiden noch seinen Abschluss machen kann. Noch kann der junge Mann einige Monate in Amsterdam in Freiheit verbringen. Doch der Zugriff der nationalsozialistischen Besatzer wird immer enger. Um seiner Mutter, die im Lager Westerbork inhaftiert ist, helfen zu können, meldet sich de Wind als Freiwilliger im Arztdienst für dieses Lager – als er ankommt, ist seine Mutter jedoch bereits schon nach Auschwitz deportiert. Ein Schicksal, das auch ihn und seine Frau Friedel, der er in Westerbork kennengelernt hat, wenig später trifft.

In seinem Zeitzeugenbericht schildert de Wind die Verhältnisse in Auschwitz, in dem er von 1943 bis 1945 zahllose Grausamkeiten am eigenen Leib erlebt und miterleben muss, aus beinahe sachlicher, distanzierter Sicht – in einer nüchternen Sprache, in der sich jedoch die ganze Inhumanität, die dieser Todesmaschinerie innelag, erst richtig enthüllt.

„Es ging zum alten Krematorium, das zweihundert Meter vom Lager entfernt war. Es wurde nicht mehr benutzt. Seit alle Vernichtungen in Birkenau organisiert wurden und in Auschwitz bloß noch eine „normale“ Sterblichkeit herrschte, kamen die wenigen Leichen abends auf den Leichenwagen, der damit zu den Öfen von Birkenau fuhr.“

In der darauffolgenden Szene zeigt sich der ganze bürokratische Wahnsinn, der das Lagerleben und Lagersterben regelt – Eddy de Wind, der sich in seinen Aufzeichnungen Hans nennt, wird zu einem besonderen Einsatz eingeteilt:

„In einem der Räume des Krematoriums türmten sich Blechbehälter – die Urnen der Polen, die hier verbrannt worden waren. Die Familie bekam anschließend die Todesnachricht und konnte die Urne anfordern. Aber im Laufe der Jahre hatten sich vierzigtausend Urnen angesammelt, die jetzt in einen anderen Raum gebracht werden mussten.
Die Männer bildeten eine lange Menschenkette durch die Kellerräume, in denen die drei großen Öfen standen. Sie warfen sich die Urnen zu wie Käse- oder Brotlaibe. Noch nie hatte Hans so viele Tote in den Händen gehabt wie in diesen Stunden.“

Eddy de Wind erzählt von den Massentötungen, von der Ausbeutung der Menschen als Arbeitssklaven, von Hunger, Erschöpfung und zugleich der dem Lager innewohnenden Monotonie. Er macht in seinem Bericht die Hierarchie sichtbar, die unter all den Insassen die Juden an die unterste Stufe setzt, den SS-Mann als „Krönung der arischen Schöpfung“ dagegen zu allem berechtigt:

„Wer hat noch nie einen Betrunkenen gesehen, der seinem jaulenden Hund einen Tritt versetzt? Der Hund jault dann noch lauter, und obwohl der Mann betrunken ist, spürt er zu Recht, dass das Tier ihn wegen seiner Brutalität anklagt. Zu aufrichtiger Reue ist der Mann nicht imstande, dennoch weckt das anklagende Jaulen unangenehme Gefühle, die er mit einem stets brutaleren Auftreten überspielt. Fester treten, lauter jaulen – so lange, bis der Hund totgetreten ist.“

Das Berührende an diesem Text ist es, dass hier ein Mensch aus der Vergangenheit zu uns spricht, der unwürdiger behandelt wurde wie ein Tier – und der doch, wie andere seiner Leidensgenossen auch, seine Würde behielt, seine Menschlichkeit. Eddy de Wind erzählt auch von der Solidarität unter den Häftlingen, von ihrem Überlebenswillen, der natürlich auch vom Gedanken an Rache angetrieben wird. Und den Erzähler selbst hält das Wissen aufrecht, dass seine Frau Friedel nur einen Block entfernt noch unter den Lebenden ist und sich zudem lange den grausamen Experimenten der Lagerärzte unter Leitung des Dr. Mengele entziehen kann. Um mit ihr nur ab und an einige Worte und Lebensmittel wechseln zu können, dafür riskiert Eddy de Wind regelmäßig sein Leben.

Todesmarsch und Überleben

Erst 1945, als die russischen Befreier kommen, erlebt das Ehepaar eine wirkliche Trennung: Friedel begibt sich, entgegen seines Rats, auf einen der Todesmärsche, auf die die SS Abertausende ihrer Gefangenen jagt, er dagegen versteckt sich im Lager und überlebt so die letzten Tage in Auschwitz. Es grenzt an ein Wunder, dass das Paar sich nach seiner Rückkehr in die Niederlande wiederfand, auch wenn die Ehe den durchlittenen Alptraum nicht überstand.

Eddy de Wind begann mit seinen Aufzeichnungen bereits, als die Deutschen aus Auschwitz abgezogen waren. Eine kleine Ironie des Schicksals: In einer Kladde der Deutschen hielt er all die Gräuel fest, deren Zeuge er wurde. So spricht aus diesem Buch die authentische Stimme eines Zeitzeugens, der, obwohl er selbst später als Psychiater und Psychotherapeut traumatisierten Kriegsopfern half, wusste, dass dieses Trauma in einem Menschenleben nicht zu überwinden ist, dass es kein Vergessen geben kann – „Ich blieb in Auschwitz“ ist ein Titel, der alles dazu sagt.

Informationen zum Buch:

Eddy de Wind
Ich blieb in Auschwitz
Piper Verlag 2020
Übersetzt von Christiane Burkhardt
240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 20,00 Euro
EAN 978-3-492-07001-0

Weitere Besprechungen:
Deutschlandfunk Kultur

Lily Brett: Auschwitz Poems

Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren, in einem Auffanglager für Menschen, die den Holocaust überlebten. Ein Trauma, das in ihren Gedichten nachwirkt.

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Bild von Ron Porter auf Pixabay

„Darf man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben? Oder vielmehr, darf man über Auschwitz Gedichte schreiben? Die Antwort ist verdächtig (und wahrscheinlich unvermeidlich:) dialektisch. Nein, über Auschwitz kann nichts geschrieben werden. Doch, ja, man kann über die verschiedenen Formen des Schweigens schreiben, die Auschwitz umgeben: das Schweigen der Schuld, der Scham, des Schreckens und der Sinnlosigkeit. Man kann dieses Schweigen aufschließen. Man kann nicht nur, man sollte über Auschwitz, über den Holocaust, schreiben.“

So äußerte sich die ungarische Philosophin Agnes Heller 1993 in einem bemerkenswerten Aufsatz in der „Zeit“. Sie griff damit Adornos Diktum auf, der geäußert hatte, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben – ein Satz, den er später selbst revidierte, der aber doch über jeder Lektüre von Lyrik zur Shoah unausgesprochen hängt.

Der Artikel in voller Länge: “Die Weltzeituhr stand still”.

Welche Art von Gedichten kann man über Auschwitz schreiben? Eine Frage, die mich beim Lesen von Lily Bretts „Auschwitz Poems“ unablässig begleitet hat. Deren Gedichte sind von der sprachlichen Eindringlichkeit, von der traurigen Schönheit einer „Todesfuge“ des Paul Celan weit entfernt. Die Schriftstellerin zeichnet Bilder, die in ihrer nackten Grausamkeit an das Filmmaterial erinnern, das wir aus den Konzentrationslagern kennen:

Ihre Körper (Auszug)

Die
Körper
zehrten

von
sich selbst

erst
vom
Fett

dann
vom
Fleisch

Lily Brett hat den Holocaust nicht selbst erlebt – aber sinnbildlich mit der Muttermilch aufgesogen. Sie wurde 1946 in Deutschland geboren, ist eines der ersten Kinder, die in einem Auffanglager für die Überlebenden geboren wurden. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach Australien aus. Mit neunzehn Jahren begann Lily Brett für eine australische Rockmusik-Zeitschrift zu schreiben. Sie interviewte und porträtierte zahlreiche Stars wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger. Heute lebt die Autorin in New York.

„The single most defining aspect of my life, and I have always known this, is the fact that I was born to two people who had each survived years of imprisonment in Nazi ghettos, labor camps and death camps. My parents were a rare statistic. Two Jewish people who were married to each other and who each survived death camps“, sagt die Schriftstellerin beim Holocaust Commemoration Talk 2016 in Sydney.

Selbst in Australien ist Auschwitz noch spürbar

Trotz der beruflichen Karriere, trotz ihres Eintauchens in eine neue Welt: Lily Brett bleibt ein Kind des Lagers. Die Erlebnisse nehmen ihre Eltern, insbesondere die Mutter, mit, sogar bis an das andere Ende der Welt: Selbst in Australien, so macht es der zweite Teil des Gedichtbandes deutlich, ist Auschwitz immer spürbar. Und auch der nachfolgenden Generation wird diese Erfahrung eingebrannt in die Gene, auch die Nachkommen sind Gezeichnete, mit einer unsichtbaren Nummer auf dem Handgelenk.

Karg sind die „Auschwitz Poems“, meist nur ein Wort pro Zeile, als sei jedes Wort zu viel, als ringe die Autorin damit, die maschinelle Nüchternheit, die bei der Menschenvernichtung in Auschwitz herrschte, in wenige Worte zu fassen. In Worte, die auf den Kern zielen: Ihre lebenslange Erschütterung über dies Geschehen, das sie von ihren Eltern erfuhr, weiterzugeben. Und so sind die Zeilen tatsächlich streckenweise kaum ertragbar, entkleidet jeder sprachlichen Metapher, grausam in ihrer Direktheit.

Renjas Baby (Auszug)

Spaltete
man
ihm
den Schädel

warf
es

auf
eine

andere
Mutter.

Die „Auschwitz Poems“ einer Nachfahrin zweier KZ-Überlebenden machen die Frage nach dem „Schreiben dürfen“ solcher Gedichte obsolet. Der schmale Band macht deutlich: Lily Brett hat diese Gedichte schreiben MÜSSEN. Die 1986 entstandenen „Auschwitz Poems“ sind der Ausdruck eines lebenslangen Traumas, das auch die Kinder der Danach-Generation in seinem eisernen Griff hält. Noch lange wird dieser Einschnitt des Bösen nachwirken – jedoch bei den Opfern, nicht bei den Tätern, denen Verdrängung weitaus besser zu gelingen scheint. Und auch deswegen MÜSSEN Gedichte wie diese, die in ihrer bewusst gewählten Kunstlosigkeit vom Unfassbaren erzählen, geschrieben werden – weil sie das Verdrängen im Augenblick ihrer Lektüre unmöglich werden lassen.

Romane um Ruth Rowax

Wer weiß jedoch, wenn ich nicht zuerst die Auschwitz Poems in der Hand gehabt hätte, sondern einer ihrer Romane, ob ich dann mich weiter mit Lily Brett beschäftigt hätte. So wortkarg die Poems, so umfangreich (und leider streckenweise auch ein wenig geschwätzig) die Romane.

Ich gestehe es ein, die Annäherung an Lilly Brett beziehungsweise die wohl stark autobiographisch gezeichnete Figur Ruth Rowax in „Zu viele Männer“ und „Chupze“ fiel mir nicht leicht. Die Frau in diesen beiden Büchern – trotz (oder eben gerade wegen) ihres Lebenswegs, trotz der Hypothek der „Nachgeborenen“ – sie ist anstrengend, sie nervt streckenweise. Auch trotz des unwiderstehlichen Humors.

Im Geiste eine Schwester von Woody Allen

Lily Brett – sie verkörpert in gewisser Weise die hyperaktive, hypernervöse, mondäne New Yorkerin, immer auf der Sinnsuche, immer leicht neurotisch. Das Kalorienzählen. Das ständige gedankliche Kreisen um Nahrungsaufnahme, das Knabbern an Gemüsestangen, das Lutschen an Verdauungstabletten. Das detaillierte Beschreiben von Äußerlichkeiten, vom Schnitt und Qualität der Kleidung, der Frage, wie die Haare sitzen. Das Überbemuttern des eigenen Vaters, der mit seinem Schicksal weitaus souveräner umzugehen weiß als seine Nachfahrin. Nein, eine Sympathieträgerin ist sie für mich auf den ersten Blick in ihren Romanen nicht. Andererseits ist da dieser unschlagbare Humor selbst in den kritischsten Lebenslagen: Lily Brett die geistige Schwester von Woody Allen – in allen Aspekten, dem Kreisen um das eigene Judentum, den Ausbruchsversuchen aus den selbstgeschaffenen engen Kollektiven im Exil, dem Eintauchen in die Boheme in N.Y. bis hin zur klassischen engen Verbindung zum eigenen Analytiker.

Doch hinter der Fassade lauert das kleine Kind, das offensichtlich nur eines versucht: Es der verstorbenen Mutter recht zu machen. Das vier Jahrzehnte, wie es in einem Gedicht heißt, braucht, um festzustellen, dass sie durchaus von der Mutter geliebt wurde. Das ein Leben lang an mit den traumatischen Ereignissen ringt, die von Generation zu Generation weitergegeben und nur mit der Zeit gemildert werden.

2012 sagt Lily Brett in einem Interview mit der „Zeit“:

„Meine Eltern haben das Ghetto von Łódź und Auschwitz überlebt. Füllig sein bedeutete damals, auf Kosten anderer zu leben. Und nach dem Krieg war meine Mutter sehr darauf bedacht, nicht dem Vorurteil zu entsprechen, Juden seien klein und fett. Meine Mutter verlor in der Schoah alle, die sie liebte. Sie verlor auch ihre Jugend, ihre Sprache, ihre Ausbildung, ihre Kultur. Es gab nichts mehr, was sie noch hätte verlieren können – außer ihrer Schönheit. Sie war tatsächlich außergewöhnlich schön, und so war ihr dies dann auch besonders wichtig.“

Dieses Wissen und zudem der Humor und die Fähigkeit zur Selbstironie versöhnen auch mit den Längen ihrer Bücher. Und letztlich sind auch diese Romane ein Versuch, mit den Themen der Schuld, der Scham fertigzuwerden, gegen die Opferrolle, das Schicksal, „Massel“ anzuschreiben, mit dem „Schlamassel“ der Überlebenden zu ringen.

Eine Reise zurück zu den polnischen Wurzeln

In „Zu viele Männer“ beschreibt Lily Brett eine Reise ihrer Kunstfigur Ruth Rowax mit deren Vater nach Polen – um die Wurzeln ihrer Herkunft zu finden, aber auch um die Nachfahren der Täter zu sehen und vor allem getrieben davon, Erklärungen zu finden, Schuld und Scham abzustreifen.

„Was Ruth an ihrer Mutter und ihrem Vater sah, waren Schmerz und Schock. Sie standen noch immer unter Schock, so als könne keiner von beiden wirklich glauben, was sie durchlebt hatten. Ruth sah auch die Schuldgefühle ihrer Eltern. Schuldgefühle ob des eigenen Überlebens.“

Der über 90jährige Vater verarbeitet die Reise nach Polen jedoch weitaus besser als Ruth alias Lily selbst. Sogar für das amouröse Anbändeln mit einer drallen, blonden 60jährigen findet Edek Zeit. Die Geschichte wird in „Chupze“ fortgesetzt – gegen den Widerstand der Tochter, die allmählich angesichts der Lebenslust und Tatfreude der älteren Generation jedoch auf den Boden kommt, eröffnet Edek mit seiner neuen Liebe ein Klops-Restaurant.

„Anderer Leute Väter sind immer in Ordnung“, sagte Ruth. „Außerdem kann ich kein rohes Fleisch essen. Es erinnert mich an brennendes Fleisch.“
„Werd endlich erwachsen!“ Sonja wurde beinahe laut. „Deine Eltern waren in Auschwitz, na und? Meine Mutter war in Theresienstadt, und ich kann gebackenes Hirn essen, geschmorte Nieren, gehackte Leber und alle möglichen Beine, Köpfe, Hälse und Füße. Du kannst nicht so auf den Holocaust fixiert bleiben.“

Nicht alles jedoch lässt sich von jedem gleichermaßen abschütteln, verarbeiten. Wie Interviews mit Lily Brett zeigen – die mittlerweile 71jährige Autorin, sie schreibt und schreibt erneut um dieses Thema herum, umkreist es, will es vielleicht von sich wegschreiben. Doch nirgends mehr so klar und karg wie in den „Auschwitz Poems“.

Die Bücher von Lily Brett erscheinen in deutscher Übersetzung beim Suhrkamp Verlag:
http://www.suhrkamp.de/autoren/lily_brett_580.html

Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Aharon Appelfeld: Geschichte eines Lebens

Die Bücher von Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka, die als Kinder den Nazi-Terror erlebten, zeigen, wie wichtig es ist, über diese Vergangenheit zu sprechen.

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Bild von Dariusz Staniszewski auf Pixabay

„Damals baute das Vergessen sich seine tiefen Keller, und die nahmen wir später mit nach Israel. (…)
Dieses Buch ist keine Zusammenfassung, sondern eher der – wenn man so will – verzweifelte Versuch, die verschiedenen Teile meines Lebens wieder mit einer Wurzel zu verbinden, aus der sie erwachsen sind.“

Aharon Appelfeld, „Geschichte eines Lebens“, 1999

„Für mich endete diese Reise als etwas, das eigentlich niemals in der Freiheit ankam. Ich blieb in jener Metropole, ein Gefangener jener Metropole, dieses unabänderlichen großen Gesetzes, das keinen Platz ließ für eine Rettung, für eine Verletzung dieser fürchterlichen „Gerechtigkeit“, der zufolge Auschwitz immer Auschwitz bleiben muss. So blieb mir das unabänderliche Gesetz erhalten, und ich blieb in ihm gefangen (…).“

Otto Dov Kulka, „Landschaften der Metropole des Todes“, 2013

In einer Zeit, in der es möglich ist, den Überdruss an der Erinnerungsarbeit an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte und des jüdischen Volkes öffentlich zu formulieren, in einer Zeit, in der Gedenken mancherorts zur bloßen Form und Formel erstarrt, in dieser Zeit ringen die Opfer dennoch immer noch um ihre Sprache, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Würde.

Mag mancher sich von der scheinbaren „Monotonie des Grauens“ abwenden, uninteressiert oder überdrüssig, so möchte man jenen die Zeugnisse derer geben, die die Hölle der Vernichtung überlebten: Für das Individuum gibt es keine Monotonie im Grauen, die Grausamkeit führte stets zur individuellen Zer- oder Verstörung. Zu den literarischen Zeugnissen trugen Imre Kertész, Jorge Semprun, Louis Begley, Primo Levi und viele andere bei. Doch Schreiben ist hier mehr als das Wenden an die Außenwelt, als öffentliche Erinnerungsarbeit– es ist vor allem Schreiben, um die Autonomie über das eigene Leben nach der Versklavung wiederzuerlangen.

Eindrucksvoll deutlich machen dies die Bücher zweier Autoren, die bereits als Kinder in die Maschinerie des Todes gerieten: Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka. Beide konnten entrinnen – um einen hohen Preis.

Elternlos, heimatlos, sprachlos.

Otto Dov Kulka

Otto Dov Kulka musste fast 80 Jahre alt werden, bis er die Geschichte einer Kindheit, die in Theresienstadt zu Ende ging, in Sprache festhalten konnte. Seine nun erschienenen „Landschaften der Metropole des Todes – Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und Vorstellungskraft“ sind ein eindrückliches Ringen – das Ringen um die Sprache, die das Unsagbare erfassen kann, das Ringen um die eigene Geschichte. „Auf der Suche nach Geschichte und Gedächtnis“ ist ein Kapitel überschrieben: Zentral in seinem Lebenswerk sei die historische, wissenschaftliche Forschung zu Fragen des Holocaust gewesen, ein Mittel, biografische Elemente auszuklammern, die Distanz zu wahren. Aber es gelingt nicht, die Vergangenheit unter Verschluss zu halten, Auszüge aus den Tagebüchern und festgehaltene Träume verdeutlichen dies.

Die entsetzliche Stille in Auschwitz

Die Erinnerung bricht sich Bahn – und dabei sind nicht prägend Szenen haltloser Gewalt. Ergreifender ist das, was Kulka aus seinem Gedächtnis als die Erfahrungen eines Kindes herausholt: Der blaue Himmel mit Silberstreifen über dem Todeslager, „die große Stummheit, die entsetzliche Stille“, die über Auschwitz während einer Hinrichtung lastet, der Kinderchor, der unweit der Krematorien die „Ode an die Freude“ einstudiert:

„Wenn ich die Welt von Auschwitz und ihre Realität betrachte – als Junge von zehn Jahren habe ich diese scharfe, brutale, zerstörerische Dissonanz und Pein wohl nicht gespürt, die jeder erwachsene Häftling erlebte, der aus seiner Welt der Kultur mit ihren Normen der Grausamkeit und des Todes geworfen wurde. Diese Konfrontation, die jeder Häftling, der am Leben blieb, durchlebte und die fast immer einen Teil des Schocks ausmachte, der ihn oft schon nach kurzer Zeit niederstreckte – sie existierte für mich nicht. Denn das war die erste Welt und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektionen und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert.“

Das Gesetz des „Großen Todes“ als kindliche Urerfahrung – dem zu entkommen, „damit zu ringen, mit der hoffnungslosen Aussichtslosigkeit, und sich dennoch verzweifelt zu bemühen, ihm zu entkommen, wie ich es dort versucht habe, war eine prägende Erfahrung.“ Und dem zu entkommen, einen Abschluss zu finden, dafür scheint auch Kulkas Buch geschrieben worden zu sein.

Aharon Appelfeld

Aharon Appelfeld klammert die Lagererfahrung in seiner „Geschichte eines Lebens“ dagegen bewusst aus. Ein Entkommen und ein Wiederfinden der Kindheit davor, die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, das Wiederfinden der Sprache als Heimat – das sind die Themen,  mittels derer die beiden Autoren nebst ihrer vergleichbaren Biographie, sich intensiv berühren. Auch Appelfeld, der sich als Literat jahrzehntelang mit der Shoah auseinandersetzte, braucht lange, um zu seiner eigenen Geschichte zu gelangen.

„Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind bereits über fünfzig Jahre vergangen. Vieles habe ich vergessen, vor allem Orte, Daten und die Namen von Menschen, und dennoch spüre ich diese Zeit mit meinem ganzen Körper. Immer wenn es regnet, wenn es kalt wird oder stürmt, kehre ich ins Ghetto zurück, ins Lager oder in die Wälder, in denen ich so lange Zeit verbracht habe. Die Erinnerung hat im Körper anscheinend lange Wurzeln. Manchmal genügt der Geruch von gammeligen Stroh oder ein Vogelschrei, um mich weit weg und tief in mich hineinzuschleudern.“

Das Jiddische ist die Sprache der Heimat

Appelfeld erzählt in nüchternem, aber deshalb auch umso anrührenderem Ton die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben lang versucht, eine Sprache zu finden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Sprache der geliebten Mutter ist die Sprache ihrer Mörder. Das Jiddische ist die Sprache der Großeltern, das in Israel als rückständig abgelehnt wird. Ruthenisch, rumänisch, deutsch, jiddisch – die Vielsprachigkeit seiner Heimat, sie droht verloren zu gehen, während das Hebräische ihm nicht zuwächst.

Der Verlust der Worte, das Ringen um sie – das ist auch das Ringen um die innere und äußere Heimat. Das Buch endet bezeichnenderweise mit der Auflösung des Clubs „Das neue Leben“, der 1950 von Überlebenden aus Galizien und Bukowina in Jerusalem gegründet worden war. In der neuen Zeit hat das alte Leben keinen Platz mehr – ein melancholischer Fingerzeig auf den Niedergang einer ganz eigenen Kultur. Appelfeld stammte aus Czernowitz – jener rumänischen Stadt, in der das geistige Leben, vor allem aber die jüdische Kultur ein blühendes Leben erlangte. Paul Celan, Rose Ausländer, Klara Blum – nur einige der Schriftsteller, die mit dieser Stadt verbunden sind.

Begegnung mit Samuel Agnon

Die Wörter können Vergangenes weder zurückholen noch ungeschehen machen. Appelfeld bleibt skeptisch, was die der Sprache zugeschriebene Heilkraft betrifft. Aber – auch geprägt durch die  Begegnung mit Samuel Agnon (1888-1970) – wird sie nicht nur zum Mittel, um das Stammesgedächtnis zu erhalten, eine für ihn denkbare Definition des Schriftstellers. Sondern auch, um das Schweigen zu überwinden:

„Mein Schreiben begann mit einem starken Hinken. Die Erlebnisse des Krieges lasteten auf mir, und ich wollte sie weiter überwinden. Über meinem bisherigen Leben wollte ich ein neues erbauen. Es brauchte Jahre, bis ich zu mir zurückkehrte, und als es soweit war, hatte ich noch einen langen Weg vor mir. Wie gibt man diesem brennenden Inhalt Form? Wo anfangen? Wie die Teile zusammenfügen? Und mit welchen Worten?“.

Otto Dov Kulka und Aharon Appelfeld: Es ist gut, dass sie ihre Sprache wieder gefunden haben.

Otto Dov Kulka, geb. 1933 in der Tschechoslowakei, kommt mit seiner Mutter zunächst nach Theresienstadt, 1943 in das sogenannte Familienlager nach Auschwitz-Birkenau. Dort trifft er wieder mit seinem Vater Erich zusammen. Die beiden Männer überleben. Seit 1949 lebt Kulka in Israel und widmet sich der Geschichtsforschung. Er ist emeritierter Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er wird am 18. November 2013 mit dem Geschwister-Scholl-Preis in München ausgezeichnet.

Otto Dov Kulka
Landschaften der Metropole des Todes
Deutsche Verlagsanstalt DVA, 2013
ISBN 978-3-421-04593-5

Aharon Appelfeld, geb. 1932 bei Czernowitz (heute Ukraine), verliert beide Eltern im Holocaust. Ihm gelingt die Flucht aus einem Lager, er schlägt sich auf Bauernhöfen und im Wald durch. Seit 1946 lebt er in Israel. Er ist emeritierter Professor für hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba.

Aharon Appelfeld
Geschichte eines Lebens
rororo-Taschenbuch, 1999
ISBN 978-3-499-24247-2

Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz

1943 wird der Dichter Borowski verhaftet. Er wird Häftling Nummer 119 198 in Auschwitz. Die Bilder aus dem Lager wird er nie wieder los.

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Bild von Dimitris Vetsikas auf Pixabay

„Ich schaue sie mir an. Vor mir steht ein Mädchen mit wunderschönem hellen Haar, mit hübschen Brüsten unter einem sommerlichen Batistblüschen, mit einem klugen, reifen Blick. Sie steht da, schaut mir direkt in die Augen und wartet. Was soll ich ihr sagen? Daß dort die Gaskammer ist: der gemeinsame Tod, widerlich und häßlich? Und dort das Lager: der Kopf kahlgeschoren, bei der Hitze in einer wattierten sowjetischen Hose, der widerliche, übelkeiterregende Geruch des schmutzigen, erhitzten Frauenkörpers, der tierische Hunger, die unmenschliche Arbeit und dann doch die gleiche Gaskammer, nur ist der Tod dann noch widerlicher, noch häßlicher, noch schrecklicher. Wer hier einmal hineingeraten ist, den bringt nichts, nicht einmal seine eigene Asche, an der Postenkette vorbei nach draußen, der kehrt nicht mehr in das Leben draußen zurück.“

Tadeusz Borowski, „Bei uns in Auschwitz“, Erzählungen, 1946 – 1951

1943 wird der junge polnische Dichter Borowski, der in Warschau im Untergrund agitierte, verhaftet. Er wird Häftling Nummer 119 198 in Auschwitz, überlebt und durchleidet noch weitere Stationen bis hin zur Befreiung in Dachau. So wenig wie die Tätowierung, so wenig wird er in der Nachkriegszeit jedoch die Bilder aus dem Lager los. In wenigen Jahren entstehen etwa 25 Erzählungen, Versuche, das Grauen in Worte zu fassen, auch Versuche, mit oder trotz der Bilder weiterzuleben. Der Versuch misslingt: 1951 nimmt Borowski, gerade 28 Jahre alt, sich das Leben.

Er konnte nicht mit ihnen leben, mit diesen Bildern,

„die mich hartnäckig verfolgen, daß ich in meiner Erinnerung zum Beispiel noch immer die Schreie dieser Menschen, das Gewimmer der Kinder und das feige, unterwürfige Schweigen der Männer höre, daß ich zuweilen, als wäre es Wirklichkeit, den unerträglichen, sich mit Schweiß vermengenden Modergeruch von Menstruationsblut verspüre oder den nassen, fetten Gestank brennender Menschen (…)”

die er, so früh wie kein anderer und so intensiv wie kein zweiter, dennoch in Worte zu fassen versuchte. Die Erzählungen, die um die Lagererlebnisse, das Leben in Warschau während der Besatzungszeit und um die Rückkehr in eine „steinerne Welt“, in das „wirkliche“ Leben kreisen, sie sind, so Imre Kertész, „klare, selbstquälerisch gnadenlose Erzählungen.“ Sie halten in einem fast schon dokumentarisch-distanzierten Stil fest, was geschah – auch für den ungarischen Literaturnobelpreisträger Kertész waren sie eine wichtige Quelle der Erinnerung, wie er in seiner Rede in Stockholm betonte:

“Doch wie viele Berichte, Aussagen, Erinnerungen von Überlebenden ich auch las, sie stimmten fast sämtlich darin überein, daß alles sehr schnell und unübersichtlich abgelaufen sei: Die Waggontüren wurden aufgerissen, sie vernahmen Gebrüll und Hundegebell, die Frauen und Männer wurden voneinander getrennt, in diesem wilden Durcheinander gelangten sie vor einen Offizier, der sie mit einem raschen Blick in Augenschein nahm und mit ausgestrecktem Arm auf etwas zeigte, und kurz darauf fanden sie sich in Häftlingskleidung wieder.

Ich hatte diese zwanzig Minuten anders in Erinnerung. Nach authentischen Quellen suchend, las ich zum ersten Mal die klaren, selbstquälerisch gnadenlosen Erzählungen Tadeusz Borowskis, darunter „Bitte, die Herrschaften zum Gas!”.”

Das System machte Opfer zu Tätern

Borowski schildert die alltäglichen Grausamkeiten, deren Zeuge er wurde, beinahe nebensächlich und lapidar. Er zeigt auf, wie perfide die Lagerorganisation war, die aus Opfern zugleich auch Täter machte – Menschen, die um einer Brotrinde willen, Freunde verraten, Mütter, die an der Rampe ihre Kinder verleugnen, um dem Gas zu entgehen, Häftlinge, die andere Häftlinge quälen, erniedrigen, töten. Er erzählt von Menschen, die, um nicht zu verhungern, zu Kannibalen werden. Er erzählt von jenen, die in den Gaskammern arbeiten und beinahe stolz darüber berichten, wie sie es einrichten, dass Menschen besser brennen. Er erzählt davon, wie jeder um sein bisschen Leben kämpft, wie Werte aus der alten Welt – Freundschaft, Mitleid, Solidarität – zu einer teuren Münze werden:

„Im Lager herrscht nämlich eine neidvolle Gerechtigkeit: Wenn ein Reicher fällt, sorgen die Freunde dafür, daß er möglichst tief fällt.“

„Es ist ein Gesetz des Lagers, daß die Menschen, die in den Tod gehen, bis zum letzten Moment getäuscht werden. Das ist die einzige zulässige Form von Mitleid.“

Man bleibt fassungslos zurück

Nur ab und an durchbricht Borowski die scheinbar moralische Indifferenz in seinen Erzählungen: Immer wieder dann, wenn die Frage aufbricht, nach dem „Warum?“, wenn die eigene Ohnmacht und die seiner Mitleidenden deutlich hervortritt. Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit machen sich Raum:

„Einmal kehrten wir mit den Kommandos ins Lager zurück. Ein Orchester spielte im Takt der marschierenden Trupps. Dann kamen die Leute von den DAW und Dutzende anderer Kommandos und warteten vor dem Tor: zehntausend Mann. In dem Moment kamen Lastwagen vom FKL herangerollt, vollgeladen mit nackten Frauen. Sie streckten die Arme aus und riefen:
„Rettet uns! Wir fahren ins Gas! Rettet uns!“
Und sie fuhren an uns vorbei, an zehntausend schweigenden Männern. Nicht einer rührte sich, nicht eine Hand hob sich.
Denn die Lebenden haben stets recht gegen die Toten.“

In der Erzählung „Wir waren in Auschwitz“ schreibt Borowski an seine Verlobte und spätere Ehefrau über sich selbst reflektierend: “Du hast gesagt, der Tadeusz sei ein fröhlicher Kerl, aber er schreibt nur von bedrückenden Dingen.”

Das Lager, auch wenn man vom Überleben träumt, noch Überlebenswillen hat – “nach dem Krieg, wenn ich ihn überlebe, möchte ich in einem hohen Haus mit Fenstern aufs Feld wohnen” – veränderte jeden fundamental, tötete bei vielen Überlebenden die Fröhlichkeit, die Lebenslust, die Lebensfähigkeit ab. Auch Borowski konnte mit dem Schreiben nicht gegen das Erlebte angehen, auch solche Sätze halfen nichts:

„Und wenn man uns auch nur den Körper auf der Spitalspritsche gelassen hat, so bleiben uns doch unsere Gedanken und Gefühle. Und ich glaube, daß die Würde des Menschen auf seinen Gedanken und Gefühlen beruht.“

„Bei uns in Auschwitz“ wurde von der „Zeit“ in deren Kanon der wichtigsten Bücher der europäischen Nachkriegsliteratur aufgenommen. In ihrem Beitrag dazu schreibt Katarina Bader:

„Borowski zwingt uns, in Abgründe der menschlichen Psyche zu blicken: Mitgefühl ist situationsbedingt, jeder Mensch kann zur Waffe gemacht werden. Nach dem Krieg wurde der Autor von katholischer Kirche und Kommunisten gleichermaßen als Zyniker kritisiert. Aber ein Zyniker war Borowski nicht. Er war einer, der seines Glaubens an die Empathiefähigkeit der Menschen brutal beraubt worden war, einer, der mutig genug war, den Verlust dieses Glaubens zu bekennen, und zugleich einer, der zu idealistisch war, um ohne diesen Glauben leben zu können: 1951 nahm er sich im Alter von 28 Jahren mithilfe von Gas das Leben. Damit ging nicht nur ein wichtiger Zeuge verloren, sondern auch ein literarisches Genie, dessen Werk nicht genug Beachtung erhalten kann.“