Mit „Die Ungleichzeitigen“ legt der Freiburger Schriftsteller Philipp Brotz einen Roman vor, der von Heimatverlust und Einsamkeit, aber auch von Selbstfindung, neuen Perspektiven und dazu gewonnener Toleranz erzählt. Ein Buch am Puls der Zeit: Denn ein wenig Hagen steckt vielleicht in uns allen, wenn es uns, je nach Lebenssituation schwerfällt, Veränderungen zu akzeptieren und offen zu sein für andere Kulturen, Lebensweisen, Menschen.
Am Beginn und am Ende dieses Romans stehen je eine Taxifahrt, die für den Protagonisten ein neues Lebenskapitel eröffnen. Hagen, Anfang 30, ein gescheiterter Student, kehrt in seinen Heimatort in den Schwarzwald zurück. Er bezieht das Haus seiner Eltern, die bei einem Autounfall verunglückt sind und versucht sich gewissermaßen wieder in seiner Kindheit einzurichten. In Berlin ist er nie heimisch geworden und nun will er, der jahrelang zum überkorrekten Vater keinen Kontakt mehr hatte, Erinnerungen an eine vermeintlich bessere Zeit zurückholen.
Doch auch in Löwenau – der fiktive Ortsname steht für vergleichbare Dörfer im Schwarzwald, wo alles noch überschaubar zu sein scheint – ist die Zeit nicht stehen geblieben. Dass im Dorf Flüchtlinge leben, für deren Wohncontainer sein Lieblingswald abgeholzt wird, wühlt den Einzelgänger, der ohne berufliche Perspektiven und ohne Beziehungen und Freundschaften lebt, auf. Die diffuse Wut auf die „Fremden“ lenkt ihn vom eigenen Lebensversagen ab. Dass er am Ende mit der Jesidin Adana in einem Taxi sitzt, das die beiden zu einem Flug in den Irak bringen wird, ist da bei weitem nicht absehbar. Doch Hagen, der aus einer verrückten Idee heraus sein Erbe bei Online-Börsenspekulationen aufs Spiel setzt, wird gezwungen, mit einigen Asylbewerbern eine Wohngemeinschaft einzugehen – und es zeigt sich, dass man nur das fürchtet, was man nicht kennt.
Mit „Die Ungleichzeitigen“ legt der Freiburger Schriftsteller Philipp Brotz einen Roman vor, der von Heimatverlust und Einsamkeit, aber auch von Selbstfindung, neuen Perspektiven und dazu gewonnener Toleranz erzählt. Ein Buch am Puls der Zeit: Denn ein wenig Hagen steckt vielleicht in uns allen, wenn es uns, je nach Lebenssituation schwerfällt, Veränderungen zu akzeptieren und offen zu sein für andere Kulturen, Lebensweisen, Menschen.
Zum Autor:
Philipp Brotz, geboren 1982 in Calw/Schwarzwald. Wehrersatzdienst in New York, USA, dann Studium der Germanistik und Romanistik in Berlin, anschließend der Politik- und Wirtschaftswissenschaft in Freiburg im Breisgau. Heute Gymnasiallehrer in Freiburg und Moderator beim Werkstattgespräch des dortigen Literaturhauses. Für seine Prosa mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Schwäbischen Literaturpreis, dem Jurypreis beim Wiener Book-Slam und dem Nora-Pfeffer-Literaturpreis. Stipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg für den Roman „Termitenkönigin“.
Bild: Rebecca Rösch
Zum Buch:
Philipp Brotz Die Ungleichzeitigen Roman Gebunden mit Lesebändchen, 320 Seiten, 24,00 € 8 grad verlag, Freiburg, 2023 ISBN: 978-3-910228-12-2 ISBN EPUB: 978-3-910228-24-5
Für die Schriftstellerin Sibylle Schleicher ist “Transit” ein Roman, den sie immer wieder liest. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen. Ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt. Ein Beitrag in der Reihe #MeinKlassiker.
Die Schauspielerin, Sängerin, Lyrikerin, Theater- und Romanautorin Sibylle Schleicher nennt sich selbst eine Fünfkämpferin, ist sie doch in Schielleiten, in einer Bundessportschule Österreichs, geboren.
Zuletzt erschien von ihr im Chronos Verlag das Stück: ‚In einem kühlen Grunde‘ – eine schwarze Komödie, die im Theater im Turm in Regensburg im April uraufgeführt wurde. Ihr letzter Roman „Die Puppenspielerin“, der im Alfred Kröner Verlag im Herbst 2021 erschienen ist, wurde im Dezember 2022 als Bühnenadaption in der Theaterei Herrlingen uraufgeführt. Mit Olivera Stosic-Rakic hat sie die künstlerische Leitung des Literaturprogramms beim Internationalen Donaufest 2024 inne.
Und trotz ihrer zahlreichen kreativen Verpflichtungen ist Sibylle Schleicher, die bei Ulm lebt, immer auch gesellschaftlich engagiert. So ist sie als Ehrenmitglied des Stiftungsrats: ‚Stiftung Erinnerung‘ kreativ für das Dokumentationszentrum Ulm tätig, aktiv für Theaterprojekte im professionell integrativen Theater Heyoka (Ulm) und engagiert sich ehrenamtlich für Asylsuchende.
Ihr Klassiker hat mit letzterem zu tun: „Transit“ von Anna Seghers – dies zeigt auch die Verfilmung durch Christian Petzold aus dem Jahr 2018 – ist (leider) zeitlos und aktuell. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen – ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt.
Ein Gastbeitrag von Sibylle Schleicher
„Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern.“
Juni 2023. Griechenland. Am frühen Mittwochmorgen kentert ein hoffnungslos überladenes Flüchtlingsboot westlich der Halbinsel Peloponnes. Hunderte Männer auf dem Deck, Frauen und Kinder unter Deck – an die 750 Insassen. Menschen wurden gerettet, Leichen wurden geborgen. Es war das bisher schwerste Bootsunglück vor der griechischen Küste, sagt die Internationale Organisation für Migration. Einmal mehr geht der Streit um Schuld und Verantwortung los. Einmal mehr in diesen vergangenen Jahren. Und die, die gerettet worden sind, werden erfahren, wie wenig Chancen sie auf Asyl haben.
In der Woche davor höre ich im Radio Diskussionen um das Screening-Verfahren an den Außengrenzen. Nach wie vor geht es um Grenzsicherung und nicht um die Menschenrechte der schutzsuchenden Menschen. Das Screening bestimmt, welches Asylverfahren die geflüchteten Menschen bekommen. Sie selbst haben keine Rechtsmittel zur Verfügung. Sie zählen als ‚nicht eingereist‘, obwohl sie bereits eingereist sind. Sie sind gezwungen, in den Massenlagern an den Außengrenzen auf weitere Verfügungen zu warten. Illegale Pushbacks, bei denen die Schutzsuchenden gewaltsam an den Grenzen abgewiesen werden, sind an der Tagesordnung. Hinter all den statistischen Fakten und politischen Diskussionen stehen individuelle Schicksale, steht eine eigene Geschichte. Oft bleibt sie unerzählt. Nicht nur, weil die Betroffenen nicht fähig sind, darüber zu reden, auch, weil es an Zuhörern fehlt. Dabei würden uns diese Geschichten helfen, mehr zu verstehen, auch zu begreifen, wo unser Handeln ansetzen kann. Und immer wieder denke ich an Anna Seghers‘ ‚Transit‘.
„Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.“
Winter 1940/41. Marseille. Flüchtlinge aus allen Ländern Europas treffen zu Tausenden in dieser Hafenstadt ein, um eine Schiffspassage irgendwohin zu ergattern, auf einem Schiff, das sie aus dem brennenden Europa der Nazis wegbringt. Unter ihnen der Ich-Erzähler, dessen wirklichen Namen wir nicht erfahren.
„Transit“ beginnt mit dem Ausgang der Geschichte. Der Ich-Erzähler hat erfahren, dass die „Montreal“ auf eine Mine lief und zwischen Dakar und Martinique untergegangen ist. Er sitzt in einer Pizzeria und lädt einen Gast auf Pizza und Rosé ein, um sich dessen Zuhörerschaft zu sichern. Er möchte „alles einmal von Anfang an erzählen.“ Wie er 1937 aus dem Konzentrationslager geflohen und über den Rhein geschwommen ist, wie ihn die Franzosen ohne Papiere in ein Arbeitslager bei Rouen internierten, wie er wieder entkommen konnte und 1940 in Paris landete. Die Deutschen marschierten gerade in Frankreich ein. Er lebt vorübergehend bei Freunden, der Familie Binnet. Durch einen Zufall gelangt er an den Koffer des toten Schriftstellers Weidel und verspricht, diese karge Hinterlassenschaft bei den Verwandten des Toten abzugeben. Das gelingt nicht und ehe er eine Lösung dafür findet, ist er wieder auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Mit einem auf den Namen Seidler gefälschten Pass verschlägt es ihn mitsamt Koffer, dessen Inhalt er mittlerweile genau kennt, nach Marseille.
Dort hat er Verbindung zur weiteren Binnet-Verwandtschaft und dort lernt andere Emigranten kennen, die alle nur so schnell wie möglich auswandern wollen. Es ist ein Hetzen nach den richtigen Papieren durch ein Labyrinth von Behörden. Dem neuen Seidler jedoch gefällt es in Marseille. Er würde gerne bleiben. Aber auch das ist nicht so einfach erlaubt. Bei einem weiteren Versuch, Weidels Koffer auf dem mexikanischen Konsulat abzugeben, hält man ihn selbst für Weidel, der um eine Ausreisegenehmigung ansucht. Er klärt den Irrtum nicht auf. Nimmt vielmehr Weidels Identität an. Während der eisigen Wintertage, in denen er seine Abreise vorbereitet, lernt er Marie kennen. Eine Frau, die mit einem Arzt zusammenlebt, gleichzeitig aber auf der Suche nach ihrem Mann rastlos durch die Cafés der Stadt streift. Seidler, mittlerweile Weidel, verliebt sich in sie und auch als er begreift, dass sie die Frau des Toten ist, zögert er zu lange, sie über das Schicksal ihres Mannes aufzuklären. Durch glückliche Fügungen erhält er eine Passage nach Übersee. Doch er gibt sie zurück. Er bleibt im Land. Marie hingegen kann er zur Ausreise mit dem Arzt auf der „Montreal“ bewegen. Die beiden kommen auf dem Weg in die erhoffte Freiheit ums Leben.
Transit steht bei Anna Seghers nicht nur für das Durchreisevisum. Transit steht für ein ganzes Durchgangsstadium verbunden mit einem ständigen Auf und Ab zwischen Hoffnung und Todesangst, verbunden mit dem Verlust von Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zu namenlosem Gesindel, das jederzeit herumgeschoben werden darf. Ihr Wert misst sich an ihren Papieren und ihrem Geld.
Anna Seghers, die selbst 1940 als jüdische Kommunistin mit ihren Kindern aus Paris flüchtet und 1941 in Mexiko landet, beschreibt nicht nur das einzelne Schicksal von Flucht und Exil des Ich-Erzählers. Sie greift viele Geschichten auf, flicht sie in den Roman ein, indem sie dem Protagonisten erzählt werden. Er, der in dieser Durchgangsphase keine eigene Identität mehr hat, sondern nur eine gefälschte und eine geliehene/gestohlene, bleibt dadurch trotzdem authentisch, auf dem Boden der Tatsachen, bei sich und gleichzeitig mitfühlend bei den anderen, noch fähig zu zuhören und mit zu leiden. Er hat Glück, dass er so etwas wie einen Familienanschluss bei den Binnets hat. Die soziale Wärme erdet ihn, lässt ihn seine Flucht reflektieren. Seghers bezieht mit der Familie Binnet das gewöhnliche Leben inmitten dieses chaotischen Treibens ein, lässt ahnen, wie es sein könnte, wenn alle Flüchtlinge Anschluss zu ansässigen Familien hätten. Sie beschreibt aber gerade durch diese beinahe freundschaftliche Vertrautheit auch die Einsamkeit und Fremdheit derer, die nur auswandern wollen, sich an nichts binden, weil sie ohnehin nicht bleiben. Es ist eine Welt, in der es keinen richtigen oder falschen Weg gibt. Nichts ist im Voraus berechenbar. Die rettende Schiffspassage kann einen auch in den Tod führen.
Mit ihrer direkten und klaren Sprache nimmt Anna Seghers uns unmittelbar mit in eine starke Bilderwelt. Der Leser ist quasi Gast des Erzählers in der Pizzeria, erlebt seine zermürbende Odyssee durch Städte und Ämter mit, friert mit ihm im kalten Regen und Wind, bangt mit ihm, dass er seine Papiere zur rechten Zeit bekommt – die Lagerentlassungspapiere, den Pass, das polizeiliche Führungszeugnis, das Ausreisevisum, das Transitvisum, das Einreisevisum usw.– alles in der richtigen Reihenfolge, selbst wenn er weiß, dass es Papiere für einen Toten sind. Und schließlich hofft der Gast auf einen guten Ausgang, nicht nur für den Protagonisten, auch für alle anderen, die durch ihre einzigartigen Lebensgeschichten nahegerückt sind.
„Welchen Zweck sollte das haben, Menschen zurückzuhalten, die sich doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“
Herbst 2017. In einem Dorf bei Ulm. Im Asyl-Café. Die Asylsuchenden aus Afghanistan ducken sich, wenn ein Unbekannter ins Café kommt. Das zermürbende Warten auf endgültige Entscheidungen über ihren Asylantrag, lässt sie nicht schlafen. Sie trauen keinem mehr, reden über Suizid.
Winter 2017. In einem Dorf bei Ulm. Neue Asylsuchende sind angekommen. Aber nicht aus einem anderen Land, nur aus einem Heim in der größeren Stadt. Ein junger Mann aus Ghana erzählt mir seine Geschichte. Seit zweieinhalb Jahren ist er im Land und immer noch ohne Papiere. Sein Haus in Ghana ist drei Mal abgebrannt. Auf dem Weg nach Europa ist das Schlauchboot untergegangen. Er ist einer der wenigen Überlebenden. Das Leben gerettet, die Papiere nicht. „Wer weiß, was an der Geschichte wahr ist“, sagen sie um ihn herum. Er kann nicht beweisen, dass er aus Ghana ist, wird dem Senegal zugeordnet. Er wartet auf den Übersetzer, der seine Sprache für die Ämter bestätigten soll. Inzwischen bewegt sich nichts. Junge Menschen ohne Perspektive, ‚verwarten‘ ihre lebendigsten Jahre.
Warten spielt auch in „Transit“ die nahezu größte Rolle. Warten vor dem Konsulat, in den Cafés, am Kai, im kargen Hotelzimmer. Ein zehrendes Warten, das alle Lebensenergie aus einem herausziehen kann. Warten, in das sich bisweilen Langeweile mischt, vor allem aber Angst und Ungeduld.
„Transit“ ist eine von vielen vergleichbaren Geschichten, die unsere Vergangenheit prägen und sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Eine Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg verankert ist, mit ihm und seinen politischen Auswirkungen zu tun hat, so gesehen eine unzeitgemäße Variante dieses Themas sein könnte. Denn dass das Thema Emigration selbst hochaktuell ist, muss man nicht weiter ausführen. Dass auch heute viel darüber geschrieben wird und wir mit den Schicksalen der Flüchtlinge in allen Medien konfrontiert werden, ist nicht zu bestreiten. Warum also so eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert ausgraben? Einerseits, weil Anna Seghers Sprache uns noch ganz direkt erreicht und ohne Larmoyanz oder Härte zu berühren vermag. Und anderseits, vielleicht gerade weil der Blickwinkel ein anderer ist, weil man sich durch die zeitliche Distanz viel eher Vergleiche anzustellen traut. Man wähnt sich in sicherem Abstand und kann plötzlich die Realität anders zulassen. Man hält es aus, die Nahaufnahmen anzuschauen. Und wie der Ich-Erzähler zu Mitgefühl findet, indem er zuhört, können auch wir zu einer größeren Durchlässigkeit und Empathie den aktuellen Geschehnissen gegenüber gelangen, sie in unser Leben einbeziehen und nicht außen vorlassen.
„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“
Mai 2023. Andau. An der Brücke. Es regnet, leichter Nebel liegt über dem Wasser. Außer uns ist heute keiner da. Das Wetter zu unwirtlich. Die Kälte kriecht unter unsere Jacken. Ich gehe langsam über die Brücke. Unter ihr der Einser Kanal. Im Hinterkopf eine leichte Ahnung, wie es 1956 gewesen sein könnte. Es ist nicht mehr die Brücke, über die mehr als 70.000 Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gekommen sind, weil diese Brücke damals von den sowjetischen Truppen gesprengt wurde, aber viele Zeichen erinnern rundum an die Zeit. Internationale Künstler und Künstlerinnen säumen hier mit ihren Werken im Sinne des historischen Geschehens das Gelände mit ihren Objekten und Skulpturen. Vor und hinter der Brücke stehen Informations– und Gedenktafeln, Grenzsteine, Landesschilder. Im Regen nimmt man all die Zeichen nicht so genau wahr, denkt nur daran, wie sich die Menschenmengen über die Brücke geschoben haben, nachdem sie zuvor schon tagelang auf der Flucht waren. Warten, Chaos und Angst vor der Grenze zum Burgenland. Wie in Anna Seghers ‚Transit‘, denke ich wieder. Nur ganz anders. Aber dann doch nicht anders. Flucht und Migration, ein zeitloses Thema. Menschen fliehen, weil ihr Leben in Gefahr ist, sie fliehen vor Willkür, Gewalt und Zerstörung. Sie fliehen, weil sie Ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil sie Hoffnung haben auf ein besseres Leben. Niemand verlässt ohne einen wichtigen Grund sein zu Hause.
Über das Burgenland wurden die Flüchtlinge unter anderem weiter in die Steiermark gebracht und auf Flüchtlingslager verteilt. 116 Flüchtlingslager verschiedener Größen gab es 1956/57 in der Steiermark. Eines davon war Schloss Schielleiten im Bezirk Hartberg, eine der Bundessportschulen Österreichs. 105 Flüchtlinge fanden dort im Winter 1956 vorübergehend eine Bleibe. Mein Vater war zu dieser Zeit Verwalter dieses Betriebs. Damals sind Freundschaften entstanden, die unser aller Leben bis heute begleiten. Darüber will ich unter anderem in meinem neuen Roman: ‚Die Kinder von Schielleiten‘ (Arbeitstitel) erzählen.
„All diese alten, schönen Städte wimmelten von verwilderten Menschen. Doch es war eine andere Art von Verwilderung, als ich geträumt hatte. Eine Art Stadtbann beherrschte diese Städte, eine Art mittelalterliches Stadtrecht, jede ein anderes. Eine unermüdliche Schar von Beamten war Tag und Nacht unterwegs wie Hundefänger, um verdächtige Menschen aus den durchziehenden Haufen herauszufangen, sie in Stadtgefängnisse einzusperren, woraus sie dann in ein Lager verschleppt wurden, sofern das Lösegeld nicht zur Stelle war oder ein fuchsschlauer Rechtsgelehrter, der bisweilen seinen unmäßigen Lohn für die Befreiung mit dem Hundefänger selbst teilte. Daher gebärdeten sich die Menschen, zumal die ausländischen, um ihre Pässe und ihre Papiere wie um ihr Seelenheil.“
Anna Seghers, „Transit“, 1944
Ich könnte aus diesem Roman so vieles zitieren – und alles wäre hochaktuell. Jedes Zitat weckt Assoziationen zur Jetzt-Zeit. Schiffe voller Flüchtlinge, die sinken. Das Warten in den Städten am Meer auf die nächste Möglichkeit zur Reise. Das Ringen um Papiere, Visen, Aufenthaltsgenehmigungen, die Erlaubnis zur Weiterreise. Flüchtlingsgespräche:
„Welchen Zweck soll das haben, Menschen zurückzuhalten, die doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“
„Mein Sohn, weil sich alle Länder fürchten, daß wir statt durchzuziehen, bleiben wollen. Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, daß man nicht bleiben will.“
Aber vor allem immer auch: Die Ungewissheit, wohin es einen verschlägt. Was werden wird, wenn man überlebt. Was übrigbleibt vom alten Leben. Was mit denen ist, die man verlassen musste.
„Dreimal bin ich geschlagen worden, dreimal gesteinigt, dreimal hab ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht zugebracht in der Tiefe des Meeres, in Gefahr gewesen durch Flüsse, Gefahr in den Städten, Gefahr in der Wüste, Gefahr auf dem Meere.“
„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wußten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“
„Und wenn mein Leben vorerst nichts sein sollte als ein Herumgeschleudertwerden, so wollte ich wenigstens in die schönsten Städte geschleudert werden, in unbekannte Gegenden.“
Anna Seghers hat den Roman in den Winter 1940/41 angesiedelt: Nach der Invasion der Deutschen im Sommer 1940 flüchtet sie mit ihren Kindern aus Paris nach Marseille. Es gelingt ihr, Einreisegenehmigungen für Mexiko zu erhalten: 1941 besteigt sie mit ihrer Familie ein Schiff, dass sie in das rettende Land bringt. 1947 kehrt sie nach Berlin zurück. Ihr Roman „Transit“ ist da bereits in verschiedenen Sprachen erschienen, erstmals 1944 in englischer Sprache. Erst 1948 kommt er auch in deutscher Sprache heraus: Eine bewegende Darstellungen dessen, was Exil und Flucht für den Einzelnen bedeutend kann.
Die Verantwortung der Schriftsteller
Allerdings ging es der Schriftstellerin „um mehr und anderes als um ein dokumentarisches Abbild der Realität jener Zeit“, betont Sonja Hilzinger 1993 in einem Nachwort in einer Ausgabe des Romans im Aufbau Verlag. „In diesem Roman stehen (…) das Schreiben, das Erzählen, die Aufgabe und die Verantwortung des Schriftstellers zur Diskussion.“ An Georg Lukács schreibt Seghers: „Diese Realität der Krisenzeit, der Krieg usw. muß (…) erstens ertragen, es muß ihr ins Auge gesehen und zweitens muß sie gestaltet werden.“
So ist „Transit“ zugleich ein Zeitdokument, das heute wieder an Aktualität gewinnt und eine literarisch anspruchsvolle und bewegende Erzählung. Anna Seghers stellt einen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt, um den eine Vielzahl von anderen Figuren gruppiert ist: Alles Menschen auf der Flucht, Dutzende von Einzelschicksalen, für die das Exil vor allem eines bedeutet – Verlust. Verlust nicht nur in emotionaler und materieller Hinsicht, sondern auch an Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zur Nummer, deren Wert sich an ihren Papieren misst. Sie werden zu Opfern von „Fluchthelfern“, deren Geschäft die Not der anderen ist. Und aus den Opfern werden ebenfalls Täter: Sie lassen, um eines Stempels, einer Möglichkeit willen, andere im Stich, verkaufen und verraten Freunde und Angehörige.
Eine Existenz im Exil
Seghers nutzt wie in das „Das siebte Kreuz“ die Episodentechnik: So gelingt es ihr anhand der einzelnen Protagonisten ein umfassendes Bild der Existenzbedingungen im Exil zu zeichnen, aufzuzeigen, was das bedeuten kann, der Weg in die Emigration. Der immer auch ein Weg der Ent-Menschlichung ist. Wo der Wert eines Menschen an seinen Papieren gemessen wird, wie es Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ zum Ausdruck bringt:
“Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“
Der Identitätsverlust kann noch weiter reichen – wie es Seidler, dem Ich-Erzähler, beinahe geschieht, bis hin zur Auflösung des eigenen Ichs. Seidler, ein antifaschistischer Arbeiter, gelangt in Paris durch Zufall an die Papiere eines toten Schriftstellers, dessen Identität er in Marseille (fast ebenso zufällig) annimmt. In der Hafenstadt verliebt er sich jedoch in Marie – die Frau jenes Schriftstellers, die mit einem anderen Mann auf Papiere und eine Schiffspassage wartet, zugleich jedoch auch auf den verstorbenen ehemaligen Geliebten. Seidler kann letztlich Marie zur Ausreise bewegen – er selbst bleibt zurück, um wenig später zu erfahren, dass das Schiff, auf dem Marie sich befand, im Atlantik versenkt wurde.
Doch, so Sonja Hilziger, der Erzähler lernt, die Transit-Welt und seine Rolle zu durchschauen: „So gelingt es ihm, seine Identität zu bewahren. Transit ist das Zeichen dieser Zeit im umfassenden Sinn; gemeint ist nicht nur das Papier, das Visum, sondern das Transitäre dieser Welt, in der jeder jeden im Stich läßt. Der Erzähler lernt, solidarisch zu handeln; die Grundform dieses sozial-kommunikativen Verhaltens ist das Zuhören.“
Ich wünschte mir, viele Menschen würden dieser Tage Erzählern der Emigration vergangener Tage zuhören.
„Ich aber, ganz elend von dem Transitgeflüster, ich staunte sehr, wenn ich derer gedachte, die in den Flammen der Bombardements und in den rasenden Einschlägen des Blitzkriegs zugrunde gegangen waren, zu Tausenden, zu Hunderttausenden, und viele waren daselbst auch zur Welt gekommen, ganz ohne Kenntnisname der Konsuln. Die waren keine Transitäre gewesen, keine Visenantragsteller. Die waren hier nicht zuständig. Und selbst wenn von diesen Unzuständigen einige sich bis hierher gerettet hatten, an Leib und Seele noch blutend, sich in dieses Haus hier doch noch geflüchtet hatten, was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“
„Aufstand der Fischer von St. Barbara“ (1928).
„Über den Tisch weg sahen die Frauen in den Augen ihrer Männer ganz unten etwas Neues, Festes, Dunkles, wie den Bodensatz in Ausgeleerten Gefäßen.“
Als einer von außen, ein geübter Revolutionär, nach St. Barbara kommt, kommt kurz Hoffnung auf – Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch der Widerstand der Fischer und ihrer Familien, die für eine Reederei mit Monopolstellung für einen Hungerlohn arbeiten, wird gebrochen. Alles bleibt, wie es ist. Und dennoch: Trotz des Scheiterns hinterlässt diese schmale Erzählung den Eindruck einer Kraft, die nicht so schnell gebrochen werden kann.
Die Erzählung ist das erste Buch, mit dem Anna Seghers in die Öffentlichkeit trat. Wenig später erhielt sie für diese in nüchterner, spröder Sprache erzählten Geschichte eines gescheiterten Aufstandes den Kleist-Preis. Von den reaktionären Medien wurden Seghers und Hans Henny Jahn, 1928 Vertrauensmann der Kleist-Stiftung, heftig angegriffen, bei anderen traf sie auf großen Beifall: Mit ihrer Erzählung, die örtlich und historisch unbestimmt bleibt, erfasste sie eine Stimmung, die in der von Krisen geschüttelten Weimarer Republik spürbar war.
Hans Henny Jahn in seiner „Rechenschaft über den Kleistpreis“: „Ein gutes Buch mit knapper und sehr deutlicher Sprache, in dem auch die geringste Figur Leben gewinnt. In dem die Tendenz schwächer ist als die Kraft des Menschlichen. Es ist ein Daseinsvorgang in fast metaphysischer Verklärung. Das nenne ich Kunst.“