William Saroyan: Wo ich herkomme, sind die Leute freundlich

Der Titel dieses 2017 bei dtv erschienenen Erzählbandes verspricht nicht zu viel: In der Tat ist William Sayoran (1908 – 1981), im Gegensatz zu Hemingway, an dem er sich auch in seinen Texten immer wieder ironisch reibt, ein freundlicher, ein menschenfreundlicher Autor.

Es ist immer wieder erstaunlich, welch eine Fülle an großartigen Erzählerinnen und Erzählern das Land über dem großen Teich zu bieten hat. Thomas Zirnbauer von dtv machte mich mit einem Post auf diesen Mann aufmerksam, schon der Buchtitel sprang mich an: „Wo ich herkomme, sind die Leute freundlich“. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich zuvor von dem Pulitzer-Preisträger William Saroyan noch nie etwas gelesen hatte: Ein Versäumnis, wie sich zeigte.

Der Titel dieses 2017 bei dtv erschienenen Erzählbandes verspricht nicht zu viel: In der Tat ist William Saroyan (1908 – 1981), im Gegensatz zu Hemingway, an dem er sich auch in seinen Texten immer wieder ironisch reibt, ein freundlicher, ein menschenfreundlicher Autor. Er erzählt von Ausreißern, Trinkern, Arbeitslosen und Underdogs, tummelt sich in Bars, Billardhallen und auf der Straße. Nicht gerade von der Sonnenseite des Lebens also. Und doch vermag Saroyan seinen Figuren hellen, warmen Glanz zu geben, ohne in das Klischee des „glücklichen Armen“ abzurutschen.

Es ist der Humor, der ganz besondere Witz und eine gute Portion Gelassenheit, die diese Stories prägen. Unendlich köstlich ist beispielsweise die Geschichte vom Pechvogel zu lesen, der beim Glücksspiel 2400 Dollar gewinnt, aus Freundlichkeit einer alten Lady Geld zustecken möchte, deswegen jedoch als Dieb bezeichnet wird und die ganze Aktion beinahe mit dem Leben bezahlt. In „Zweitausendvierhundert Dollar und ein paar Zerquetschte für Freundlichkeit“ fängt der ganze Ärger eben mit dieser Saroyan eingeschriebenen Menschenfreundlichkeit an:

„Er sagte, ganz egal, was man versucht, zum Beispiel freundlich sein, es hätte sowieso keinen Sinn, also könnte man genauso gut spielen. Er sagte: »Es gibt keinen einzigen Menschen auf der Welt, der das Spiel austricksen kann.« Er meinte nicht das Glücksspiel, er meinte das Leben.“

William Saroyan scheint das Tricksen besser gelungen zu sein, bis auf den letzten großen Coup. Kurz vor seinem Tod sagte er zu Journalisten: „Jeder muss sterben, aber ich habe immer geglaubt, in meinem Fall würde eine Ausnahme gemacht. Und was nun?“ Bis dahin führte der Schriftsteller armenischer Abstammung ein erfülltes, auch wildes Leben, einerseits geprägt von Eheskandalen und zu viel Alkohol, andererseits durch unermüdlichen Fleiß, wie Richard Kämmerlings von der Welt in seinem Nachwort zu dem Erzählband schreibt. Kämmerlings betont, wie sehr Sayoran auch literarisch seine Wurzeln als Kind eines armenischen Emigranten pflegt:

„An das Erbe seines Volkes hat Saroyan nicht nur aus Sentimentalität angeknüpft, sondern sicher auch, weil die armenischen Charaktere mit ihrem hintersinnigen, dem jüdischen verwandten Humor, ihrer Erzählfreude und ihrer sophistischen Lebensphilosophie das ideale Medium für sein künstlerisches Projekt waren: Die Zumutungen des Alltags und die Schläge des Schicksals durch ihre Verwandlung in Literatur erträglich zu machen und sogar zu einer quasireligiösen Rechtfertigung des Daseins zu veredeln.“

Das alles kann man auch auf eine einfache Formel bringen: „Wo ich herkomme, sind die Leute freundlich.“

Verlagsinformationen zum Buch: https://www.dtv.de/buch/william-saroyan-wo-ich-herkomme-sind-die-leute-freundlich-14705/

Nellie Bly: Around the World in 72 Days

Nellie Bly war eine mutige, investigative Journalistin. Mit diesem Buch lieferte sie das unterhaltsame Werk einer wahrhaft rasenden Reporterin ab.

P1010207-1024x768
Bild: (c) Michael Flötotto

„Monsieur Verne fragte mich, wie meine Reiseroute verlaufen sollte, und ich, glücklich, dass ich etwas sagen konnte, das er verstand, zählte für ihn auf: „ Meine Route führt von New York nach London, dann Calais, Brindisi, Port Said, Ismailia, Suez, Aden, Colombo, Penang, Singapur, Hongkong, Yokohama, San Francisco, New York.“
„Waum fahren Sie nicht über Bombay, so wie mein Held Phileas Fogg?“, fragte Monsieur Verne.
„Weil ich lieber Zeit spare, als eine junge Witwe zu retten“, antwortete ich.
„Vielleicht retten Sie ja unterwegs einen jungen Witwer“, entgegnete Monsieur Verne lächelnd.“

Nellie Bly, „Around the World in 72 Days“, 1890


Einen jungen Witwer rettet sie tatsächlich nicht, diese rasende Reporterin, aber bei ihrem hektischen Trip um die Welt becirct sie Kapitäne, beschwatzt Botschaftsangestellte und spannt so ziemlich jeden, der ihr auf ihrer Reise begegnet, ein, um ein Ziel zu erreichen: Schneller als der Held aus Jules Vernes Roman den Globus zu umrunden. Anders, als man annehmen möchte, war dies 1890 allerdings nicht mehr ganz so das abenteuerliche Unternehmen wie Jahrzehnte zuvor.

„Von Seekrankheit unterbrochene Diners mit dem Kapitän auf der Atlantiküberfahrt, dysfunktionale Fußwärmer in europäischen Zügen und schlecht geschulte Schlangenbeschwörer in Ceylon (heute: Sri Lanka) bilden die letzten Ärgernisse in einer Welt, in der das Berliner Reisebüro von Carl Stangen bereits seit über zehn Jahren Weltreisen zum Pauschalpreis anbot.“

Erste deutschsprachige Ausgabe

In seinem Vorwort zur ersten deutschsprachigen Ausgabe dieser Reisereportage (übersetzt von Josefine Haubold, erschienen im AvivA Verlag) verdeutlicht Herausgeber Martin Wagner:

„Der Tourist bewegt sich Ende des 19. Jahrhunderts bereits auf ausgetretenen Pfaden.“

So war das eigentlich Sensationelle an diesem Unternehmen, dass es eine junge, 25 Jahre alte, alleinstehende Frau war, die diese Reise antrat: Nur mit einem eigens für den Zweck erworbenen maßgeschneiderten Reisekostüm und einer handlichen Tasche, aber ausgestattet mit den Tantiemen der New Yorker Tageszeitung „The World“. Für die Journalistin, die drei Jahre zuvor mit ihrer Undercover-Reportage „Zehn Tage im Irrenhaus“ bereits für Aufsehen gesorgt hatte, wurde die Weltumrundung zum Coup, bei ihrer Rückkehr nach New York wurde sie gefeiert wie ein Star, mit der Artikelserie, die zur Reise erschien, schnellte die Auflage der Zeitung in die Höhe (wovon Nellie Bly aber nicht unmittelbar profitierte) und das darauffolgende Buch wurde ein Bestseller.

Reportage erinnert an den modernen Tourismus

Diese Reisereportage kann man auch heute durch den „flotten“ journalistischen Stil der Autorin mit großem Vergnügen lesen – man rast mit ihr durch die Kontinente, sich durchaus bewusst machend, dass alle Eindrücke oberflächliche, im Vorbeigehen mitgenommene sind, eine Art des Reisens, die durchaus an den modernen Tourismus erinnert. Ich musste beim Lesen immer wieder an die japanische Reisegruppe denken, der ich einst in einer Pension in Avignon begegnet war – sie saßen an meinem Frühstückstisch und hakten gemeinschaftlich alle Ziele ab, die sie in ihrem Wälzer „Europe in 10 Days“ schon bewältigt hatten: Vorgestern Neuschwanstein „and the Fuckerei“ (die Fuggerei in Augsburg), gestern Paris, heute Avignon, morgen Barcelona. „Europe is wonderful, so nice, but Tokyo is more modern.“

So bringt auch Nellie Bly bei ihrer Reise ihre eigene Landkarte und ihre amerikanischen Maßstäbe mit, an der sie – auch mangels Zeit – das bemisst, was sie an der Oberfläche sieht. Und so gut man sich bei der Lektüre unterhalten kann, so sehr fallen auch zwei Dinge störend ins Gewicht, die die Autorin in ein unsympathischeres Licht stellen: Eine Form von Patriotismus und von Rassismus, die durchaus aufstößt. Erstaunlich, schrieb sie doch zuvor mit so viel Engagement über den unmenschlichen Umgang mit psychisch Kranken – doch einige Jahre später entdeckt man in ihrem Berichten von der anderen Seite der Welt wenig Empathie mit Menschen anderer Rasse. Leprakranke beschreibt sie als ekelerregend, die chinesische Bevölkerung als schmutzig, faul und hinterlistig, die Bewegungen einiger Matrosen erinnern sie an den Affen, den sie währender Reise kauft.

Martin Wagner geht auf diesen Aspekt in seinem Vorwort ausführlich ein:

„Dabei bringen erst die bedauerlich rassistischen Passagen die volle Bedeutung sowohl von Nellie Blys Rekordreise als auch vom Reisen am Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt zu Tage. Die Geschichte des globalisierten Tourismus ist ohne seine kolonialistischen Voraussetzungen und Implikationen nicht verständlich. Der auf Weltreise befindliche Tourist bietet das schwache Abbild des einmarschierenden Imperialisten. In dem Wunsch, die Welt zu bereisen, ist der Anspruch, die Welt zu beherrschen, immer schon mit enthalten.“

Nun, Nellie Bly wollte vor allem die Zeit beherrschen, zumal zur gleichen Zeit die Reporterin Elizabeth Bisland für den „Cosmopolitan“ auf Weltreise gegangen war, eine Konkurrenz, die dem Unternehmen noch mehr Aufmerksamkeit bescherte. Bly gewann das Rennen und den Ruhm. Und hierin, in der Forschheit, dem Wagemut und der Selbstsicherheit, mit der sie ihr Unternehmen durchsetzte und durchzog, liegt auch ihr großer Verdienst. Als erste der sogenannten „girl stunt reporter“, Frauen, die undercover über die Missstände in Fabriken, Gefängnissen, Armenhäusern und anderen Institutionen berichteten, ist Nellie Bly eine weibliche Wegbereiterin des kritischen, aufklärenden Journalismus. Und ihre Reise um die Welt auch ein Akt weiblicher Selbstbestimmung.

Nellie Bly: Unprätentiös und selbstironisch

Die unprätentiöse, selbstironische Art und Weise, wie sie sich im Kontext der Mitreisenden und Menschen, denen sie begegnet, bewegt und beschreibt, gleicht ein wenig die unsympathischeren Züge aus. Dank des Vorworts von Martin Wagner kann man das Buch in seinen geschichtlichen Kontext setzen, die kritischen Passagen entsprechend bewerten und es dennoch als amüsantes, unterhaltsames Zeugnis seiner Zeit lesen. Und bei der ironischen Betrachtung ihrer Reisegenossen fühlt man sich durchaus an eigene Erlebnisse, die man beim Reisen hatte, erinnert:

„Ich kenne mich mit Eseln aus, weil ich einige Zeit in Mexiko gelebt habe, aber viele der Passagiere fanden die Esel durchaus neuartig und wollten unbedingt auf ihnen reiten, bevor sie zum Schiff zurückkehrten. Also saßen alle auf, die ein Reittier finden konnten, und jagten durch das malerische, verschlafene Städtchen. Dabei schrien sie vor Lachen und sprangen wie Gummibälle in ihren Sätteln auf und ab (…).“

Ein Reisebegleiter von mir beliebte einstmals bei einer solchen Szene, deren wir ansichtig wurden, zu sagen: „Da weiß man wirklich nicht, wo der Esel nun aufhört oder anfängt.“


Informationen zum Buch:

Nellie Bly
Around the World in 72 Days
Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts
Martin Wagner (Hg.)
Übersetzt von Josefine Haubold
AvivAVerlag
ISBN 978-3-932338-55-7

Thomas Wolfe: Eine Deutschlandreise

Thomas Wolfe fühlte sich von Deutschland magisch angezogen. Die Berichte seiner sechs Reisen zwischen 1926 und 1936 gleichen den Forschungen eines Ethnologen in einem fremden Land.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Aber Deutschland ist die Heimat des Fremden. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Seit jenen Tagen, da ich es zum ersten Mal betrat, vor acht Jahren, habe ich mich niemals fremd gefühlt. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich habe keine Möglichkeit, dies zu beweisen, aber ich glaube, es muss in dem alten übervölkerten Gehirn der Menschen so etwas wie eine Rassenerinnerung geben.“ (…) So werde ich, ohne dass ich es begründen kann, in diesen beiden Ländern immer vom Geist der Erinnerung gejagt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, aber von dem Augenblick an, da ich dieses Land betrat, vor acht Jahren, habe ich sofort ein Wiedererkennen gespürt.“

Thomas Wolfe, „Eine Deutschlandreise.
Literarische Zeitbilder 1926–1936″


Thomas Wolfe (1900 – 1938), der beinahe 2 Meter große Schriftsteller, wurde von Zeitgenossen oft als riesenhafter Junge (beziehungsweise jungenhafter Riese) beschrieben. Er neigte zum Schwärmen, Ausschweifen, Tagträumen. Dies ist auch an seinen gigantomanischen Romanen, so seinem 1929 erschienenen Debüt „Schau heimwärts, Engel!“ und „Von Zeit und Fluss“ spürbar.

Und so fühlte sich dieser amerikanische Mystiker der literarischen Moderne auch von dem Land, mit dem er väterlicherseits verbunden war, eigenartig angezogen: Von der Freundlichkeit der Menschen, der Ordnung, der Schönheit der Weinberge, von den märchenhaften Wäldern. Sechs Mal besucht Wolfe zwischen 1926 und 1936 Deutschland: Hier fand er mit Ernst Rowohlt einen geeigneten Verleger und erfuhr insbesondere bei seinem letzten Besuch zur Zeit der Olympischen Spiele in Berlin auch, wie es sich anfühlt, eine literarische Berühmtheit zu sein – seine Romane fanden zweitweise in Deutschland mehr Anerkennung als in seiner amerikanischen Heimat.

Die Texte, die während dieser Reise entstanden, versammelt ein Band im Manesse Verlag: Das Buch „Eine Deutschlandreise“ umfasst Tagebuchnotizen, die Listen über die bei den Reisen gekauften Bücher und besuchten Museen, Briefe an seine Geliebte Aline, Postkarten an die Mutter und auch die Novellen – darunter die berühmte vom „Oktoberfest“ – die von Wolfe in und über Deutschland geschrieben wurden.

Prügelei beim Oktoberfest

Gerade die Erzählung vom Oktoberfest zeigt, wie eng biographisches Leben und literarisches Verarbeiten bei diesem Schriftsteller verknüpft waren: Tatsächlich besuchte Wolfe mit dem Sohn seiner Münchner Gastwirtin das seinerzeit schon berühmteste Volksfest der Welt. Dort geriert der starke Trinker nach etlichen Maß Bier in eine heftige Prügelei. In einem Brief an seine damalige Geliebte Aline schildert er das Geschehen unverblümt und mit allen schlimmen Konsequenzen – Wolfe erlitt schwere Kopfverletzungen und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Das blutige Ende seines Volksfestbesuches klammerte er in seiner Erzählung aus, aber andere Erlebnisse seines Oktoberfest-Bummels finden sich im Brief bereits skizziert und fast deckungsgleich in der Erzählung wieder.

Mit dem Blick des Ethnologen

Thomas Wolfe nimmt dabei zeitweise den Blick des Ethnologen ein, der, geprägt von eigenen Vorurteilen (von Beginn an tritt auch der hässliche Deutsche auf, der „Hunne“ mit Stiernacken, der unmäßig isst und trinkt), der fasziniert das Treiben der anderen betrachtet, der versucht, das Fremde zu erforschen:

„Die Wirkung dieser Menschenhorden überall in der riesigen und vernebelten Halle hatte etwas beinahe Übernatürliches und Rituelles: Etwas, das zum Wesen eines Volkes gehörte, war in diesen Horden beschlossen, etwas, so dunkel und seltsam wie Asien, etwas, das älter war als die alten barbarischen Wälder, etwas, das einen Altar umwogt und ein Menschenopfer dargebracht und verbranntes Fleisch verzehrt hatte.“

Trotz diesem Anblick der Massen beim Oktoberfest, bei dem „mir das Herz gefror“ und die in Wolfe Assoziationen zu „blondbezopften“ Kriegshorden hervorrufen, bleibt der Amerikaner, was das „Wesen dieses Tiers“ anbelangt, lange blind: Auch bei seinem letzten Besuch 1936 zeigt er sich unpolitisch und eher fasziniert von der Ordnung und Effizienz der Deutschen. Ganz unverblümt lässt er in seinen Notizen seine eigenen antisemitischen Vorurteilen freien Lauf, schreibt gar darüber, wie wenig Meinungsfreiheit man in seiner Heimat habe, wenn es um dieses Thema ginge. Doch einige Erlebnisse erschüttern ihn, führen zu einem Umdenken.

Reisen durch Nazi-Deutschland

In der 1937 in einer amerikanischen Zeitung veröffentlichten Erzählung („Nun will ich Ihnen was sagen“) schildert er eine Bahnfahrt, bei der kurz vor der Grenze ein Jude verhaftet wird. Herausgeber Oliver Lubrich, der diese Erzählung auch in den Band der „Anderen Bibliothek“, „Reisen ins Reich“, aufnahm, analysiert detailreich in seinem Nachwort, wie sehr diese Erzählung die emotionale Abkehr Wolfes von seiner lang imaginierten Seelenheimat markiert.

„Es war die andere Hälfte meiner Herzensheimat. Es war die dunkle, verlorene Helena, die ich gefunden, es war die dunkle, gefundene Helena, die ich verloren hatte – und jetzt erkannte ich wie nie zuvor das ganze Ausmaß meines Verlusts – das ganze Ausmaß meines Gewinns – den Weg, der mir nun wohl auf immer versperrt sein würde – den Weg des Exils ohne Wiederkehr – und einen neuen Weg, den ich gefunden hatte.“

So ist „Eine Deutschlandreise“ nicht nur für Thomas Wolfe-Leser ein Kompendium, das verdeutlicht, welche Faszination, ja fast schon Hass-Liebe dieser Schriftsteller für Deutschland empfand, sondern auch ein Buch, das einen besonderen Blick auf ein Land kurz vor dessen größter Katastrophe aufzeigt.


Informationen zum Buch:

Thomas Wolfe, Oliver Lubrich (Hrsg.)
Eine Deutschlandreise
Übersetzt von Renate Haen, Irma Wehrli und Barbara von Treskow, mit einem Nachwort von Oliver Lubrich
Manesse Verlag 2020
ISBN: 978-3-7175-2424-3

Malu Halasa: Mutter aller Schweine

Es sind die Frauenfiguren, die dieses Buch prägen: Sie verkörpern Tradition und Rebellion im Jordanien der Gegenwart.

fashion-4688353_1280
Bild von falco auf Pixabay

„Meine Geschwister in Amerika glauben, dass ihre Heimat noch genau so ist wie früher, aber das Gegenteil ist der Fall. Kriege und Revolutionen haben alles verändert. Das gebrochene Versprechen des Arabischen Frühlings ist nur eine weitere schwere Narbe für eine Region mit einer langen Vorgeschichte der Selbstverletzung. Leute wie ich sehnen sich nach was anderem, aber bis das passiert, haben ganz klar die Männer das Sagen.“

Malu Halasa, „Mutter aller Schweine“


Samira, die dieses bittere Fazit zieht, ist eine der Frauen in diesem Roman, die vergeblich auf neue Zeiten im Nahen Osten hofften. Doch sie ist auch eine, die ihr Schicksal in die Hände nimmt: Die junge Jordanierin knüpft Kontakte zu einer Gruppe syrischer Flüchtlingsfrauen, politisiert sich, rebelliert gegen die Umstände und verschwindet am Schluss dieses Buches in einer chaotischen Nacht, in der sich alles zuspitzt, um auf ihre Weise für eine bessere Welt zu kämpfen.

Es sind die Frauenfiguren, die dieses Buch prägen: Laila, die selbstständig wirkende Lehrerin, die von ihrer Ehe enttäuscht ist, Samira, die den Makel „der Ledigen“ vor sich her trägt, ihre Schwiegermutter und Mutter Fadhma, die weiß, wie es ist, nur geduldet zu sein. Die drei sind sich jedoch ähnlicher, als sie es sich selbst eingestehen wollen: Es verbindet sich der Zorn auf die Verhältnisse, der Wunsch, aus den Konventionen und Zwängen ihrer engen Welt auszubrechen.

Malu Halasa: Bekannt durch Sachbücher zum Nahen Osten

Die US-amerikanische Schriftstellerin Malu Halasa, die sich vor allem mit Sachbüchern zu Kultur und Politik des Nahen Ostens einen Namen gemacht hatte, arbeitet in ihrem Romandebüt auch einen Teil ihrer Familiengeschichte auf. Sie kommt als die amerikanische Verwandte – Malus Vater ist der Sohn Fadhmas, ihre Mutter, eine Philippin, die „einzige Ausländerin“ in dem auch in den USA weitverzweigten Familienclan – zu Besuch, mitten hinein in chaotische Zustände.

Denn ihr Onkel Hussein, der einzige Sohn Fadhmas, der in Jordanien blieb, hat sich von seinem gerissenen Onkel Abu Satar, einem gierigen Schwarzmarkthändler, in ein problematisches Geschäft treiben lassen: Der Christ Hussein züchtet Schweine mitten in der Levante – die Muttersau „Umm al-Chanasir“ und ihre Produkte, vor allem die Fleisch- und Wurstwaren, die Hussein vertreibt, sind den rechtgläubigen Muslims ein ziemlich großer Dorn im Auge.

Der Fiedler auf dem Dach

Die Mutter aller Schweine, die sich am liebsten zur Musik von „Der Fiedler auf dem Dach“ bewegt, ist für den Schlachter zunächst jedoch „die Zukunft“. Und so kommt es, dass eine deutsche Maschine namens „Wurstmeister“ in der Levante landet und sich dort unter anderem auch Blutwurst, wenn ihre Pelle türkis eingefärbt ist gegen den bösen Blick, zunächst wie geschnitten Brot verkauft.

Doch das Schweineglück währt nicht lange: Zu angespannt sind die Verhältnisse auch in Jordanien, das in jener Zeit sowohl von syrischen Flüchtlingen als auch von ultrakonservativen muslimischen Strömungen überrollt wird.

Als das Schwein seine eigenen Kinder frisst, ist klar, dass Hussein, der „König der Schweinekoteletts“ abgedankt hat. In einem furiosen Finale stehen sich die verschiedensten politischen und religiösen Gruppen gegenüber, Frauen und Männer, Christen und Muslims – und es wird klar: unter den Konflikten der Region leiden alle gleichermaßen, selbst die Ferkel, die ihren Ställen entkommen, die nahegelegene Stadt überfluten wie eine biblische Plage.

Burleske Einfälle und schwarzer Humor

Malu Halasa erzählt diese Geschichte einer christlich-jordanischen Familie kenntnisreich, gibt Einblicke in die verwirrenden politischen Zustände und in die alles überlebende einzigartige Kultur der Region. Das ist gewürzt mit einer reichlichen Prise schwarzen Humors und etlichen burlesken Einfällen. Dennoch wirkt der Debütroman, der von Sabine Wolf aus dem Englischen übersetzt wurde, nicht ganz rund – etliche Sprünge in der Erzählung, der stete Wechsel der Erzählperspektive und die fehlende Fokussierung auf ein, zwei Hauptfiguren hindern den Lesefluss. Es wird vieles angerissen, was die Psychologie einzelner Protagonisten anbelangt, aber nicht vertieft – dagegen wären die Einschübe aus „Schweineperspektive“ durchaus verzichtbar gewesen.

Aber dennoch ist „Mutter aller Schweine“ eine furiose Darstellung der verwickelten Verhältnisse am Beispiel einer Familie und eine Verbeugung vor den starken Frauen in jenem Teil der Welt.

Ein Videoclip zum Buch findet sich hier.


Informationen zum Buch:

Malu Halasa
Mutter aller Schweine
Übersetzt von Sabine Wolf
Elster & Salis Verlag
Gebunden, Fadenheftung, Schutzumschlag, Lesebändchen
348 Seiten, CHF 25.40
ISBN 978-3-906903-14-9

Jami Attenberg: Nicht mein Ding

Lebensklug, witzig und sarkastisch schreibt Jami Attenberg über das Dasein einer Singlefrau in New York.

statue-of-liberty-984017_1920
Bild von Free-Photos auf Pixabay

„Die Beständigkeit meiner Unbeständigkeit. Sie gehört zu mir, so stehe ich da. Ich stehe vor ihm am Eingang einer U-Bahn-Station und besitze nichts als mich selbst. Ich selbst bin alles, will ich ihm sagen. Doch für ihn heißt das: nichts, denn so nimmt er sich im Augenblick wahr. Er ist allein, also ist er nichts. Wie erkläre ich ihm, dass das, was für ihn gilt, für mich nicht gilt?“

Jami Attenberg, „Nicht mein Ding“


Die größten Feinde einer klugen Frau sind nach Marie von Eber-Eschenbach alle „dummgeborenen“ Männer. Den „Feind“ vor Augen, die Mutter im Rücken: Man könnte ein ganzes Literaturlexikon nur mit Büchern füllen, in denen sich Frauen an beiden Seiten abarbeiten. Einen witzigen, sarkastischen und lebensklugen Beitrag dazu liefert Jami Attenberg mit ihrem Roman „Nicht mein Ding“.

Es ist das vierte ins Deutsche übersetzte Buch der US-Amerikanerin, die sich die Familie zum literarischen Topos erkoren hat. Und so ist auch die Familie der 39-jährigen Singlefrau Andrea auf ihre ganz eigene Weise unglücklich: In Rückblenden erzählt die gescheiterte Kunststudentin von ihrem vergötterten, aber drogensüchtigen und früh verstorbenen Vater, einem Jazzmusiker, von der Mutter, die als Witwe versucht, ihre beiden Kinder durchzubringen, von seltsamen Hausfreunden, die den Teenager sexuell belästigen, vom nicht ganz normalen Chaos einer unorthodoxen jüdischen Familie in New York.

Ein entschiedenes “Ja!” zum Singleleben

Andrea, die ihr Singledasein gegen alle Anfechtungen – von allen Seiten, die Mutter voran, wird sie mit einschlägigen Ratgeberbüchern und Beziehungstipps versorgt – verteidigt, hat einen sarkastisch-abgeklärten Blick auf die Welt:

„Eins weiß ich, jetzt, als Erwachsene: Niemand ist cooler als ein Teenager. Noch in schlimmster Verfassung sind unsere Augen ganz klar, und unser Wissen reicht gerade eben aus, um der Welt mit einer gewissen Gewandtheit zu begegnen (…) Nach unseren Teenagerjahren ist Schluss mit lustig und wir halten alle einfach nur durch bis zum Tod.“

Nun ja, dazwischen passiert denn doch noch eine ganze Menge: Mehr oder weniger verunglückte Dates, scheiternde Beziehungen im Freundeskreis, Zoff im Beruf und mit der Therapeutin. Insbesondere der verbale Schlagabtausch zwischen Andrea und ihrer Mutter bietet intelligente Unterhaltung. Das alles kennt man zwar irgendwie aus der einschlägigen New York-Literatur und von etlichen Filmen. Und doch liest es sich bei Jami Attemberg (in der Übersetzung von Barbara Christ) wieder frisch und originell.


Homepage der Autorin:

http://www.jamiattenberg.com/

Informationen zum Buch:

Jami Attenberg
Schöffling & Co., 2020
224 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, Preis:  22,00 €, [A] 22,70  €
ISBN: 978-3-89561-357-9

Verlagsinformationen mit Leseprobe.