
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…
Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.
Rainer Maria Rilke, Engellieder aus dem Band “Dir zur Feier” (1897/1898).
Als ich dieser Tage diesen Schnappschuss dieser Flügelwesen im Regen machte, kam mir der Halbsatz “Wenn Engel weinen…” in den Sinn. Und wenn ich schon in sentimentaler Stimmung bin, dann ist meist auch Rilke nicht weit. Manche nennen seine Gedichte Kitsch, ich dagegen staune immer wieder, wie man soviel Gefühl gepaart mit Verstand in sprachliche Musik umwandeln kann. Den Gedichtband “Dir zur Feier” widmete er seiner großen Liebe Lou Andreas-Salomé, die “Engellieder” sind im Kapitel “Mir zur Feier” zu finden. “Ich ließ meinen Engel lange nicht los”: Im Grunde eine ganz unsentimentale Bestandsaufnahme einer komplizierten Paarbeziehung.