Sven Recker: Der Afrik

Um die Armen loszuwerden, schickten manche Ortschaften in Deutschland ihre Tagelöhner im 19. Jahrhundert als Wirtschaftsflüchtlinge nach Nordafrika. Sven Recker erzählt in “Der Afrik” auf beeindruckende Weise von solch einem Schicksal.

„Die Kutsche fuhr los und aus dem Schwarzwald blies der Schmerzensschrei des Nachtkrapps orkangleich runter ins Tal. Die Wipfel der Tannen flatterten, es regnete Zapfen, im Fallen drehten sie sich wie Derwische, Schrapnellen gleich zerbarsten sie unten im Laub.“

Sven Recker, “Der Afrik”


Das Markgräfler Land steht heute als Synonym für Wohlfühl-Tourismus, Sporturlaube und Freizeitvergnügen. Doch es ist eine harte, archaische Welt, in die Sven Recker mit seinem dritten Roman „Der Afrik“ entführt: Armut, Hunger und Krankheit prägen das Leben der Landbevölkerung im 19. Jahrhundert. In Pfaffenweiler, keine zehn Kilometer von Freiburg entfernt, griff die Obrigkeit zu einer besonderen Maßnahme, um ihre Tagelöhner und deren zahlreiche Kinder loszuwerden: Man versprach ihnen das Blaue vom Himmel, das Paradies auf Erden in fernen Ländern und überredete sie zur Auswanderung nach Algerien.

„Es war Dienstag, der 13. Dezember des Jahres 1853. Die erste von vier Kutschen verließ Pfaffenweiler vom Marktplatz aus um ein Uhr in der Nacht.“

132 Einwohner werden auf eine beschwerliche Reise nach Nordafrika geschickt. Um die Verschiffung von Marseille aus – bis dahin bewältigten die Menschen die Reise weitestgehend zu Fuß, einige überlebten schon dieses nicht – zu finanzieren, wird ein Stück Wald abgeholzt und als Weinberg verpachtet. Noch heute erinnert an diesem Weinberg namens Afrika ein Denkmal an das Schicksal der Zwangs-Ausgewanderten:

„Schwer war das Los in der Fremde und die Hoffnungen zerrannen in Tränen und Bitterkeit wie uns Briefe und Hilferufe berichten.“

Die Hilferufe verhallten ungehört: Für die Verschickten gibt es keinen Rückfahrschein. Unter den Auswanderern ist auch der erst 15-jährige Franz Xaver Luhr mit seiner Mutter. Vom Rest ihrer Habseligkeiten, die sie schon während der Reise größtenteils verkaufen mussten, mieten die beiden für ein Jahr ein Stück Land und eine Hütte im algerischen Nirgendwo, dem Wetter und seinen Unbilden schutzlos ausgesetzt.

„Selbst im kommenden Frühjahr wuchs nichts. Schlimmer war nur der Winter und mit ihm der Regen, der im Januar kam. Bis März floss das Wasser in Bächen durch euer undichtes Dach.“

Die Mutter beginnt Briefe an die Heimat zu schreiben, „doch es nützte so wenig wie ihre Gebete“. Schließlich rafft sie das Fieber dahin, erst 39 Jahre alt, „eine abgemagerte Frau, die einen Stapel Briefe umklammerte, als wären diese ihr Testament.“

Der einzige Rückkehrer wird zum Einzelgänger

Franz verbringt noch einige Jahre in Algerien, nur begleitet von seinem Freund Djilali, den er später auf beinahe wundersame Weise in Karlsruhe als Mitglied von Buffalo Bill’s Wild West Show wiedertrifft, und vom Nachtkrapp, jenem Kinderschreck, dessen Boshaftigkeit nie verstummt. Franz mit dem Nachtkrapp auf dem Rücken ist schließlich der Einzige der Auswanderer, der nach Pfaffenweiler zurückkehrt: Er hat alles verloren, die Heimat, die Mutter und bei der Rückkehr auch seinen Namen, er wird zum „Afrik“, einem Einzelgänger, der einsam in einer Hütte beim Weinberg haust.

Was keiner ahnt: Jahrzehntelang plant dieser einsilbige Mann, der mit anderen kaum mehr als durch „gebellte“ Einzelwörter spricht, seine Rache. Franz gräbt über 30 Jahre hinweg einen Stollen zum Weinberg, stiehlt Sprengstoff, sein einziges Ziel vor Augen ist es, diesen verhassten Weinberg namens „Afrika“, der für sein Schicksal steht, in die Luft zu jagen. Doch da bricht, gleichsam wie eine Naturgewalt, ein neuer Mensch in sein Leben ein: Das Kind Jacob, ein kleiner Junge, so einsilbig und menschenentwöhnt wie der Afrik, sitzt plötzlich vor seiner Hütte, bei sich nur einen Zettel mit den Worten:

„Je m’appelle Jacob. Tu es famille.“

Zunächst gezwungenermaßen, dann aber mit mehr und mehr Anteilnahme beginnt sich der 70-jährige Alte um das geistig verwirrte Kind zu kümmern. Eine anfängliche Zwangsgemeinschaft, die nicht zuletzt auch die Rachepläne des „Afrik“ unter ein neues Licht stellt.

Die Sprache greift das Archaische dieser Welt auf

Sven Recker erzählt diese Geschichte aus der Perspektive des Alten, der sich an sein Leben zurückerinnert, in einer herben Sprache, in der sich das Archaische dieser harten Welt widerspiegelt. Für die Einsamkeit und das Ausgeschlossensein von der Dorfgemeinschaft findet der Schriftsteller den passenden Ton, immer wieder wird der Erzählfluss durch einzelne Ausrufewörter und Aufforderungssätze unterbrochen, „gebellte“ Aussagen des sprachentwöhnten Einzelgängers. Zugleich aber entfaltet sich sprachlich aber auch die ganze Wucht der harten Natur im tiefverschneiten Schwarzwald ebenso wie in der dürren Wüste Algeriens.

Manche Einsprengsel – die Wiederbegegnung mit Djilali, das Wiederfinden eines grünblauen Steins bei einem Indianer, der einst dem Vater von Franz gehört hatte – sowie die Stimme des Nachtkrapp und die letztlich ungeklärt bleibende Herkunft Jacobs verleihen dem Roman zudem etwas Magisches: Eine Reminiszenz an den Aberglauben, der unter der notleidenden Bevölkerung im 19. Jahrhundert noch weit verbreitet war.

Eine beinahe altertümliche, archaische Geschichte, die nicht zuletzt aber auch eindrucksvoll eine Brücke in die Gegenwart schlägt: Es ist noch nicht allzu lange her, dass wir Europäer als Wirtschaftsflüchtlinge durch die Welt ziehen mussten. Die Erinnerung daran und die damit verbundenen Schicksale könnte Empathie wecken für die Menschen heute, die auf der Suche nach einem besseren Leben zu uns kommen.


Bibliographische Angaben:

Sven Recker
Der Afrik
Edition Nautilus
Erscheinungsdatum: 4. September 2023
ISBN 978-3-96054-324-4

Vom Gift des Verschweigens – wie der Faschismus eine Familie prägt

Als die italienische Philosophin und Autorin Michela Marzano entdeckt, dass ihr Großvater ein Faschist der ersten Stunde war, ist das ein Schock für sie. In ihrem Buch arbeitet sie sowohl ihre Familiengeschichte auf als auch die Geschichtsvergessenheit eines ganzen Landes.

„Die Geschichte lässt sich nicht auslöschen“, hatte der Bürgermeister von Campi 2017 gesagt, als er gefragt wurde, warum er einen Platz in der Stadt nach Guiseppe Guarino, dem ehemaligen faschistischen Podestà und Schwager von Starace, benannt habe. Warum konnten andere Teile der Geschichte Campis dann einfach unterschlagen werden? Die Geometrie dieser Geschichte scheint äußerst variabel zu sein.“

Michela Marzano, „Falls ich da war, habe ich nichts gesehen“


Als ich vor einigen Jahren in Rom vor dem sogenannten „Mussolini-Obelisk“ stand, wurde mir erstmals richtig bewusst, wie deutlich anders mit der Erinnerung an den Faschismus in unserem Nachbarland umgegangen wird. Denkmäler mit Inschriften, die an den „Führer“ erinnern, der Verkauf entsprechender Devotionalien, offener „Duce“-Kult: All das wäre bei uns nicht denkbar. Und das aus gutem Grund.

Hat auch dieser seltsam „entspannte“ Umgang Italiens mit seiner faschistischen Vergangenheit dazu geführt, dass der Rechtsextremismus immer irgendwie doch „hoffähig“ blieb? Das Getöse, das italienische Neofaschisten wie Salvini, Berlusconi und Meloni in den vergangenen Jahren auf dem Stiefel veranstalteten, nahm ich wahr, aber sah es nicht als wirkliche Gefahr. So kann man sich täuschen – es war ein Schock für mich, als im vergangenen Herbst die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni mit rund 26 Prozent die italienischen Parlamentswahlen gewann.

Das Buch von Michela Marzano ist im Jahr vor der Wahl erschienen. Und wurde in den Medien gefeiert. So wird vom Eichborn Verlag, bei dem das autobiographische Werk der italienischen Philosophin, Autorin und Politikerin heute in deutscher Übersetzung erscheint, auf dem Cover „La Republica“ zitiert: „Dieses Buch legt das Schweigen eines Landes offen, das sich niemals seiner Geschichte gestellt hat. Politisch und zugleich sehr persönlich.“

Das Gift des Faschismus wirkt weiter

Das hat heute ein wenig einen bitteren Nachgeschmack: Zeigt das Buch doch angesichts des italienischen Rechtsrucks wie sehr das nicht aufgearbeitete Erbe der faschistischen Vergangenheit weiterwirkt, wie billig die Rattenfänger mit der angeblichen Erinnerung an alte, vermeintlich bessere Zeiten ihre Anhänger sammeln könnten. Das Gift wirkt weiter – und Marzanos Buch legt auch offen, wie im Falle einer einzelnen Familie der Faschismus die Menschen prägt, sogar über Generationen hinweg, auch wenn die Nachkommen sich politisch ganz anders verorten.

Eher zufällig stolpert Michela Marzano, die selbst als Abgeordnete für die Partito Democratio einige Jahre im italienischen Parlament war, über die Information, dass ihr Vater Ferruccio bei seiner Taufe mit fünf Vornamen ausgestattet wurde – darunter auch mit Benito, nach dem faschistischen Diktator. Nach und nach ergründet Marzano ein „offenes“ Familiengeheimnis: Ihr Großvater Arturo, ein Richter und nach dem Zweiten Weltkrieg Abgeordneter der Monarchistischen Partei, war ein Mussolini-Anhänger der ersten Stunde. Bereits am 15. Mai 1919 schreibt er sich in die Partito Nazionale Fascista ein, nimmt am berüchtigten Marsch auf Rom teil und übt selbstverständlich auch sein Richteramt getreu der faschistischen Gesetzgebung aus.

Immer tiefer gräbt sich Marzano in ihre Familiengeschichte ein, sichtet verschimmelte Unterlagen ihres Großvaters, die bei Verwandten in Campi in einem Keller lagern, liest die Briefe an seine Frau Rosetta, liest Akten über Gerichtsverfahren und die Dokumente, mit denen sich Arturo nach dem Ende des Faschismus um eine schnellstmögliche berufliche Rehabilitierung bemüht. Bezeichnend: Die Empörung, die aus diesen Briefen spricht, er selbst, Faschist der ersten Stunde, versteht nicht, warum er in seiner Doppelfunktion als Parteigänger und Richter Justitia beschädigt haben soll.

Als die italienische Philosophin und Autorin Michela Marzano entdeckt, dass ihr Großvater ein Faschist der ersten Stunde war, ist das ein Schock für sie. In ihrem Buch arbeitet sie sowohl ihre Familiengeschichte auf als auch die Geschichtsvergessenheit eines ganzen Landes.

Scham und Schuldgefühle

Weitaus sensibler reagiert da die Enkelin, die an den Großvater selbst (er starb, als sie gerade sechs Jahre alt war), nur noch wenige Erinnerungen hat:

„Es ist der 25. April 2020, der 75. Jahrestag der Befreiung Italiens. Und zum ersten Mal kann ich ihn nicht ruhigen Gewissens feiern. Auch ich möchte voller Stolz #iorestalibera (ich bleibe frei) in den sozialen Medien posten (…). Meine Geschichte ist eine andere als die der Enkelkinder, Nichten und Neffen der Widerstandskämpfer:innen. Im Gegensatz zu ihnen, habe ich keinen Grund, stolz zu sein.“

Beim Lesen dieser Worte wurde mir jedoch auch nochmals bewusst, dass zwar die öffentliche „Erinnerungskultur“ in Deutschland eine andere sein mag, die familiäre dagegen unterscheidet sich wohl in vielen Fällen nicht. Die Fragen, die Michela Marzano in ihrem Buch stellt –

„Haben sie für die Freiheit gekämpft oder im letzten Moment die Seiten gewechselt? Waren sie im Widerstand oder verspätete Überläufer:innen?“

– sie wurden auch in deutschen Familien nur vage beantwortet, wenn es hieß: „Was hast du getan von 1933 bis 1945?“

Zwar kann Marzano die eine große Frage, die nach dem WARUM, warum ihr Großvater dem Faschismus anhing, nicht entschlüsseln, nicht erklären. Zu Beginn des Buches, noch unter Schock stehend, hält sie dies zudem für unnötig:

„Ich kann und will keine Entschuldigung finden, denn es wäre nicht gerecht. Alles, was ich empfinde, ist Scham.“

Eine Scham, die „von Generation zu Generation weitervererbt wird“. Und so wird ihr Text vor allem zu einer Auseinandersetzung mit ihrem Vater, einem linksliberalen Wirtschaftsprofessor, der politisch zwar alles andere als ein Faschist ist, im Privaten jedoch zu patriarchalischen Wutausbrüchen neigt und eine lieblose Ehe führt, die auch seine Kinder prägt. Michela Marzano leidet als junge Frau an Magersucht, unternimmt einen Suizidversuch, braucht jahrzehntelang psychotherapeutische Unterstützung. Die Recherche zu ihrem Großvater öffnet ihr die Augen, wie sehr ihr Vater selbst durch diese Familiengeschichte geprägt wurde und darunter litt. Und so hat das Buch wenigstens auf der privaten Ebene ein versöhnliches Ende, kann das letzte Kapitel mit „Vergebung“ betitelt werden.

Historische Fakten und aktuelle Politik

Geschickt verknüpft Marzano ihre Familiengeschichte mit historischen Fakten und Kommentaren zur aktuellen italienischen Politik. Sie zeigt auf, wie während Mussolinis Diktatur streikende Arbeiter, Kommunisten, Demokraten, Widerstandskämpfer verfolgt wurden, wie mit Einführung der Rassengesetze jüdische Richter und Anwälte ihrer Ämter enthoben wurden, wie zahllose Menschen Opfer des Faschismus wurden. Und wie die Täter beinahe nahtlos weitermachen konnten.

„Die Zahlen zur Epurazione im Gerichtswesen sind vielsagend: Im März 1946 wurden 4052 von 11 400 Mitarbeitenden des Justizministeriums einem Entfaschisierungsprozess unterzogen, 589 Prozesse wurden eröffnet, 575 beendet und nur 56 Personen verurteilt (…). Andere sagen, dass irgendwann beschlossen wurde, nach vorn zu blicken, um nicht in der Vergangenheit stecken zu bleiben.“

Die Form des Buches, das zwischen persönlicher Erzählung, fiktionalen Passagen, wenn Marzano beispielsweise Dialoge ihrer Großeltern rekonstruiert, introspektiven Betrachtungen und historischer Dokumentation wechselt, mag manchem ein wenig wildwüchsig erscheinen. Zugleich ist es aber ein Ausdruck für die Aufgewühltheit der Erzählerin angesichts ihrer Familiengeschichte und ein emotionaler Aufschrei der Fassungslosigkeit. Michela Marzano macht am Beispiel ihrer Familie deutlich, was diese Geschichtsvergessenheit, das Verschweigen, das Verleugnen und das Lügen, die Menschen kostet. Und was es eine Gesellschaft kosten wird, das, so befürchte ich, werden die nächsten Jahre unter einer neofaschistischen Regierung erst noch zeigen.


Bibliographische Angaben:

Michela Marzano
Falls ich da war, habe ich nichts gesehen
Übersetzt von Lina Robertz
Eichborn Verlag, 25.8.2023
ISBN: 978-3-8479-0150-1

Theres Essmann: Dünnes Eis

“Dünnes Eis” von Theres Essmann ist ein lebenskluger Roman: Vor ihrem 100. Geburtstag wird eine Frau von ihrem großen Lebenstrauma, dem Tod ihres kleinen Sohnes im Krieg, eingeholt. Ein Buch, das von Schuld, Sühne und der Kraft der Versöhnung erzählt.

„Wie so eine Geschichte, die man sich ein Leben lang erzählt hat, an einer Stelle plötzlich aufplatzen und abblättern kann. Man fängt an zu knibbeln, Stückchen für Stückchen, und darunter tritt etwas ganz anderes zutage. Wie bei übereinanderliegenden Farbschichten, die man nacheinander abträgt.“

Theres Essmann, „Dünnes Eis“


Allein wenn es um die Anzahl der Jahre ginge, hätte diese Frau viel zu erzählen. Marietta ist in ihrem hundertsten Lebensjahr, lebt in einer Seniorenresidenz und vor allem mit und von ihren Erinnerungen: Mit dem bunten Schal ihrer verstorbenen Freundin und Zimmernachbarin Gisela, Fotos, Briefen und Dingen wie Brummel, ein Teddybär, der einst ihrem Sohn Johann gehörte.

Johann, das ist der große Schmerz, den sie ihr ganzes Leben lang in sich trägt: Ihr kleiner Sohn, sechs Jahre alt, wird vor ihren Augen von einem russischen Soldaten erschossen. Sie gibt sich selbst die Schuld daran, meint sie doch, ihr Kind dazu aufgefordert zu haben, wegzurennen – ein Reflex, der dazu führt, dass Johann abgeschossen wird „wie ein Hase“. Ein Trauma, das alle anderen grauenvollen Erlebnisse jener Kriegstage, die Vergewaltigungen, den Tod der Großeltern, die Flucht aus Ostpreußen über dünnes Eis verdrängt.

Und dennoch bewältigt Marietta ihr Leben, erfährt mit dem Psychoanalytiker Elias eine neue, reife Liebe, geht in ihrem Beruf als Lehrerin auf, findet Halt und Anregung in der Literatur. Doch mit 99 Jahren, auch wenn man wie diese alte Dame bei wachem Verstand und körperlich noch einigermaßen rüstig wird, wird es naturgemäß einsam um einen: Ihre Ansprechpartnerinnen sind die Mitarbeiterinnen des Heims, in den hellwachen Nächten begleiten sie die Erinnerungen.

„Mit beiden Händen zieht sie die Schublade auf, sie ist randvoll mit Leben. Fotos über Fotos, wahllos hineingeworfen. (…) Vorm Fenster steht schwarz wie die Nacht. Sie schiebt im Schein der Lampe die Fotos auf dem Schreibtisch nebeneinander, Gisela in ihrem Ohrensessel neben Johann mit seinem Brummel. Ihre älteste Tote. Und Johann, ihr jüngster.“

Eine zufällige Begegnung bringt jedoch neue Farbe in ihre Leben: Plötzlich, wie eine Erscheinung, steht im Park vor ihr der kleine Enis, ein Flüchtlingskind, das stumm bleibt, ganz offensichtlich von der Flucht und seinen Erlebnissen traumatisiert. Die Parkbank wird zum Treffpunkt der beiden, der alten Frau und des siebenjährigen Kindes, die ein ähnliches Schicksal teilen. Mithilfe einer jungen Frau, die Marietta zu ihrem 100. Geburtstag für die Zeitung fotografiert, erfährt Marietta, dass Enis gewissermaßen ihr Spiegelbild ist: Sie musste mitansehen, wie ihr Sohn ermordet wurde, Enis erlebte den Mord an seinen Eltern mit.

Die Schatten der Vergangenheit

Auch in einem zweiten Erzählstrang geht es um Schuld und die Schatten der Vergangenheit: Der mürrische, krebskranke Herr Tacke, den Marietta hartnäckig und durchaus fordernd aus seinem Schneckenhaus holt, gesteht ihr eine grauenhafte Tat, die er als jugendlicher SS-Scherge begangen hat. Ein Geständnis, das Marietta aus der Fassung bringt. Und zugleich als erzählerischer Kunstgriff notwendig ist, um das Eis, das sich um ihr Herz seit Johanns Tod gelegt hat, zum Schmelzen zu bringen:

„Es ist wie ein gewaltiges Reißen. Ein Knacken und Bersten im Eis, dort wo es am dicksten ist. Dort, wo ihre Schuld eingeschlossen ist. Es birst auseinander in zwei Hälften. Sie hat nicht geschrien. Sie hat es gedacht. Dazwischen leckt eisig die See. Und sie, sie muss nur von der einen auf die andere Seite hinüberspringen.“

Erst in ihrem 100. Lebensjahr wird für Marietta das Eis begehbar, das sich über ihre Wahrnehmung von Johanns Tod gebildet hat. Oder, wie sie sich an die Worte eines Kollegen ihres zweiten Mannes erinnert:

„(…) die traumatische Neurose als Infiltrat, die den psychischen Organismus besetzt hält. Das heißt ja, dass es dann darum geht, es herauszuarbeiten, den Widerstand schmelzen zu lassen und so der Zirkulation den Weg zu bahnen, in ein bisher vom Trauma überlagertes und versperrtes Gebiet.“

Ein Prozess, der wichtig ist, gerade am Lebensende, wenn man mit dem eigenen Abschied rechnen muss.

„In ihr ist nichts als Wärme. Eine Wärme, die sich ausdehnen will.
Und ein leises Staunen. Darüber, dass in den tiefen Lücken, die das Leben dir reißt, warme Dankbarkeit nisten kann.“

Ein lebenskluger Roman mit einer starken Frauenfigur

Mit „Dünnes Eis“ ist Theres Essmann nach ihrem literarischen Debüt „Federico Temperini“ erneut ein kluges, ein lebenskluges Buch gelungen. Die Autorin erweckt große Empathie für ihre Figuren, ohne je in falsches Sentiment oder gar Klischees abzurutschen. Die großen Themen dieses berührenden Romans – Schuld und Sühne, Kriegs- und Fluchttrauma, Verluste und Versöhnung – werden mit einer Frauenfigur transportiert, die einem im Gedächtnis bleiben wird. Mit Marietta hat Theres Essmann einen Charakter geschaffen, der beeindruckt, klug und sensibel zugleich, würdevoll zudem der Gebrechlichkeit und den Einschränkungen des Alters entgegentretend.

Der Roman spricht dank einer klaren Prosa zugleich Herz und Verstand an: Zurückhaltend, manchmal sehr zart und poetisch, aber auch kristallklar deutlich, wenn es um die grauenhaften Dinge geht, die Menschen in Kriegen erfahren müssen, findet Theres Essmann für ihr Sujet eine eigene Sprache, einen besonderen Stil, der dieses Buch trägt.


Bibliographische Angaben:

Theres Essmann
Dünnes Eis
Dörlemann Verlag, 2023
ISBN 9783038201328  


Transparenzhinweis: Für das Debüt von Theres Essmann, “Federico Temperini”, habe ich im Rahmen des damaligen Verlags die Pressearbeit geleistet. Mit dem Verlagswechsel ist dies beendet. Von “Dünnes Eis” erhielt ich ein Vorab-Rezensionsexemplar. Beides hatte auf meine Meinung zum Roman keinen Einfluss: “Dünnes Eis” ist für mich unabhängig davon eindrucksvolle Literatur.

Ilva Fabiani: Meine langen Nächte

In “Meine langen Nächte” lässt Ilva Fabiani eine Tote auf ihre Entwicklung zur überzeugten Nationalsozialistin und ihren Dienst als “braune Schwester” zurückblicken. Der preisgekrönte Debütroman liegt nun in deutscher Erstübersetzung vor.

„Erneut werde ich vom Wind hochgehoben und weggetragen, weg von dieser weit zurückliegenden Nacht, weg vom Ruf des Waldkauzes. Dass sich mein Leben einige Jahre später fast nur noch nachts abspielen sollte, hätte ich damals nie geahnt. Das Hu Huhu dieser kleinen nachtaktiven Kreatur würde mich in den finsteren Nächten noch lange begleiten, in denen ich verzweifelt versuchte, meine am Tag verlorene Seele zu retten.“

Ilva Fabiani, „Meine langen Nächte“


Es ist eine ungewöhnliche Erzählperspektive, die Ilva Fabiani für ihren in Italien mehrfach ausgezeichneten Debütroman gewählt hat: Anna Alrutz spricht aus dem Reich der Toten zu den Lesern, reflektiert 90 Jahre später, wie es zu ihrer großen Lebensverirrung kommen konnte, warum sie im Glauben an eine furchtbare Ideologie dazu beitrug, das Leben anderer Menschen zu zerstören.

Die Wahl dieser Perspektive erscheint wie ein intelligenter Kunstgriff: Wie kann man sich dem Unbegreiflichen fiktional annähern, zumal als Autorin, die 1970, also lang nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten geboren ist? Fabiani gelingt es durch diese Technik, die tote Anna Alrutz selbst über ihre Kindheit und Jugend und ihre ideologische Verblendung reflektieren zu lassen und auf Erklärungssuche für das Unbegreifliche zu gehen.

Dass dies nicht ganz überzeugend aufgeht, mag zum einem daran liegen, dass selbst ein Roman, der versucht, seine Hauptfigur psychologisch so fein zu ziselieren, wie es Fabiani unternimmt, keine vollkommene Aufklärung bieten kann: Das Unbegreifliche entzieht sich immer ein Stück weit dem Wunsch nach logischer Nachvollziehbarkeit. Und darüber hinaus sind in der – freilich fiktiven – Vita der Anna Alrutz doch viele Grundlagen vorhanden, um nicht auf die „schwarze“ respektive „braune“ Seite zu rutschen.

Die verlorene Generation

Zwar gehört Anna altersmäßig zur „verlorenen Generation“, materiell spürt sie davon allerdings wenig.

„Jedem, der wie ich im Jahr 1907 geboren wurde, hätte das Jahrhundert normalerweise die Ehre zuteilwerden lassen, gleich zwei verheerende Kriege mitzuerleben.“

Doch, wie sie selbst sagt, wird sie vor dem Ersten Weltkrieg „durch eine Art kindliche Unversehrtheit bewahrt.“ Als älteste Tochter einer wohlhabenden Familie aus Braunschweig bekommt Anna die Not der Nachkriegsjahre selbst kaum mit, auch vom Hunger und der Armut ganzer Bevölkerungsschichten ist im Roman wenig die Rede. Die Familie kann es sich nach wie vor leisten, ihre Sommer im Kurort Salzgitter zu verbringen, Anna kann zudem später als eine der wenigen Frauen ein Medizinstudium aufnehmen. Ihr Vater vertritt liberale Ansichten, das Aufkommen der Nationalsozialisten betrachtet er mit Entsetzen und versucht, so gut es geht, seinen Kindern einen bildungsbürgerlich geprägten Humanismus vorzuleben.

Wohlbehütet in Krisenzeiten

Eine junge Frau, die also wohlbehütet aufwächst und in ihrem Lebensumfeld wenig von den sozialen Unruhen und Ungleichgewichten, die in ihrem Heimatland herrschen, spürt. Als in Salzgitter der Spielkamerad ihres Bruders krankenhausreif geschlagen wird, weil er Jude ist, ist Anna helfend zur Stelle, spricht gar davon, das Kind in die Familie aufzunehmen. Es fehlt ihr also nicht an Empathie und Mitgefühl. Was ihr im Wege steht, ist jedoch ein übergroßer Ehrgeiz und das Gefühl, nicht gut genug, nicht schön genug zu sein. Dass die Aufmerksamkeit der Eltern sich auf die schwerkranke jüngere Schwester Annas konzentriert sowie die vergebliche Verliebtheit in einen verheirateten, evangelischen Pastor trägt dazu bei, um die junge Frau anfällig für Verblendungen zu machen.

Die Beziehung zu einem Reichswehr-Mann und SA-Soldaten sieht sie als gewisse Aufwertung. Später, als Tote, versucht sie dies zu rechtfertigen:

„Mein Beinahe-Verlobter war ein Mörder und ich wusste nichts davon. Ich war eine ebenso dumme Gans wie viele andere Mädchen meines Alters.“

Sätze wie dieser hinterlassen einen Nachgeschmack, erinnern an die Haltung vieler Deutscher, die von „nichts etwas gewusst hatten“. In ihrem Ansatz, das Abrutschen in eine Ideologie überwiegend auf der psychologischen Ebene zu erklären, wird Ilva Fabiani an anderer Stelle noch deutlicher:

„Wie soll man den Enkelkindern denn erzählen, dass die Großmutter sich auf den Nationalsozialismus eingelassen hat, weil sie sich mit siebzehn Jahren wie eine alte hässliche und hoffnungslose Jungfer fühlte? Wie dem Wind, der mich hochhebt und wieder hinunterwirft, erklären, dass die Macht des Leitwolfs darin bestand, das Innerste jedes Einzelnen aufzuwühlen, wo sich die Enttäuschungen, die Ängste, die Schicksalsschläge und die Einsamkeit verbergen?“

Vielleicht, das kann ich nur spekulieren, lag das Motiv Fabianis, ihre Hauptfigur so zu charakterisieren, darin, ihren Lesern zu zeigen: Keiner ist vor solchen ideologischen Verführbarkeiten gefeit, jeden kann es, wenn er sich in einer Lebenskrise befindet, treffen. Ganz geht diese Rechnung für mich jedoch nicht auf, zu wenig nachvollziehbar bleibt für mich der Weg zu wohlbehüteten Mädchen hin zur „braunen Schwester“ und zurück: Wieder ist es die Liebe, dieses Mal zu einem französischen Medizinstudenten mit jüdischen Wurzeln, die Anna am Ende die Augen öffnet und erneut „umdreht“. Von der Mittäterin wird sie zu einer Frau, die Widerstand übt, den sie letzten Endes als Hochverräterin mit dem Leben bezahlt.

Zwangssterilisationen als Programm

Am bewegendsten und greifbarstem wird der Roman für mich im letzten Drittel, als Fabiani detaillierter auf das Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten und deren Programm der Zwangssterilisation eingeht: Schätzungsweise bis zu 400.000 Menschen wurden dem unterworfen, weil sie als „erbkrank“ eingestuft wurden, zum Teil aus ganz willkürlichen Gründen.

Auch an der Universitätsklinik Göttingen, wo Ilva Fabiani, die als Italienisch-Dozentin an der Göttinger Universität tätig ist, Anna ihren Dienst als „braune Schwester“ tun lässt, kam es dazu: „Leider ganz real sind die 787 Frauen, die in den Räumlichkeiten der Klinik auf schreckliche Weise und vollkommen willkürlich sterilisiert wurden. Ihnen und den wenigen Krankenschwestern, die sich ihrer erbarmten, ist diese Geschichte gewidmet“, schreibt die Autorin im Nachwort.

Dort, wo sie Anna, die sich als „braune Schwester“ an den Sterilisationen beteiligt, von den einzelnen Frauen, deren Widerstand gegen den Eingriff, deren Ängsten und Verzweiflung erzählen lässt, ist das Buch am stärksten.

„Die Sterilisationen waren im Grunde einfache Eingriffe. Schwierig war hingegen die Aufnahme der Patientinnen. Manchmal wurden die Frauen von der Polizei gebracht, und wir mussten sie sofort sedieren. Die Aufsässigsten von ihnen wurden in einen Raum eingeschlossen (…). Keine Bettlaken, nur feste Wolldecken, die man nicht zusammenknoten konnte.“

Die an diesen Stellen nüchterne Erzählweise zeigt die ganze Perversion des nationalsozialistischen Systems. Wie sehr darin gerade auch Ärzte und Wissenschaftler verstrickt waren, welchen Aderlass Universitäten wie Göttingen durch die Vertreibung jüdischer und nicht gleichgeschalteter Wissenschaftler (Max Born, Felix Bernstein, Emmy Noether) erfuhren, auch das wird auf den letzten Seiten eindrucksvoll deutlich.

Der Wechsel aus poetischen Passagen und nüchterner Detailbeschreibung, die Erzählperspektive, die die Hauptfigur auf ihre Vergangenheit blicken lässt, aber vor allem die Thematik der „braunen Schwestern“ machen „Meine langen Nächte“ zu einem lesenswerten Roman, auch wenn mir die Protagonistin in ihrer Entwicklung „unfassbar“ und seltsam fremd blieb.


Bibliographische Angaben:

Ilva Fabiani
Meine langen Nächte
Übersetzt von Birgit Ulmer
Steidl Verlag, 2023
ISBN 978-3-96999-198-5

Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter

Zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung kam in einer prächtigen Neuauflage “Die verbrannten Dichter” von Jürgen Serke wieder heraus. Wie kein anderer hat der Autor dazu beigetragen, die Literatur der Weimarer Republik wieder ins Gedächtnis zu rufen.

„Der Blumenhändler, drei Häuser weiter, kennt sie ebenfalls. An ihm vorbei geht Irmgard Keun in den Tag hinaus und in die Kneipen hinein. Sie hat eine große Tochter, eine kleine Rente und keinen Halt mehr. Die Freunde von einst sind tot. Es ist schwer, etwas Totes mit sich herumzutragen.“

Jürgen Serke, „Die verbrannten Dichter“


Als der Journalist Jürgen Serke die Autorin Irmgard Keun, die in der Weimarer Republik als junge Frau mit nur zwei Romanen für Aufsehen sorgte, Jahrzehnte später in Bonn besucht, hat sie „panische Angst, in ihrem Elend erkannt zu werden.“ Serke lernt eine 66-jährige Frau kennen, deren einzige Rettung es scheint, „die Gefühle niederschlagen, um nicht von ihnen niedergeschlagen zu werden.“

„Nur kein Gejammere!“: Das ist die Devise einer Frau, die bei den Gesprächen mit Serke lebensüberdrüssig wirkt, im Alkohol das Vergessen sucht. Wohl auch das Vergessen der Tatsache, dass sie selbst als Autorin zu den Vergessenen gehört. Zumindest letzteres wird sich ändern. Bereits 1980 kann Jürgen Serke an sein Portrait, das im „stern“ veröffentlicht wurde, einen Nachtrag anfügen: Ein Verlag wurde gefunden, der ihr Gesamtwerk herausgibt. Die Reportage sorgte für eine Wiederentdeckung der Autorin, ein wenig Nachruhm, den sie noch bis ihrem Tod 1982 genießen konnte. Ihre Bücher – “Das kunstseidene Mädchen”, “Nach Mitternacht”, “Kind aller Länder”, um nur die wichtigsten zu nennen – erfahren seither regelmäßig Neuauflagen.

Vom Widerstand der Dichter

Es ist dieser unvergleichliche Verdienst, den Jürgen Serke und Fotograf Wilfried Bauer für die deutsche Literatur leisteten: Mit ihren Artikeln über Dichterinnen und Dichter, deren Bücher im Nationalsozialismus verbrannt wurden, holten sie nicht nur deren Werke, sondern auch deren Schöpfer in das Bewusstsein zurück. Jürgen Serke hatte für die Artikelserie, die unter dem Titel “Die verbrannten Dichter” 1976 im „stern“ erschien – damals noch ein Magazin mit einer Auflage von fast zwei Millionen Exemplaren – zuvor jahrelang privat recherchiert. Eine Initialzündung war für ihn, so schreibt der heute 85-jährige im Nachwort zur Neuauflage im Wallstein Verlag, seine Zeit als Korrespondent in Prag, das Miterleben des „Aufstands der Dichter gegen den Machtmissbrauch des kommunistischen Regimes“:

„In Prag wurde ich, was ich heute bin: als Journalist ein Bewahrer des literarischen Widerstands gegen die beiden Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts in Mitteleuropa.“

Im Deutschen Reich war die nationalsozialistische Diktatur besonders gründlich, mit typisch deutscher bürokratischer Effektivität, gegen die Intellektuellen vorgegangen. „Im Mai 1933 strich Adolf Hitler eine ganze Generation von Schriftstellern aus dem Bewusstsein des deutschen Volkes“, heißt es im Vorspann zu „Die verbrannten Dichter“. Gemeint sind damit die Bücherverbrennungen, die im Mai 1933 begannen, ein symbolhafter Akt, um alles, was nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprach, zu vernichten. Berufsverbote, Inhaftierungen, Folter und Konzentrationslager trafen die Schöpfer dieser Werke. Manche überlebten den Terror nicht, andere, wie Ernst Toller, begingen Suizid oder starben einsam und verarmt im Exil wie Else Lasker-Schüler.

Bücherverbrennung und Menschenvernichtung

„Die Bücherverbrennung wirkte über den Zusammenbruch des «Dritten Reiches» hinaus. Was in den zwanziger Jahren gedichtet wurde, blieb weitgehend vergessen bis zum heutigen Tag.“

Wäre da nicht Jürgen Serke gewesen, der die Popularität des „stern“ nutzen konnte, um einige Namen dem Vergessen zu entreißen. Der darüber hinaus aber auch bei vielen Leserinnen und Lesern, insbesondere jedoch auch bei Verlagsmenschen das Bewusstsein schärfte für diesen literarischen Reichtum der Weimarer Republik, wie auch Verleger Thedel v. Wallmoden nun in der Neuausgabe, die zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung im Wallstein Verlag erschien, im Vorwort schreibt.  Für die Wiederentdeckung der verfemten Literatur habe wohl kaum eine andere Initiative “eine derart breite Wirkung wie Jürgen Serkes Artikelserie” erzielt.

Die von Jürgen Serke portraitierten Autorinnen und Autoren, darunter Ernst Toller, Irmgard Keun, Claire Goll, Klabund, Erich Mühsam, Else Lasker-Schüler und andere waren nach dem Ende des Nationalsozialismus “präsent und zugleich vergessen”, so der Verleger in seinem Vorwort zum Buch.

“Es war ein Paradox: Jeder hätte diese Autorinnen und Autoren treffen können und vor allem hätte jeder ihre Bücher lesen können. Aber “die verbrannten Dichter” spielten im literarischen Leben, in den Feuilletons und wohl auch im Deutschunterricht jener Jahre keine Rolle.”

Literarische Portraits

Bis Jürgen Serke kam. Es ist sicher diese Mischung aus journalistischem Bericht und literarischem Portrait, die Verbindung von Werk, Person und den sensiblen Kommentaren des Berichterstatters, die diese Reportagen bis heute zu einer faszinierenden Lektüre machen. Und zu einer profunden Quelle für jeden, der sich für die Literatur der Weimarer Republik interessiert. Nicht alle, die Serke in den 1970ern vorstellte, sind jedoch auch heute noch so präsent wie beispielsweise Irmgard Keun oder Alfred Döblin. Auch darin mag eine Chance der aufwendig gestalteten Neuauflage (die Artikelserie erschien in den 1970ern bald auch als Buch, später folgte eine Taschenbuch-Ausgabe) liegen: Noch einmal beispielsweise Jakob Haringer, das „Schandmaul“, das zu Gott betet oder Franz Jung, der Poet, der „Lenin die Leviten“ las, ins Gedächtnis zu holen.

Ergänzt werden die ausführlichen Portraits durch zwei weitere Kapitel mit kurzen Vorstellungen von Dichtern und ihren Büchern. In „Ein Blick zurück nach vorn“ werden unter anderem Oskar Maria Graf, Theodor Kramer, Franz Hessel und andere erwähnt, bei „Büchern, über die einst jeder sprach“ sind Werke von Gertrud Kolmar, Ernst Weiß, Johannes R. Becher und anderen zu finden. Dies sowie die zahlreichen Abbildungen – neben den eindrucksvollen, berührenden Portraits von Wilhelm Bauer auch Original-Cover, Archivfotos und Illustrationen – sowie ein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis machen diesen Band zum Dokument einer literarischen Epoche, die beinahe aus unser aller Gedächtnis gelöscht worden wäre.

Und zu einem Buch, das zeigt, wie gefährdet das geschriebene Wort und seine Schöpfer immer wieder sind. Jürgen Serke im Nachwort:

„Die Nacht war lang im 20. Jahrhundert der Totalitarismen. Seit 1989 ist die europäische Welt wieder vereint. Mit dem Überfall der Ukraine durch Russland senkt sich wieder Dunkelheit auf Europa und zeigt, wie aktuell die Aufgaben des Zentrums für verfolgte Künste geblieben sind. Wieder spielt der Widerstand eine überragende Rolle.“

Die Literatursammlung von Jürgen Serke mit ihren über 2.500 Objekten (Büchern, Dokumenten, handschriftlichen Briefen, Typoskripten und Fotos) ist als Dauerausstellung mit dem Titel „Himmel und Hölle zwischen 1918 und 1989. Die verbrannten Dichter“ im Zentrum für verfolgte Künste im Kunstmuseum Solingen zu sehen.



Bibliographische Angaben:

Jürgen Serke
“Die verbrannten Dichter”
Lebensgeschichten und Dokumente
Wallstein Verlag, 2023
ISBN: 978-3-8353-5388-6