Karen Gershon: Das Unterkind

Käthe Loewenthal gelangte 1938 noch mit einem der letzten Kindertransporte nach England. Dort wurde sie als Schriftstellerin Karen Gershon bekannt. Doch es dauerte Jahrzehnte, bis sie eine Form für die Erzählung ihrer Kindheit fand.

„Sie hatte ihren Koffer auf die Erde gestellt, damit sie die Hände frei hatte, um ihre Mutter zu umarmen – weil das von ihr erwartet wurde, nicht weil ihr danach zumute war. (…) Und als sie sich umsah, stand Lise noch bei ihrer Mutter, ihr fiel es schwerer als Käthe, sich von ihr zu trennen, und das machte Käthe deutlich, dass sie es verpasst hatte, genug Trennungsschmerz zu zeigen.“

Karen Gershon: “Das Unterkind”


Der Trennungsschmerz wird Käthe Loewenthal später mit voller Wucht treffen. Er wird sie ihr ganzes Leben lang begleiten. Käthe ist 15, als sie mit ihrer Schwester Lise mit einem der letzten Kindertransporte den Nationalsozialisten nach England entkommt. Auch ihrer älteren Schwester Anne wird die Flucht noch gelingen. Aber die Mädchen ahnen nicht, dass sie ihre Eltern Paul und Selma nie wiedersehen werden. Paul verstirbt vermutlich in Riga, Selma kommt wahrscheinlich im Konzentrationslager Auschwitz um.

Der Verlust der Familie, der Heimat, der plötzliche Abschied: All das trägt Käthe, die sich später Karen Gershon nennt, mit sich herum. Sie trägt, wie sie es auch in ihrer Autobiographie ausdrückt, an der Schuld der Überlebenden. Es prägt ihre Beziehungen, nicht zuletzt auch zur ein Jahr älteren Lise (Anne verstirbt früh in London an einer Krankheit):

„Jede lebte, als wäre sie die einzige Überlebende, beinahe als wäre die andere auch gestorben.“

Käthe Loewenthal, die bereits als Jugendliche mit Gedichten in der Jüdischen Rundschau ihr schriftstellerisches Talent beweist, wird später unter ihrem neuen Namen Karen Gershon mit einigen Lyrikbänden, Romanen und der 1966 erschienen kollektiven Autobiographie „Wir kamen als Kinder“ bekannt.

Erst nach Jahrzehnten kann sie über ihre Kindheit schreiben

Aber es wird Jahrzehnte dauern, bis sie in der Lage ist, die Geschichte ihrer eigenen Kindheit und Jugend bis zum Tag der Flucht im Jahr 1938 autobiographisch zu erzählen. Immer wieder arbeitet sie das Manuskript um, ringt mit der Form, mit dem Ausdruck. Sie entschließt sich, die Erinnerungen nicht in der Ich-Form zu verfassen, sondern eine (notwendige) Distanz zwischen sich und die Erzählerin zu bringen. Es ist Käthe, die von der wohlbehüteten Kindheit in einer zunächst gut situierten Familie erzählt, von der zunehmenden Ausgrenzung, der damit einhergehenden Armut und sozialen Isolation. Karen Gershon sagte dazu:

„Das ist eine Autobiografie, von mir so wahrheitsgetreu wie möglich erzählt.  Ich war nur nicht in der Lage, über mich selbst in der ersten Person zu schreiben. Käthe, das bin ich, so hieß ich in meiner Kindheit.“

„A lesser child“ erscheint 1992 im Rowohlt Verlag und erst ein Jahr nach ihrem Tod in einer englischsprachigen Ausgabe. Das lange vergriffene Buch wurde nun in der ursprünglichen Übersetzung von Sigrid Daub beim Lilienfeld Verlag wieder aufgelegt. Man muss dem Verlag dafür danken: Denn ähnlich wie Victor Klemperers Tagebücher lässt diese Autobiographie nachvollziehen, wie die Welt für die deutschen Jüdinnen und Juden ab 1933 täglich ein Stück enger und dunkler und die Luft zum Atmen stetig dünner wird. Und obwohl sich der Antisemitismus steigert und die jüdische Bevölkerung insbesondere nach dem Erlass der Rassengesetze offener Verfolgung ausgesetzt ist, glauben auch Käthe und viele ihrer Angehörigen noch nicht, dass eine Steigerung dieses Hasses möglich sei:

„Bis sie zwölf Jahre alt war, glaubte Käthe, das Unheil, das ihr widerfuhr, weil sie Jüdin war, würde innerhalb der Grenzen des Erträglichen bleiben.“

Als die älteste Schwester Anne mit dem Gedanken spielt, Zionistin zu werden, verwirft sie dieses wieder. Sie sei deutscher als der Österreicher Hitler, und lasse sich von den Nazis nicht nach Österreich vertreiben:

„Zu der Zeit glaubte niemand, dass die übrigen Deutschen den Nazis einfach erlauben würden, mit den Juden zu machen, was sie wollen.“

Es sind die Wechsel zwischen den Szenen einer „ganz normalen“ Kindheit und Jugend mit all ihren Freuden und Nöten – der Zusammenhalt und die Rivalität zwischen den drei Schwestern, den kindlichen Spielen, die Freude an Festen und Familientreffen, das Entdecken eigener Talente, das erste Verliebtsein – und den Eindrücken von einer immer bedrohlicher werdenden Außenwelt, die diese Erzählung so eindrucksvoll und bedrückend zugleich machen.

Ein wertvolles Zeitdokument

Der Erzählton ist spröde und verstärkt den Charakter eines Dokuments, das aus der Distanz einen nüchternen Blick auf die Vergangenheit wirft. Immer wieder ergänzt Karen Gershon kommentarlos Erzählungen von Verwandten und Freunden mit einem Satz zu deren späteren Schicksal, fügt nüchtern an, in welchem Konzentrationslager die jeweiligen Personen ermordet wurden oder wo sie verschwanden.

Aber auch ihre eigene Persönlichkeit und Entwicklung betrachtet sie aus der Position des Alters mit nüchterner Strenge:

„Ihre buschigen Augenbrauen waren eng zusammengezogen: ein Mädchen, das für seine Jahre zu alt war, dem das Talent zu leben fehlte und das sich selbst ernster nahm, als ihm guttat.“

Sie, die jüngste der drei Schwestern, fühlt sich schon vor ihrem zehnten Lebensjahr, als die Nazis an die Macht kamen, als „Unterkind“:

„(…) sie selbst hetzt sich ab, physisch, aber auch im übertragenen Sinn, um ihre Schwestern einzuholen. Die Tatsache, dass es ihr nie gelang, hat sie wohl zu der Überzeugung gebracht, ein Unterkind zu sein (…)“

Durch die Machtergreifung wird dieses Unterkind-Gefühl quasi verdoppelt, erlebt Käthe den Bruch von Freundschaften, weil Arier nicht mehr mit Juden verkehren dürfen oder auch wollen, die zunehmenden Verbote, den Ausschluss aus der evangelischen Schule. Auch im jüdischen Landschulheim Herrlingen – eine von drei Einrichtungen dieser Art, die von den Nationalsozialisten noch bis 1939 geduldet wurden – verliert Käthe, wo sie fernab der Familie noch einige Zeit Schulunterricht erhalten kann, dieses „Unterkind“-Gefühl nicht, misst sich mit anderen Schülern und fühlt sich unter Wert:

„(…) sondern auch weil Käthe das, was sie konnte, immer für weniger wichtig hielt als das, was sie nicht konnte.“

Die Reflektionen über diese Käthe mit ihren ganzen Eigenheiten aus der zeitlichen Distanz heraus machen dieses Buch auch zu einem besonderen Stück Literatur über das Heranwachsen eines Mädchens in bedrückenden Zeiten.

Zumindest erlebt Käthe durch den Aufenthalt in Herrlingen noch eine Gemeinschaft mit gleichaltrigen Jugendlichen, erhält sogar ein Zertifikat zur Einwanderung für Palästina, als die Reichspogromnacht auf einen Schlag hin die Situation für die deutschen Juden nochmals verschärft. Zu den bedrückendsten Szenen des Buches gehört es, wie Käthe diese Nacht und den darauffolgenden Tag in Bielefeld erlebt, wie die jüdische Gemeinschaft ängstlich zusammenrückt, wie man hinter verschlossenen Türen und Fenstern versucht, sich Halt zu geben.

Flucht nach der Reichspogromnacht

Nach dieser furchtbaren Nacht beschließen die Eltern, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Abschied von Kindheit und Jugend geht für Käthe und Lise rasend schnell. Das Buch schließt mit einem letzten Blick auf Bielefeld, ein Name, der für Karen Gershon ihr Leben lang für den großen Verlust, den sie erfahren musste, steht:

„Unmittelbar nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, kam rechts der jüdische Friedhof. Dann folgte links das Symbol Bielefelds, die Burg Sparrenberg, aber vorher noch auf der gleichen Seite die Puddingpulverfabrik von Oetker. Ihr Geruch, ein Geruch, der zu ihrer Kindheit gehörte, umgab sie, bis all die vertrauten Gegenden – Brackwede, der Wald, die Heide – hinter ihnen lagen.“


Bibliographische Angaben:

Karen Gershon
Das Unterkind
Übersetzt von Sigrid Daub
Lilienfeld Verlag, 2023
ISBN 978-3-940357-97-7

Mike Johansen – ein wiederentdeckter Autor ukrainischer Literatur

Mike Johansen darf als einer der begabtesten Vertreter der “erschossenen Wiedergeburt” gelten, eine Generation ukrainischer Intellektueller, die dem Stalin-Terror zum Opfer fielen. Sein wichtigster Roman zeigt, wie eng verbunden er sich kulturell mit Westeuropa fühlte.

„Selbst der Stein, der rissig und verschlafen zwischen zwei alten Eichen am abgelegten Ufer des bewaldeten Dinez liegt und auf dem emsige, rotbraune Ameisen umherwandern – auch er reist. Nun ist der Mensch aber kein Stein. Der Mensch will mindestens die Umgebung seines Zuhauses bereisen, noch mehr aber ferne Länder.“

Mike Johansen, „Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz“


Wer die Slobidische Schweiz auf einer Landkarte sucht, wird dies vergebens tun: Es ist ein Toponym, eine Metapher. Mike Johansen (1895 – 1937), einer der prägendsten ukrainischen Schriftsteller seiner Generation, zeichnet das Bild einer atemberaubend schönen Region, „ein Netz aus Seen und Biegungen“ und einer „Vielzahl dunkler bewaldeter Berge“, die jedoch allein in der Imagination des Schriftstellers besteht. Und doch eine symbolhafte Bedeutung für ihn und seine Altersgenossen hat: Sie steht für eine Ukraine, die sich kulturell, literarisch und politisch eng mit Europa verbunden fühlt.

Seine Vision von einer eigenständigen ukrainischen Literatur, die in der westeuropäischen Tradition verankert ist, bezahlte Mike Johansen mit dem Leben: 1937 wurde er wegen „ukrainischem Nationalismus“ in Charkiw verhaftet und am Jahrestag der Oktoberrevolution am 27. Oktober in Kiew bei einer Massenhinrichtung erschossen. Knapp zwanzig Jahre später erschien in Paris ein Lyrikband unter dem Titel „Die erschossene Wiedergeburt“, der den ukrainischen Schriftstellern gewidmet war, die dem Stalinistischem Terror zum Opfer fielen. Mike Johansen darf als einer ihrer begabtesten, eloquentesten Vertreter gelten.

Sonnenuntergang am Dnjepr. Bild von Александр Красовский auf Pixabay

Und so ist die deutsche Erstübersetzung dieses burlesken Romans mit seinem sperrigen Titel auch eine Art „Wiedergeburt“, die von hoher Bedeutung in Zeiten des russischen Angriffskrieges ist: Man kann das Buch nicht lesen, ohne Zorn und Wut zu empfinden über eine Diktatur, deren brutaler Vernichtungswille ein Jahrhundert später wieder darauf abzielt, die lebendige, ukrainische Kultur und ihre Protagonisten zu zerstören.

Burleske Reise mit dadaistischen Zügen

Dabei bietet die von grotesken Vorkommnissen und Wendungen übersprudelnde Reise des Gelehrten Leonardo selbst genügend Stoff zum Amüsement. Und führt die Leser fortlaufend in die Irre (was nicht sonderlich dramatisch ist, solange sie sich in der schönen Slobidischen Schweiz befinden). Denn zunächst folgt man einem Don José Pereira, einem selbsternannten Tyrannenmörder aus Barcelona, der wiederum im Körper von Danko Charytonowytsch Pererwa, Mitglied des steppischen Bezirksverwaltungskomitees, haust und später in der Inkarnation eines Wolfes wieder auftritt – als hätte Mike Johansen das Schicksal der erschossenen Wiedergeborenen vorausgeahnt. Neben Anleihen aus der Welt der Fabel und dadaistischen Zügen schöpft das Buch zugleich aber auch aus dem Reichtum der slawischen Literatur, insbesondere festzumachen am sonstigen Personal, unter anderem verkörpert durch eine alte „Baba“, einem stets betrunkenen Bauern und einem sinistren Baumpflanzer.

Derweil tritt der von Schopenhauer geprägte Leonardo seine Reise an, die insbesondere zum Ziel hat, die zukünftige Geliebte zur gegenwärtigen Geliebten zu machen. Die Slobidische Schweiz soll mit ihrer Naturschönheit die Dame entsprechend beeindrucken. Der Weg ist jedoch nicht nur das Ziel, sondern bereits das vorgezeichnete Ende:

„Er dachte an die langen Jahre der Reise mit der schönen Alceste, die schönen, unvollendeten Jahre. Heute sollten sie zum ersten Mal vollendet werden. Er wusste, dass diese erste Vollendung für ihn nicht die letzte sein würde (…). Aber er wusste auch, dass dieser Reichtum und diese Fülle bald zur Neige gehen würden, vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem halben Jahr, sie würden jedenfalls austrocknen und sich erschöpfen.“

Ob Leonardo, diese Mischung aus Don Juan und Don Quichotte, zum Zuge kommt? Eigentlich egal, wie es Mike Johanson im Epilog kurz und knapp auf den Punkt bringt, denn: „Ich habe sie erfunden.“

Personal als dekorative Pappkameraden

So ist der Roman, in dem immer wieder ein allwissender Erzähler auftritt, der beispielsweise Exkurse über „Zoologieliteraturhistoriker“ bietet, auch ein Buch, das über das Schreiben und die Poetologie reflektiert: Was will ein Autor, ein Schriftsteller transportieren, wozu dient eine Geschichte? Mike Johansen klärte über seinen Ansatz in einem Nachwort auf:

„Landschaft kann in der Literatur also in der herkömmlichen deskriptiven Form nicht adäquat behandelt werden. Aber falls ein Autor zufällig auf die Idee kommen sollte, die reziproken Rollen von Landschaft und handelnden Personen zu vertauschen, wäre das eine andere Sache.“

Mit anderen Worten: Leonardo und Alceste sind in Mike Johansens Auffassung „reine Pappkameraden“ und „bewegliche Dekoration“, die den Landschaftsroman lesbar machen, weil der Leser ihren Wegen folgt. Das Mittel zum Zweck, um eine imaginäre Landschaft zu beschreiben, die für Mike Johansen, den polyglotten und mehrsprachigen Poeten mit lettischen, deutschen und skandinavischen Wurzeln die geistige Heimat war: Die ukrainisch-europäische Literatur.

Doch ganz gleich, unter welchen Vorzeichen man diesen von fantastischen Einfällen übersprudelnden Roman liest, ob unter dem Eindruck des derzeitigen oder des vergangenen Terrors gegen die Ukraine, ob als Literaturexperiment, als Landschaftsroman oder imaginären Reiseführer, eines ist gewiss: Die Reise des Gelehrten ist eine fabelhafte Wiederentdeckung, ein quirliges, überwältigendes Lesevergnügen.  


Bibliographische Angaben:

Mike Johansen
Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz
Übersetzt von Johannes Queck
Secession Verlag, 2023
ISBN 978-3-96639-064-4

MeinKlassiker (38): Warum Transit für Sibylle Schleicher immer noch aktuell ist

Für die Schriftstellerin Sibylle Schleicher ist “Transit” ein Roman, den sie immer wieder liest. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen. Ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt. Ein Beitrag in der Reihe #MeinKlassiker.

Die Schauspielerin, Sängerin, Lyrikerin, Theater- und Romanautorin Sibylle Schleicher nennt sich selbst eine Fünfkämpferin, ist sie doch in Schielleiten, in einer Bundessportschule Österreichs, geboren.

Zuletzt erschien von ihr im Chronos Verlag das Stück: ‚In einem kühlen Grunde‘ – eine schwarze Komödie, die im Theater im Turm in Regensburg im April uraufgeführt wurde. Ihr letzter Roman „Die Puppenspielerin“, der im Alfred Kröner Verlag im Herbst 2021 erschienen ist, wurde im Dezember 2022 als Bühnenadaption in der Theaterei Herrlingen uraufgeführt. Mit Olivera Stosic-Rakic hat sie die künstlerische Leitung des Literaturprogramms beim Internationalen Donaufest 2024 inne.

Und trotz ihrer zahlreichen kreativen Verpflichtungen ist Sibylle Schleicher, die bei Ulm lebt, immer auch gesellschaftlich engagiert. So ist sie als Ehrenmitglied des Stiftungsrats: ‚Stiftung Erinnerung‘ kreativ für das Dokumentationszentrum Ulm tätig, aktiv für Theaterprojekte im professionell integrativen Theater Heyoka (Ulm) und engagiert sich ehrenamtlich für Asylsuchende.

Ihr Klassiker hat mit letzterem zu tun: „Transit“ von Anna Seghers – dies zeigt auch die Verfilmung durch Christian Petzold aus dem Jahr 2018 – ist (leider) zeitlos und aktuell. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen – ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt.


Ein Gastbeitrag von Sibylle Schleicher

Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern.“

Juni 2023. Griechenland. Am frühen Mittwochmorgen kentert ein hoffnungslos überladenes Flüchtlingsboot westlich der Halbinsel Peloponnes. Hunderte Männer auf dem Deck, Frauen und Kinder unter Deck – an die 750 Insassen. Menschen wurden gerettet, Leichen wurden geborgen. Es war das bisher schwerste Bootsunglück vor der griechischen Küste, sagt die Internationale Organisation für Migration. Einmal mehr geht der Streit um Schuld und Verantwortung los. Einmal mehr in diesen vergangenen Jahren. Und die, die gerettet worden sind, werden erfahren, wie wenig Chancen sie auf Asyl haben.

In der Woche davor höre ich im Radio Diskussionen um das Screening-Verfahren an den Außengrenzen. Nach wie vor geht es um Grenzsicherung und nicht um die Menschenrechte der schutzsuchenden Menschen. Das Screening bestimmt, welches Asylverfahren die geflüchteten Menschen bekommen. Sie selbst haben keine Rechtsmittel zur Verfügung. Sie zählen als ‚nicht eingereist‘, obwohl sie bereits eingereist sind. Sie sind gezwungen, in den Massenlagern an den Außengrenzen auf weitere Verfügungen zu warten. Illegale Pushbacks, bei denen die Schutzsuchenden gewaltsam an den Grenzen abgewiesen werden, sind an der Tagesordnung. Hinter all den statistischen Fakten und politischen Diskussionen stehen individuelle Schicksale, steht eine eigene Geschichte. Oft bleibt sie unerzählt. Nicht nur, weil die Betroffenen nicht fähig sind, darüber zu reden, auch, weil es an Zuhörern fehlt. Dabei würden uns diese Geschichten helfen, mehr zu verstehen, auch zu begreifen, wo unser Handeln ansetzen kann. Und immer wieder denke ich an Anna Seghers‘ ‚Transit‘.  

„Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.“

Winter 1940/41. Marseille. Flüchtlinge aus allen Ländern Europas treffen zu Tausenden in dieser Hafenstadt ein, um eine Schiffspassage irgendwohin zu ergattern, auf einem Schiff, das sie aus dem brennenden Europa der Nazis wegbringt. Unter ihnen der Ich-Erzähler, dessen wirklichen Namen wir nicht erfahren.

„Transit“ beginnt mit dem Ausgang der Geschichte. Der Ich-Erzähler hat erfahren, dass die „Montreal“ auf eine Mine lief und zwischen Dakar und Martinique untergegangen ist. Er sitzt in einer Pizzeria und lädt einen Gast auf Pizza und Rosé ein, um sich dessen Zuhörerschaft zu sichern. Er möchte „alles einmal von Anfang an erzählen.“ Wie er 1937 aus dem Konzentrationslager geflohen und über den Rhein geschwommen ist, wie ihn die Franzosen ohne Papiere in ein Arbeitslager bei Rouen internierten, wie er wieder entkommen konnte und 1940 in Paris landete. Die Deutschen marschierten gerade in Frankreich ein. Er lebt vorübergehend bei Freunden, der Familie Binnet. Durch einen Zufall gelangt er an den Koffer des toten Schriftstellers Weidel und verspricht, diese karge Hinterlassenschaft bei den Verwandten des Toten abzugeben. Das gelingt nicht und ehe er eine Lösung dafür findet, ist er wieder auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Mit einem auf den Namen Seidler gefälschten Pass verschlägt es ihn mitsamt Koffer, dessen Inhalt er mittlerweile genau kennt, nach Marseille.

Dort hat er Verbindung zur weiteren Binnet-Verwandtschaft und dort lernt andere Emigranten kennen, die alle nur so schnell wie möglich auswandern wollen. Es ist ein Hetzen nach den richtigen Papieren durch ein Labyrinth von Behörden. Dem neuen Seidler jedoch gefällt es in Marseille. Er würde gerne bleiben. Aber auch das ist nicht so einfach erlaubt. Bei einem weiteren Versuch, Weidels Koffer auf dem mexikanischen Konsulat abzugeben, hält man ihn selbst für Weidel, der um eine Ausreisegenehmigung ansucht. Er klärt den Irrtum nicht auf. Nimmt vielmehr Weidels Identität an. Während der eisigen Wintertage, in denen er seine Abreise vorbereitet, lernt er Marie kennen. Eine Frau, die mit einem Arzt zusammenlebt, gleichzeitig aber auf der Suche nach ihrem Mann rastlos durch die Cafés der Stadt streift. Seidler, mittlerweile Weidel, verliebt sich in sie und auch als er begreift, dass sie die Frau des Toten ist, zögert er zu lange, sie über das Schicksal ihres Mannes aufzuklären. Durch glückliche Fügungen erhält er eine Passage nach Übersee. Doch er gibt sie zurück. Er bleibt im Land. Marie hingegen kann er zur Ausreise mit dem Arzt auf der „Montreal“ bewegen. Die beiden kommen auf dem Weg in die erhoffte Freiheit ums Leben.

Transit steht bei Anna Seghers nicht nur für das Durchreisevisum. Transit steht für ein ganzes Durchgangsstadium verbunden mit einem ständigen Auf und Ab zwischen Hoffnung und Todesangst, verbunden mit dem Verlust von Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zu namenlosem Gesindel, das jederzeit herumgeschoben werden darf. Ihr Wert misst sich an ihren Papieren und ihrem Geld.

Anna Seghers, die selbst 1940 als jüdische Kommunistin mit ihren Kindern aus Paris flüchtet und 1941 in Mexiko landet, beschreibt nicht nur das einzelne Schicksal von Flucht und Exil des Ich-Erzählers. Sie greift viele Geschichten auf, flicht sie in den Roman ein, indem sie dem Protagonisten erzählt werden. Er, der in dieser Durchgangsphase keine eigene Identität mehr hat, sondern nur eine gefälschte und eine geliehene/gestohlene, bleibt dadurch trotzdem authentisch, auf dem Boden der Tatsachen, bei sich und gleichzeitig mitfühlend bei den anderen, noch fähig zu zuhören und mit zu leiden. Er hat Glück, dass er so etwas wie einen Familienanschluss bei den Binnets hat. Die soziale Wärme erdet ihn, lässt ihn seine Flucht reflektieren. Seghers bezieht mit der Familie Binnet das gewöhnliche Leben inmitten dieses chaotischen Treibens ein, lässt ahnen, wie es sein könnte, wenn alle Flüchtlinge Anschluss zu ansässigen Familien hätten. Sie beschreibt aber gerade durch diese beinahe freundschaftliche Vertrautheit auch die Einsamkeit und Fremdheit derer, die nur auswandern wollen, sich an nichts binden, weil sie ohnehin nicht bleiben. Es ist eine Welt, in der es keinen richtigen oder falschen Weg gibt. Nichts ist im Voraus berechenbar. Die rettende Schiffspassage kann einen auch in den Tod führen.

Anna Seghers mit Leserinnen. Bundesarchiv, Bild 183-47613-0003 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Mit ihrer direkten und klaren Sprache nimmt Anna Seghers uns unmittelbar mit in eine starke Bilderwelt. Der Leser ist quasi Gast des Erzählers in der Pizzeria, erlebt seine zermürbende Odyssee durch Städte und Ämter mit, friert mit ihm im kalten Regen und Wind, bangt mit ihm, dass er seine Papiere zur rechten Zeit bekommt – die Lagerentlassungspapiere, den Pass, das polizeiliche Führungszeugnis, das Ausreisevisum, das Transitvisum, das Einreisevisum usw.­– alles in der richtigen Reihenfolge, selbst wenn er weiß, dass es Papiere für einen Toten sind. Und schließlich hofft der Gast auf einen guten Ausgang, nicht nur für den Protagonisten, auch für alle anderen, die durch ihre einzigartigen Lebensgeschichten nahegerückt sind.  

„Welchen Zweck sollte das haben, Menschen zurückzuhalten, die sich doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“  

Herbst 2017. In einem Dorf bei Ulm. Im Asyl-Café. Die Asylsuchenden aus Afghanistan ducken sich, wenn ein Unbekannter ins Café kommt. Das zermürbende Warten auf endgültige Entscheidungen über ihren Asylantrag, lässt sie nicht schlafen. Sie trauen keinem mehr, reden über Suizid.  

Winter 2017. In einem Dorf bei Ulm. Neue Asylsuchende sind angekommen. Aber nicht aus einem anderen Land, nur aus einem Heim in der größeren Stadt. Ein junger Mann aus Ghana erzählt mir seine Geschichte. Seit zweieinhalb Jahren ist er im Land und immer noch ohne Papiere. Sein Haus in Ghana ist drei Mal abgebrannt. Auf dem Weg nach Europa ist das Schlauchboot untergegangen. Er ist einer der wenigen Überlebenden. Das Leben gerettet, die Papiere nicht. „Wer weiß, was an der Geschichte wahr ist“, sagen sie um ihn herum. Er kann nicht beweisen, dass er aus Ghana ist, wird dem Senegal zugeordnet. Er wartet auf den Übersetzer, der seine Sprache für die Ämter bestätigten soll. Inzwischen bewegt sich nichts. Junge Menschen ohne Perspektive, ‚verwarten‘ ihre lebendigsten Jahre.

Warten spielt auch in „Transit“ die nahezu größte Rolle. Warten vor dem Konsulat, in den Cafés, am Kai, im kargen Hotelzimmer. Ein zehrendes Warten, das alle Lebensenergie aus einem herausziehen kann. Warten, in das sich bisweilen Langeweile mischt, vor allem aber Angst und Ungeduld.

„Transit“ ist eine von vielen vergleichbaren Geschichten, die unsere Vergangenheit prägen und sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Eine Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg verankert ist, mit ihm und seinen politischen Auswirkungen zu tun hat, so gesehen eine unzeitgemäße Variante dieses Themas sein könnte. Denn dass das Thema Emigration selbst hochaktuell ist, muss man nicht weiter ausführen. Dass auch heute viel darüber geschrieben wird und wir mit den Schicksalen der Flüchtlinge in allen Medien konfrontiert werden, ist nicht zu bestreiten. Warum also so eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert ausgraben? Einerseits, weil Anna Seghers Sprache uns noch ganz direkt erreicht und ohne Larmoyanz oder Härte zu berühren vermag. Und anderseits, vielleicht gerade weil der Blickwinkel ein anderer ist, weil man sich durch die zeitliche Distanz viel eher Vergleiche anzustellen traut. Man wähnt sich in sicherem Abstand und kann plötzlich die Realität anders zulassen. Man hält es aus, die Nahaufnahmen anzuschauen. Und wie der Ich-Erzähler zu Mitgefühl findet, indem er zuhört, können auch wir zu einer größeren Durchlässigkeit und Empathie den aktuellen Geschehnissen gegenüber gelangen, sie in unser Leben einbeziehen und nicht außen vorlassen.  

„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“  

Mai 2023. Andau. An der Brücke. Es regnet, leichter Nebel liegt über dem Wasser. Außer uns ist heute keiner da. Das Wetter zu unwirtlich. Die Kälte kriecht unter unsere Jacken. Ich gehe langsam über die Brücke. Unter ihr der Einser Kanal. Im Hinterkopf eine leichte Ahnung, wie es 1956 gewesen sein könnte. Es ist nicht mehr die Brücke, über die mehr als 70.000 Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gekommen sind, weil diese Brücke damals von den sowjetischen Truppen gesprengt wurde, aber viele Zeichen erinnern rundum an die Zeit. Internationale Künstler und Künstlerinnen säumen hier mit ihren Werken im Sinne des historischen Geschehens das Gelände mit ihren Objekten und Skulpturen. Vor und hinter der Brücke stehen Informations– und Gedenktafeln, Grenzsteine, Landesschilder. Im Regen nimmt man all die Zeichen nicht so genau wahr, denkt nur daran, wie sich die Menschenmengen über die Brücke geschoben haben, nachdem sie zuvor schon tagelang auf der Flucht waren. Warten, Chaos und Angst vor der Grenze zum Burgenland. Wie in Anna Seghers ‚Transit‘, denke ich wieder. Nur ganz anders. Aber dann doch nicht anders. Flucht und Migration, ein zeitloses Thema. Menschen fliehen, weil ihr Leben in Gefahr ist, sie fliehen vor Willkür, Gewalt und Zerstörung. Sie fliehen, weil sie Ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil sie Hoffnung haben auf ein besseres Leben. Niemand verlässt ohne einen wichtigen Grund sein zu Hause.

Über das Burgenland wurden die Flüchtlinge unter anderem weiter in die Steiermark gebracht und auf Flüchtlingslager verteilt. 116 Flüchtlingslager verschiedener Größen gab es 1956/57 in der Steiermark. Eines davon war Schloss Schielleiten im Bezirk Hartberg, eine der Bundessportschulen Österreichs. 105 Flüchtlinge fanden dort im Winter 1956 vorübergehend eine Bleibe. Mein Vater war zu dieser Zeit Verwalter dieses Betriebs. Damals sind Freundschaften entstanden, die unser aller Leben bis heute begleiten. Darüber will ich unter anderem in meinem neuen Roman: ‚Die Kinder von Schielleiten‘ (Arbeitstitel) erzählen.

Sibylle Schleicher
https://sibylleschleicher.de/


Buchausgaben:

Die Werke von Anna Seghers erscheinen im Aufbau Verlag.
Transit ist als Hardcover innerhalb der Werkausgabe erhältlich,
als Taschenbuch und Ebook.

Taschenbuch:
Anna Seghers
Transit
Aufbau Verlag, 2018
ISBN: 978-3-7466-3501-9

Emma Bonn – Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin

Emma Bonn (1879 – 1942) entstammte einer großbürgerlichen deutsch-jüdischen Familie. Für sie war das Schreiben auch eine Flucht aus familiärer Enge. Ein selbstbestimmtes Leben als Schriftstellerin konnte sie jedoch nicht lange führen. 1942 starb sie in Theresienstadt.

Am Starnberger See. Bild von Albrecht Fietz auf Pixabay

Traum-Deutung

Noch traumverhängt sprach ich von Menschenbeet
Und wusste doch zuvor nicht um das Wort.
Ein kühler Raum, drin Bett an Bette steht,
Ein großer wohlgehegter Krankenhort.

Die Reihen eng, so wie man Pflanzen setzt,
Die großen in der Mitte, rings die kleinen.
Im Traum betrat ich ihn, von Angst gehetzt
Und ganz erschöpft von dem verhaltnen Weinen.

Ein andrer fing das Wort vom Mund mir auf
Und gab ihm Deutung, Werden und Vergehen,
Des Menschenschicksals ewiger Verlauf,
Trotz des Gesetzes, dem wir unterstehen.

Emma Bonn, 1936


Es ist, als habe Emma Bonn in der „Traum-Deutung“ ihr späteres Schicksal schon vorausgesehen: Im Mai 1942 muss die 63-jährige Frau ihr Haus am Starnberger See, wo sie lange Jahre lebte, verlassen. Sie wird in das Israelitische Kranken- und Schwesternheim in München abtransportiert, eine Sammelstelle für Menschen jüdischen Glaubens, die in die Lager deportiert werden. Noch im Juni 1942 wird die schon seit Jahren schwerkranke und bettlägerige Frau nach Theresienstadt transportiert, wo sie am 24. Juni 1942 stirbt.

Ein Schicksal, wie es Millionen von Jüdinnen und Juden erlitten. Und wie viele andere Opfer des Nationalsozialismus wäre auch Emma Bonn – zudem als alleinstehende Frau, deren Verwandte entweder ebenfalls im Holocaust ermordet wurden oder ins Exil gingen – vergessen, gäbe es da nicht Menschen, die stetig erinnern und gegen das Vergessen arbeiten. In diesem Fall Angela von Gans, eine Großnichte der Schriftstellerin und Dichterin.

Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte

„Wenn ich mich mit Lebensgeschichten von Deutschen jüdischen Glaubens – meist im weiteren Sinne Mitgliedern meiner Familie – befasse, steht dahinter ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit, denn ich glaube fest an die individuelle Verantwortung eines jeden Deutschen, Verständnis dafür zu entwickeln, was damals in der Zeit des Nationalsozialismus passierte“, schreibt Angela von Gans im Vorwort zu ihrem Buch über ihre Großtante, das 2021 in der STROUX edition erschien.

Wie ihre Biographin entstammte die 1879 in New York geborene Emma einer der assimilierten jüdischen, großbürgerlichen Familien aus Frankfurt, die nicht nur die Mainmetropole durch ihr bürgerschaftliches Engagement bereicherten. In Frankfurt erinnert heute noch die Villa Bonn, Sitz der Frankfurter Gesellschaft, an die Familie: Emmas Vater Wilhelm Bernhard hatte das repräsentative Haus 1897 erbauen lassen, das Emma und ihr Bruder Max 1923 an die Frankfurter Gesellschaft verkauften. Auch Emma Bonn selbst zeichnete sich durch Wohltätigkeit an ihrem Wohnsitz in Feldafing am Starnberger See aus, eines der akribisch recherchierten Details, die in die Emma Bonn-Biographie eingeflossen sind.

Emmas Vater hatte den Grundstein für den Wohlstand seiner Familie in den Vereinigten Staaten gelegt: Mit 19 Jahren ging er nach einer Bankausbildung in Frankfurt zu „Speyer & Co“ nach New York, wo er wenige Jahre später bereits Geschäftsführer wurde und in dieser Funktion den Bau der Eisenbahnlinien „Central & Southern Pacific“ und „Union Pacific“ finanzierte.

Früher Tod der Mutter prägt die Familie

Der frühe Tod von Emmas Mutter, die kurz nach deren Geburt verstarb, legte einen Schatten über die Familie: Emma, ein kreatives, verträumtes, aber auch von Beginn an kränkliches Kind, litt unter ihrer Einsamkeit und einer despotischen Großmutter. 1933 schrieb sie:

Was wirklich lebt, kann nie und nie ersticken
Es keimt und sprosst und grünt, es steigt der Saft,
Mag Dich die Zeit, in der du lebst, auch nicht erquicken,
Die Zeit, in der du lebst, hält Dich in Haft.

Auch die Rückkehr der Familie nach Frankfurt änderte an ihrer Situation wenig. Angela von Gans schreibt:

„Ihren Traum, Opernsängerin zu werden, kann Emma nicht durchsetzen, da sie als Frau bei der Berufswahl auf die Einwilligung ihres Vaters angewiesen ist. Die Bühne ist nach Wilhelm Bonns Ansicht nicht standesgemäß. Außerdem findet er seine Tochter dafür zu zart und anfällig.“

Unveröffentlichte Gedichte spät wieder entdeckt

Für Emma Bonn wird das Schreiben zum Ventil und Ausdrucksmöglichkeit. In der Folge kommen aus ihrer Feder Novellen, Erzählungen, Romane und Lyrik, vieles davon heute jedoch verschollen und vergessen. Es ist der Arbeit des Arbeitskreises „Feldafinger Chronik“, der 2006 beschloss, Emma Bonn zu würdigen, zu verdanken, dass ihr autobiographischer Roman „Kind im Spiegel“ (1935) wieder ausfindig gemacht wurde. Und Angela von Gans erhielt unerwartet von einem amerikanischen Familienmitglied eines Tages ein Paket mit unveröffentlichten Gedichten von Emma Bonn, für die vorliegende Biographie besorgte die Lyrikerin Dagmar Nick eine Auswahl.

Ab 1910, dem Todesjahr des Vaters, wandelt sich das Leben Emmas von Grund auf:  Sie und ihr Bruder Max erben das große Vermögen, zur finanziellen Unabhängigkeit kommt 1913 mit dem Kauf eines Hauses am Starnberger See auch ein Leben, das nicht mehr allzu sehr von der Atmosphäre einer erdrückenden Großfamilie geprägt ist – in Frankfurt und Kronberg leben zeitweise ganze Zweige der Bonn-Familie unter einem Dach. In Bayern pflegt Emma Bonn einen regelmäßigen Kontakt unter anderem zu Thomas Mann und Bruno Frank, zwar, so schreibt auch Angela von Gans, gibt es keine wirkliche kollegiale Wertschätzung, „aber sie wird wahrgenommen und vielleicht durch die Gespräche mit ihm (Thomas Mann) und mit Bruno Frank zu weiteren Romanen inspiriert. So erscheint 1923 der Novellenband „Das blinde Geschlecht“, 1931 der Roman „Die Sonne im Westen“.

Eingeschränkt wird ihre schriftstellerische Tätigkeit einerseits durch ihre Erkrankung – ab 1929/30 ist Emma Bonn fast vollständig ans Bett gefesselt. Andererseits macht sich das antisemitische Klima im aufkommenden Nationalsozialismus mehr und mehr bemerkbar, die Schriftstellerin ist, insbesondere als Thomas Mann und Bruno Frank im Exil sind, isoliert.

Scherben (1939, Auszug)

Man hat mir das Land genommen,
Ich wohn‘ noch in meinem Haus.
Die Wolken gehen und kommen,
ich schau in die Wipfel hinaus.

Die Bäume sind ganz die gleichen,
Der Rasen ist satt und grün,
Über Seufzer und Ängste und Leichen
Die gleichen Blumen blühn.

Vor allem in dieser zunehmend einsameren Zeit verfasst Emma Bonn Gedichte, diese „halten Rückschau, reflektieren ihren körperlichen und geistigen Zustand, sind in gewisser Weise fast als eine Art Tagebuch der sich zuspitzenden politischen Ereignisse zu lesen“, so Angela von Gans. Die Haushälterin von Emma Bonn, Schwester Josefa, behütet die Manuskripte und bringt sie nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten – über diesen Umweg ist es zu verdanken, dass sie nun, fast ein Jahrhundert später, doch noch zum Teil an das Licht der Öffentlichkeit gelangt sind.


Bibliographische Angaben:

Angela von Gans
Emma Bonn 1879 – 1942.
Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin
STROUX edition, 2021
ISBN 978-3-948065-20-1

Das Buch wurde vom Freistaat Bayern mit dem Preis „Bayerns beste Independent Bücher“ ausgezeichnet.

Eine besondere Würdigung gibt es heuer für die Dichterin bei den 10. Feldafinger Musiktagen: Der Pianist und Komponist Kit Armstrong vertont ihr Gedicht „Flüchtlinge“, die Uraufführung findet am Sonntag, 23. Juli statt.


Transparenzhinweis:

Für den Verlag STROUX edition bin ich in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Dieser Beitrag entstand unabhängig von dieser Tätigkeit. Er fügt sich ein in eine Reihe von Portraits jüdischer Schriftstellerinnen, die hier bereits auf dem Blog veröffentlicht wurden. Sie alle traf die Verfolgung im Nationalsozialismus in unterschiedlicher Weise: Durch Ermordung und Tod in einem der Konzentrationslager wie bei Lili Grün, Else Feldmann, Ite Liebenthal, Selma Meerbaum-Eisinger oder Carry Brachvogel, auf der Flucht verhungert wie Maria Leitner, ins Exil gegangen wie Rose Ausländer, Trude Krakauer und Ilana Shmueli oder geprägt durch die besondere „Last der Überlebenden“ wie beispielsweise Ruth Klüger und Lily Brett.

Anita Brookner: Seht mich an

1983 veröffentlichte Anita Brookner den Roman “Seht mich an”, der nun in deutscher Erstübersetzung beim Eisele Verlag erschien. Ein berührend melancholisches Buch über ein gesellschaftliches Phänomen: Einsamkeit.

„Als Nancy die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, wie sie es üblicherweise tat, wenn ich ihr nicht sagte, dass ich noch einmal ausgehen wollte, roch ich die dumpfe, eingeschlossene Luft dieser Wohnung und rüstete mich, das rituelle Mahl auf dem rituellen Tablett tapfer durchzustehen. Ich wusste, wie unerträglich dies alles war, und ich ertrug es nur, weil mir ein flüchtiger Blick in die Welt draußen vergönnt gewesen war. Ich wollte nur sehen, wie die anderen, die freien Menschen, ihr Leben führten, und dann konnte ich mein eigenes beginnen.“

Anita Brookner, „Seht mich an“


Wer bewusst, oder weil es das Leben so mit sich brachte, als Single lebt, der lernt im Laufe der Zeit vor allem eines: Das eigene Leben in die Hand zu nehmen, zu wissen, dass es bereits da ist, dieses Leben, und seine Grundzüge von anderen allenfalls minimal beeinflusst werden können. Die Hoffnung auf die eine lebensverändernde Begegnung, sie trügt und täuscht. Verändern kann man sein eigenes Leben nur selbst. Eine Lektion, die Frances Hinton, die Hauptfigur in Anita Brookners drittem Roman, auf eine sehr schmerzhafte Weise erfährt.

Geprägt von einer eleganten Melancholie

Der Inhalt dieses Romans, der von einer eleganten Melancholie durchzogen ist, ist in wenigen Sätzen umrissen. London, die 1980er-Jahre. Frances Hinton lebt nach dem Tod ihrer Mutter allein mit dem alten irischen Hausmädchen Nancy in einer etwas skurrilen Wohnung, arbeitet in der Bibliothek eines medizinischen Forschungsinstituts und ist im Privatleben vor allem von alten Menschen umgeben, den Bibliotheksbesuchern, Kolleginnen im Ruhestand, dem ehemaligen Arzt ihrer Mutter. Erst als sie sich mit dem jungen Wissenschaftler Nick und dessen Frau Alix anfreundet, mit ihnen „klassische Bohemeabende“ verbringt, scheint sich in diesem eintönigen Alltag etwas zu verändern:

„Ich sprach mit niemanden über diesen Wandel in mir, über das Gefühl, das ich hatte, das Leben habe sich mir geöffnet, und zwar nicht nur zur Besichtigung, sondern, was mehr bedeutete, damit ich aktiv daran teilnahm.“

Bild von Photo Mix auf Pixabay

Der Rausch der Leichtigkeit, er hält nicht lange an: Zwar geht Frances zu James, einem Wissenschaftler an ihrem Institut (und in ihrem reduzierten Leben der einzig verfügbare Single-Mann) eine Art kindlicher Freundschaft ein. Im Grunde ein Flirt, der vor allem aus ausgedehnten Spaziergängen durch das immer verregnete London besteht und recht zaghaft vor sich hindümpelt. Erst als Frances mehr und mehr gewahr wird, dass sie bei dieser kleinen Clique immer eine außenstehende Beobachterin bleiben wird, dass James vielleicht ihre letzte Chance ist auf ein klassisches Lebensmodell, das den Menschen als Paar definiert, startet sie einen fast schon verzweifelt anmutenden Verführungsversuch. Der demütigend für sie endet: „Nicht mit dir, Frances. Nicht mit dir.“

Regression zum kindlichen Ich

Nach einem letzten Zusammentreffen mit den sogenannten „Freunden“ im Restaurant, kehrt sie in ihre Wohnung und zu Nancy zurück, bricht innerlich zusammen und mutiert dabei beinahe zum Kind, das von der Haushälterin umsorgt und gepflegt werden muss.

„Aus tiefem ungetrübten Schlaf tauchte ich immer wieder auf – vielleicht war nur eine Viertelstunde vergangen -, in einen Zustand totaler Regression, als wäre ich, liebevoll umsorgt, in den Ferien, und vor mir läge ein Tag voller Überraschungen und Freude. Ich finde, dass dies einer der übelsten Streiche ist, die wir uns selbst spielen: diese Unfähigkeit, uns freizumachen von der frühen, kindlichen Erwartungshaltung.“

Gerade dieses Zitat zeigt die Tragik dieses Romans: Frances, die so klar und hellsichtig ihren eigenen Charakter analysiert, die einen durchaus kritischen Blick auf ihre Freunde, insbesondere die egozentrische, verwöhnte, „raubtierhafte“ Alix hat, jene Frances also, die weiß, dass ihre Lebens- und Moralvorstellungen anders geprägt sind, will sich dennoch dem gesellschaftlichen Diktum unterwerfen. Das da, bis in unsere heutigen Tage hinein, lautet: Es ist nicht gut, dass der Mensch (und insbesondere die Frau) allein bleibt. Es macht einem beim Lesen beinahe wütend, ja es schmerzt, zu lesen, wie sehr sie sich zwischenzeitlich verbiegen will, um den Erwartungen an eine Frau auf dem Heiratsmarkt zu entsprechen:

„…ich durfte dabei nicht störrisch oder schwierig sein. Weihnachten stand vor der Tür, und wir hatten es gemeinsam zu feiern. Ich musste also ganz unbeschwert sein.“

Daniel Schreiber über das Lebensmodell “Single”

Wer könnte geeigneter sein, ein Nachwort zu diesem Roman zu schreiben, als der Autor von „Allein“, Daniel Schreiber? Brookner habe in diesem und ihren anderen Romanen immer wieder deutlich gemacht, „was auf dem Spiel stand, wenn man allein lebte, und wie begrenzt die Möglichkeiten für alleinstehende Frauen in einer Gesellschaft waren, die dieses Lebensmodell nicht für beschützenswert, respektabel oder auch nur akzeptabel hielt, sondern bestenfalls für bemitleidenswert.“

„Seht mich an“ (eine Formel, die im Roman immer wieder, einmal fordernd, einmal flehend, wiederholt wird) macht noch einmal bewusst: „Alleinsein“ und „Einsamkeit“ sind unterschiedliche Dinge. Doch wo die Entscheidung zum „Alleinsein“ gesellschaftlich nicht anerkannt ist, wird der Mensch, der sich bewusst oder unbewusst dafür entscheidet – und dies tut Frances, die bei all ihren Anpassungsbemühungen doch immer auch ahnt, dass sie sich bei der Annäherung an Alix & Co. auf einem für sie „falschen“ Weg befindet – auch ein Stück weit in die Einsamkeit getrieben. Das Thema des Romans ist hochaktuell: Immer mehr Menschen leben als Singles und Einsamkeit ist beinahe ein gesellschaftliches Phänomen.

Betrachtet man Anita Brookners Leben, so liegt es nahe, dem Roman autofiktionale Züge zuzuschreiben: Wie ihre Hauptfigur lebte Brookner alleine, arbeitete als Kunsthistorikerin, kannte dieses Singleleben mit seinen Schattenseiten – den scheinbar anteilnehmenden Fragen, warum es denn nie geklappt habe, den Katzentisch im Restaurant, den langen Stunden an den Feiertagen – aus eigenem Erleben. Daniel Schreiber führt in seinem Nachwort aus, Brookner habe später bedauert, „Seht mich an“, das 1983 in England erschien, geschrieben zu haben – der Roman sei verantwortlich für ihren Ruf einer alten Jungfer, die über alte Jungfern schreibt. Dementsprechend wenig wurde ihr literarisches Werk wahrgenommen: „Alte Jungfern“ – wieviel Missachtung schon in diesem Ausdruck liegt! – interessierten in den Feuilletons wenig, galten als langweilig.

Übersehen wurde dabei, mit welcher Eleganz und Präzision Anita Brookner schrieb, mit wieviel Feingefühl für innere Vorgänge und Schwingungen, ohne je ins Sentimentale abzugleiten. Es ist an der Zeit, Anita Brookner zu sehen.


Bibliographische Angaben:

Anita Brookner
Seht mich an
Übersetzt von Herbert Schlüter
Eisele Verlag, 2023
ISBN978-3-96161-153-9