#MeinKlassiker (4): Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Wie Literatur das eigene Leben verändern kann, das beschreibt Wolfgang Schnier – und meint damit “Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins”.

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Das Schöne an dieser Reihe sind die Überraschungen. Als ich Wolfgang Schnier, der einen klugen Blog über das Lesen und Schreiben betreibt, um einen Gastbeitrag für die Reihe #MeinKlassiker bat, rechnete ich eigentlich mit einem Text über Goethe, Paul Celan oder Erich Mühsam. Aber Wolfgang schlug dieses Buch von Milan Kundera vor – und beim Lesen seines Beitrages lernte ich diesen 1984 erschienenen Roman nochmals neu kennen.

Wolfgang Schnier über “Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins”:

„Es ist unmöglich zu überprüfen, welche Entscheidung die richtige ist, weil es keine Vergleiche gibt. Man erlebt alles unmittelbar, zum ersten Mal und ohne Vorbereitung. Wie ein Schauspieler, der auf die Bühne kommt, ohne vorher je geprobt zu haben. Was aber kann das Leben wert sein, wenn die erste Probe für das Leben schon das Leben selber ist? Aus diesem Grunde gleicht das Leben immer einer Skizze. Auch ‚Skizze‘ ist nicht das richtige Wort, weil Skizze immer ein Entwurf zu etwas ist, die Vorbereitung eines Bildes, während die Skizze unseres Lebens eine Skizze von nichts ist, ein Entwurf ohne Bild.“

Dies findet man auf den ersten Seiten von Kunderas Roman. Und als ich diese Stelle las, änderte sich mein Leben. Denn ich bekam keine endgültigen Antworten auf die Fragen, die das Leben aufwarf, sondern hier artikulierte Kundera etwas, das mir die Fragen aufzeigte, die in mir goren und ich nicht formulieren konnte, ja, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich sie tief in meinem Inneren hatte! Und so war ich elektrisiert, kaum 20 Jahre alt. Dass das Buch im Grunde eine Liebesgeschichte erzählt, oder besser gesagt mehrere, das wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht. Aber ich war auf dem besten Wege, die chaotischen und unkontrollierten Beziehungen der Teenager-Zeit gegen reflektiertere und bodenständigere Partnerschaften zu tauschen und suchte irgendwie nach einer Art Resonanzkörper, der mir bei meiner Suche meine eigenen Wünsche und Vorstellungen zurückwarf, um mir selbst die Antworten geben zu können, nach denen ich verlangte. Und während mir langsam klar wurde, dass es hier um die Geschichte zweier Liebenden geht, dachte ich oft an die Stelle, die ich eingangs zitiert habe: Was für eine Ouvertüre! Wie grundlegend und tiefgehend das Buch dieses Thema ausleuchtete, das waren Tiefenregionen, von denen ich bislang noch nicht einmal wusste, dass es sie gab! Mir war, als würde mich endlich jemand verstehen, als würde ich mich endlich verstehen, da mir klar wurde, dass ich die ganze Oberflächlichkeit vergangener Tage endlich hinter mir lassen wollte und auch konnte.

Das Leben erklärt man sich rückwärts

Allerdings ist das Buch nicht frei von Kitsch. Wenige Seiten später heißt es: „Nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall ist voller Zauber. Soll die Liebe unvergeßlich sein, so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf die Schultern von Franz von Assisi.“ Das ist beinahe trivial: Bei diesem Thema ist alles Zufall im Leben, das geht zurück auf den Zufall, wo wir überhaupt geboren wurden und welche verschlungenen Lebenspfade man hat gehen müssen, um an den Punkt zu gelangen, an dem man sich endlich getroffen hat. Aber das macht nichts, denn der Zauber liegt darin, diese Zufälle als eine Art Bestimmung anzusehen, als eine Unvermeidlichkeit. Man erklärt sich seinen Lebensweg rückwärts, als hätte man nicht, wie es eigentlich geschehen, nur vorwärts gelebt. Und nur, wenn wir das tun, erst dann wird diese Liebe unvergesslich.

Wenn man das Buch noch nicht gelesen hat, dann sollte man sich vorher nicht über die Handlung informieren. Das kann man zwar überall nachlesen, (zum Beispiel hier) aber damit nimmt man sich selbst den wichtigsten Effekt des Buches. Das liegt jetzt nicht daran, weil die Handlung sehr komplex oder dicht wäre, das ist bei Kunderas Büchern nicht der Fall. Aber wenn man sich eine nackte Inhaltsangabe durchliest, dann ist es so, als betrachtete man das Stahlgerippe eines Rohbaus und würde davon ausgehend Rückschlüsse auf das Gebäude erwarten, wie es einmal aussehen wird, wenn es fertig ist. Das kann man machen, aber man läuft dabei Gefahr, das Wesentliche zu übersehen. Diese Gefahr besteht bei allen guten Büchern, aber bei der unerträglichen Leichtigkeit des Seins wäre das unvermeidlich. Was das Buch nun für mich ausmacht, kann ich aber nur von einem Standpunkt nach der Lektüre des Buches beschreiben. Ich möchte daher so allgemein wie möglich, aber so detailliert wie nötig bleiben.

Anna Karenina als Erkennungszeichen

Die Charaktere in diesem Buch sind Idealtypen unserer eigenen Persönlichkeit. Wenn man erkannt hat, dass sie verschiedene Prinzipien idealtypisch repräsentieren, dann kann man in sich hineinhören und sich fragen: Wo habe ich diesen Gedanken auch schon einmal gehabt, wo ist mir dieses auch schon einmal passiert? Da ist zum Beispiel die Nebenfigur Franz, ein Akademiker, ein Kopfmensch, aber in Sachen Liebe ein Versager. Er setzt alles auf eine Karte und verliert. Und da ist Teresa, zentrale Figur, zerfressen von Eifersucht und inniger Liebe ohne Grund. Es hat sie einfach getroffen und sie hinterfragt an keiner Stelle wieso. Genauso wenig wie Tolstois Anna Karenina, den gleichnamigen Roman, den sie wie ein geheimes Erkennungszeichen an verschiedenen Stellen des Buches in die Hand nimmt.

Und Tomas, der Don Juan und Tristan in sich vereint, trifft eine Entscheidung nach der anderen, die seinem eigentlichen Lebensstil entgegengesetzt sind, aber ihn mit Teresa zusammen hält. Und da ist die eigentliche Hauptfigur, jedenfalls nach meinem Verständnis: Sabina. Während jedem anderen Charakter eine mythische Figur nebenan gestellt wird, Teresa hat Anna Karenina, hinter Tomas scheinen Don Juan und Tristan hindurch und Franz hat Züge von Don Quijote und Faust, ist Sabina nicht im Mythischen verwurzelt. Sie ist die moderne Lebefrau, die Künstlerin der Moderne. Und ihr Attribut ist die Leichtigkeit, die Freiheit. Sie hält es kaum mit Tomas aus und erst recht nicht mit Franz. Die Unverbindlichkeit ist ihre Visitenkarte und am Ende hört man von ihr nur noch durch die Briefe aus den USA, dem Land der unbegrenzten Freiheit, so weit ist sie der eigentlichen Handlung entschwoben. Aber sie ist rastlos und hat einen hohen Preis zu zahlen: Sie ist einsam.

Wann verwandelt sich die Leichtigkeit in Schwere?

Und an dieser Stelle fällt einem plötzlich die Handlung auf, wie sie durch die Jahre hingeplätschert ist, mit den unterschiedlichen Entscheidungen in den verschiedenen Lebensstationen und man denkt an die Stelle ganz am Anfang: Kann man wirklich wissen, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat, als man diesen oder jenen Weg im Leben einschlug? Verwandelt sich hier die Leichtigkeit in eine Schwere, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins – ist das die Leichtigkeit von einst, unbemerkt verwandelt in Schwere durch die Entscheidungen, die wir im Leben getroffen haben und treffen müssen?

Und wenn man das Buch gelesen hat, etwas verwirrt vielleicht und noch nicht alles verstehend, und es einige Jahre im Unterbewusstsein vor sich hin schlummern lässt und man sein eigenes Leben lebt, mit all den Irrungen und Wirrungen, mit all den Entscheidungen, ja, dann fällt es einem später vielleicht wieder ein. Wie war das noch mit Tomas und Teresa? Beschreibt das Buch vielleicht nicht nur die Charaktere als einen Idealtypus, sondern auch die Liebe selbst wie einen unerreichbaren Gipfel auf dem höchsten Berg, wie eine Fata Morgana, die sich immer weiter entfernt, je näher man ihr kommt? Oder ist die Liebe immer rein und unschuldig, zufällig und immer kompliziert, suchend und findend, verschlungen und oft einfach bedingungslos hoffnungsvoll und einfach hoffnungslos zugleich? Und wie heißt es woanders so schön: „Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.“

Und dann fällt einem vielleicht wieder eine andere Stelle in dem Roman ein, eine im Rückblick sehr melancholische Stelle, die aber noch nicht melancholisch gewesen ist, als man sie das erste Mal in jungen Jahren gelesen hatte. Und es ist eine Stelle, an die ich oft denken musste in der letzten Zeit, weil sie mich nie ganz losgelassen hat. Aber zunächst noch eine andere Frage: Wenn diese vier Charaktere in diesem Buch Idealtypen darstellen, welchem würde man den Vorzug geben? Und könnte man den eigenen Schwerpunkt selbst wählen? Denkt man darüber nach, wenn man verliebt ist? Nun, früher oder später wird man feststellen, dass die Partitur des Lebens endlich ist und wir nur in einer gewissen Zeitspanne in die Tasten unseres Gegenübers greifen können, oder, anders formuliert: Manche Erfahrungen kann man nur zu einer bestimmten Zeit in seinem Leben machen. Oder, in Kunderas Worten:

„Solange die Menschen noch jung sind und die Partitur ihres Lebens erst bei den ersten Takten angelangt ist, können sie gemeinsam komponieren und Motive austauschen. Begegnen sie sich aber, wenn sie schon älter sind, ist die Komposition mehr oder weniger vollendet, und jedes Wort, jeder Gegenstand bedeuten in der Komposition des einzelnen etwas anderes.“

Und so denke ich manchmal an Tomas und Teresa und halte mein eigenes Leben dagegen. Und dann sage ich mir: Manche Bücher muss man in verschiedenen Lebensabschnitten lesen und verstehen. Was mir dieses Buch vor fast zwanzig Jahren offenbarte, liest sich heute beinahe wie eine Prophezeiung. Und genau darin liegt auch ein Stück Hoffnung: So verschieden sind wir Menschen nicht, und vielleicht ist dieses Buch auch ein Motiv nicht nur in unserem eigenen Leben, sondern auch ein Motiv im Leben unseres Gegenübers. Etwas schüchtern halte ich daher nicht Anna Karenina in meinen Händen, sondern die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.

Wolfgang Schnier
https://wolfgangschnier.com/


#MeinKlassiker (3): Ilse Aichinger – poetischer Widerstand gegen eine Sprache der Lüge

Literaturkritiker Michael Braun bezeichnet es als sein “Lebensbuch”, sein poetisches Evangelium: “Schlechte Wörter” von Ilse Aichinger.

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Unerwartet und viel zu früh verstarb im Dezember 2022 der Lyrikkritiker und Essayist Michael Braun. “Man kann behaupten, dass er Deutschlands wichtigster Lyrikkritiker war”, würdigte ihn Gregor Dotzauer in einem Nachruf. Ich bin sehr dankbar, dass Michael Braun auch hier in dieser Reihe über seinen Klassiker in seiner unnachahmlichen Weise geschrieben hat.

Mein Klassiker von Michael Braun:

Im Zeitalter der beschleunigten Kommunikationsprozesse und des universellen Kommentar-Gezappels auf Facebook und Twitter ist das Schweigen zum Störfall geworden. In der Dichtung von Ilse Aichinger ist das Schweigen jedoch „die Hauptsache“. „Ich habe eigentlich nach langer Zeit erkannt“, so hatte die Dichterin 1993 erklärt, „dass das Schweigen die Hauptsache ist. Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit, dass man nur dann schreibt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.“ Der Glaube daran, dass es notwendig ist, den Wörtern „die Lautlosigkeit zurückzugewinnen, aus der sie entstanden sind “ – das ist der Ausgangspunkt jeder substantiellen Poetik, das ist die Voraussetzung für einen gültigen Satz.

Mit Ilse Aichinger, am 1. November 1921 in Wien geboren, ist die letzte lebende Zeugin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur am 11. November 2016 gestorben. Über ihrem Leben lag früh eine Todesdrohung. Da sie nach den Kriterien der Nationalsozialisten als „Halbjüdin“ galt, wuchs sie in Wien unter schwierigsten Bedingungen auf, immer in Gefahr, von den neuen Machthabern nach 1938 deportiert und ermordet zu werden. Nur mit viel Glück überlebte sie mit ihrer Mutter, einer jüdischen Ärztin, die Barbarei. Vor ihren Augen wurde ihre Großmutter 1942 in Wien verschleppt und dann später im Vernichtungslager Minsk ermordet. Diese Erfahrung der fortdauernden Todesdrohung hat Ilse Aichinger das Sprachvertrauen geraubt.

Ihr Buch „Schlechte Wörter“, das erstmals 1976 erschien, ist zu meinem Lebensbuch geworden, zu meinem poetischen Evangelium. Es müsste zur Pflichtlektüre für alle literarisch Ambitionierten erklärt werden. Denn dem bewusstlosen, reflexhaften Gebrauch der Sprache, dem Herumfuchteln mit den instrumentalisierten, ideologisch verseuchten Wörtern wird hier der Boden entzogen. Ilse Aichingers Schreiben vollzieht den poetischen Widerstand gegen eine Sprache der Lüge, die stets dort beginnt, wo man sich den gefälligen Wörtern, den verführerischen Großbegriffen überlässt. Der Titeltext des Bandes „Schlechte Wörter“ beginnt daher mit einem Misstrauensvotum gegen die „besseren Wörter“: „Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. ‚Der Regen, der gegen die Fenster stürzt.‘ Das reicht.“ In einem späteren Buch, dem „Journal des Verschwindens“ (in „Film und Verhängnis“, S. Fischer Verlag, 2001), deutete Aichinger an, sie wolle selbst eigentlich nicht existieren, sie wolle verschwinden. Sie möchte das nachvollziehen, was ihre Angehörigen unfreiwillig getan haben, als sie ermordet wurden. Schon in ihrem phänomenalen Aufzeichnungsbuch „Kleist, Moos, Fasane“ hatte sie 1985 ihren Weg vorgezeichnet: „Schreiben ist sterben lernen.“ Und: „Die Hölle himmelt mich ein.“

Michael Braun

Ilse Aichinger: Schlechte Wörter. S. Fischer Verlag (Fischer Taschenbuch), Frankfurt am Main 1976 ff. 112 Seiten, 5,95 Euro.

#MeinKlassiker (2): Jürgen Bauer über “Die Niederlage”

Für den Schriftsteller Jürgen Bauer ist ein Roman von Charles Jackson sein Klassiker: “Die Niederlage” erschien 1946, ein Pendant zu Manns “Tod in Venedig”.

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Mit seinen beiden bisherigen Romanen “Das Fenster zur Welt” (2013) und “Was wir fürchten” (2015), beide erschienen im Septime Verlag, hat sich der Schriftsteller und Journalist Jürgen Bauer  eine treue Lesergemeinde geschaffen. Peter Pisa schrieb über “Was wir fürchten” im Kurier: „Zur intensiven Literatur wird es. Zum österreichischen Geheimtipp des zu Ende gehenden Bücherfrühlings.” Mehr Information hält der Autor auf seiner Homepage bereit: http://www.juergenbauer.at/

Ich freue mich sehr, dass Jürgen uns hier seinen Klassiker-Geheimtipp vorstellt:

Charles Jackson: Die Niederlage (The Fall of Valor)

Seien wir ehrlich. Der sogenannte „Kanon“ ist meist die Entsprechung Donald Trumps in der Literaturszene: weiß, männlich, heterosexuell. Zwar hat man irgendwann akzeptiert, dass es da draußen auch noch andere Identitäten gibt – so genau kennenlernen möchte man diese jedoch nicht. Zugegeben: das ist überspitzt (aber nur ein wenig). Vielleicht sollte man deshalb im Kampf gegen eine solche Einschränkung statt von Literatur vielmehr von Literaturen sprechen. Eine dieser Literaturen ist jene, die sich mit queerem Leben auseinandersetzt und das weite Feld der LGBT-Identitäten zwischen zwei Buchdeckeln abbildet. Doch in Literaturlisten, Klassikeraufzählungen und Literaturkanons fehlen deren Meisterwerke fast immer. Dezidiert schwule oder lesbische Literatur? Fehlanzeige. Ganz allein ist die Literatur in diesem Scheuklappendenken nicht. „Wenn in einer Szenenanweisung steht: Ein Mensch betritt die Bühne, hat man automatisch einen weißen heterosexuellen Mann vor Augen“, hat der Regisseur René Pollesch einmal gesagt. Und zu Händl Klaus‘ Film „Kater“ titelte eine Zeitung vor kurzem: „Ein Menschenfilm, kein Schwulenfilm.“ Man versteht die Intention und denkt trotzdem: Sind Schwule denn keine Menschen? Gut gemeint – immer noch das Gegenteil von gut.

Tod in Nantucket

Charles Jacksons Roman „The Fall of Valor“, erschienen 1946, hat vermutlich auch aus diesen Gründen bis heute nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die er verdient. Immer noch ist er weit weniger bekannt als Jacksons Alkoholiker-Roman „Das verlorene Wochenende“, dabei steht er diesem von Billy Wilder verfilmten Werk in Qualität, Stil und Kraft in nichts nach. Worum es geht? Um einen unglücklich verheirateten New Yorker Literaturprofessor, der im Kriegssommer 1943 Urlaub auf der Insel Nantucket macht und sich dort in einen jungen Offizier verliebt, sich jedoch erst nach und nach seinen Gefühlen stellt. Gefühlen, die im Amerika der Zeit verpönt sind. Ein gewagtes Thema also und einer der ersten in den USA publizierten Romane, der Homosexualität ganz zentral zum Thema macht und das Gefühlsleben seines Protagonisten ernst nimmt. Immerhin kannte der Autor sein Thema hautnah, haderte er doch selbst lange mit seiner Homosexualität. Schon als intime Seelenstudie ist der Roman also eine Wucht, doch Jackson geht darüber noch hinaus. „The Fall of Valor“ ist Zeitportrait, ist Auseinandersetzung mit Krieg und Tod, mit der Sehnsucht nach Jugend und Schönheit. Er ist die amerikanische Variante von Thomas Manns „Tod in Venedig“, quasi Tod in Nantucket. Ein Meilenstein also.

Ein Muss: schwul oder nicht

Und doch blieb der ganz große Erfolg bis heute aus, die Kritik der Zeit war sowieso gespalten. Zwar wurden um die 75.000 Hardcover-Exemplare und 291.000 Taschenbücher des Romans verkauft, doch zum Klassiker fehlt ihm schlicht die breite Bekanntheit. Erst 2016 erschien die deutsche Übersetzung von Joachim Bartholomae unter dem Titel „Die Niederlage“ beim Männerschwarm-Verlag. Nur zum Vergleich: Die Neuübersetzung von Jacksons „Das verlorene Wochenende“ im Dörlemann Verlag wurde von beinahe alle großen Zeitungen rezensiert. „Die Niederlage“? Meist Fehlanzeige, siehe oben. Dabei hat es dieser Roman verdammt nochmal verdient, endlich zum Klassiker werden. Warum? Weil er – ganz einfach gesagt –so geistreich-witzig und so berührend ist, dass er jede Leserschaft bereichert. Schwul oder nicht.

Jürgen Bauer
http://www.juergenbauer.at/

 

#MeinKlassiker (1): Petra und ihr zielstrebiger, rachsüchtiger Hamlet

Petra Gust-Kazakos musste als ausgesprochene Shakespeare-Anhängerin nicht lange überlegen: Ihr Klassiker ist natürlich der Hamlet.

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Dass bei Petra Gust-Kazakos die Klassiker nie zu kurz kamen, stellte sie regelmäßig auf Philea`s Blog regelmäßig unter Beweis. Insbesondere hatte sie ein Herz für Reisende und britische Snobs – da passte ihr größter klassischer Held, den sie in der Reihe #MeinKlassiker vorstellte, gut ins Bild. Petra verlor im April 2020 den Kampf gegen den Krebs. Dieser Beitrag ist auch eine liebevolle Erinnerung an diese kluge, warmherzige Frau.

Petra Gust-Kazakos über ihren Klassiker:

Ich mache jetzt nicht das Fass auf, was ich unter einem Klassiker verstehe oder was man darunter verstehen sollte, ich gehe davon aus, dass das geneigte Lesepublikum von Birgit da selbst gewisse Kriterien zu im Sinn hat. Mein Klassiker ist natürlich nur ein Klassiker von vielen, aber von Shakespeare, einem meiner Favoriten. Außerdem verbinde ich mit Hamlet allerlei Geschichten, weswegen er irgendwie im Laufe von über 25 Jahren zu “meinem” Klassiker wurde.

Hamlet lernte ich im Studium näher kennen. Die Geschichte ist ja weitgehend bekannt. Auch wenn man weder Original noch Übersetzung je las –  Sein oder Nichtsein, to be or not to be, Schlafen! womöglich zu träumen, etc. – das sind längst geflügelte Worte und Verfilmungen gibt es ja auch etliche.

Prinz Hamlet, Student in Wittenberg (hier witzelte mein Professor einst, in Anspielung auf die altersmäßig gelegentlich unpassenden Besetzungen: Ein ewiger Student), kehrt nach Dänemark zurück. Sein Vater ist tot, ermordet und dies wohl von Hamlets Onkel Claudius, der nun der neue König ist und überdies mit der Witwe tändelt, Gertrude sogar heiratet. Der Geist von Hamlets Vater klärt den Prinzen auf und fordert Rache. Und die will auch Hamlet.

Interessanterweise wurde die Tragödie in einer Interpretationslinie für besonders deutsch gehalten, Hamlet, der melancholische Träumer und große Zauderer – sein oder nicht sein, tu ich’s oder lass ich’s lieber … Das wurde politisch auf die Deutschen übertragen, die ihrerseits zu träge oder unentschlossen für eine Revolution wie die französische gewesen seien und irgendwie sei Hamlet da ganz deutsch. Mehr dazu hier: http://www.zeit.de/1964/18/deutschland-ist-hamlet-ii

Ich finde Hamlet eigentlich recht zielstrebig, wenn er auch nicht sofort auf sein Ziel losprescht, so entwickelt er doch einen Plan, um den Mörder seines Vaters zu überführen, geht dabei recht unbekümmert über Leichen, spielt den Narren, stellt sich dumm und alles nur der Rache wegen. Selbst seine Liebste, Ophelia, weiht er nicht ein und nimmt ihr Leid, ihren Tod damit implizit in Kauf. Und der Rest ist Schweigen.

Ein blutiges, rachsüchtiges mitleidloses Drama, bei dem es keine Sieger gibt. Die Wahrheit mag ans Licht gekommen sein, doch der Preis! Verrat, Mord, fast alle tot – meine Güte! Und dabei so spannend wie ein Pageturner.

Meine erste Hamlet-Verfilmung war die mit Mel Gibson, die ich gar nicht übel fand. Meine zweite eine russische, in der Hamlet irritierender-, aber logischerweise “Gamlet” hieß. Die Sichtung der russischen Version geschah absichtslos. Eigentlich waren wir ins Kino gegangen, um die lang verschollene Othello-Version mit Orson Welles zu sehen, die allerdings an jenem Abend erneut verschollen ward, weswegen man dem Shakespeare-geneigten Publikum den Gamlet zeigte. Meine dritte Verfilmung war recht modern, statt um ein Königsreich ging es um einen Konzern, Ethan Hawke gab den Hamlet. Diese Fassung gefiel mir fast am besten, obwohl ich Modernisierungen eigentlich schon grandioser Stücke nicht immer nötig finde.

Die Tragödie im Original zu lesen, ist – wenn es möglich ist – ein Genuss. Den wollte ich auch meinem Liebsten aufschwatzen, doch ich hatte nicht bedacht, dass das elisabethanische Englisch von heute aus gesehen ein bisschen speziell ist. Mit dem Kommentar “zu viel thou, thee, thine” erhielt ich meinen zerlesenen Hamlet zurück. Interessanterweise hatte mein Liebster mit den Filmen im englischen Original kein Problem. Aber Stücke zu lesen ist ja auch nicht jedermanns Fall, der ständige Wechsel – er so, sie so – das liest sich anfangs etwas stockender als ein Roman.

Diese und viele weitere persönliche Geschichtchen und Anekdötchen um diesen Klassiker haben Hamlet zu “meinem” Klassiker gemacht.

Petra Gust-Kazakos