
Paul, Lieber,
Einer dieser toten Sonntage. Ich blättre wieder im Mandelstam und lese die letzten Jessenin-Gedichte wieder. „…du singst kein Blatt vom Zweig.“ Ich schreibe trotzdem und bin ängstlich froh darüber, es geht langsam, noch ist nichts entschieden und fertig. Und sonst ist nichts. Gleichgültigkeit fast in dieser Einsamkeit. Ein Tag wie der andere. Keine Menschen. Hans arbeitet nebenan, ab und zu gehen wir ins Kino am Wochenende wie alle Leute hier. Es ist ein ganz gutes Leben, man bedarf so wenig, wenn man begriffen hat. Es wird sowieso nur eine Atempause sein, eine dieser wenigen, die man uns zugesteht. Und die „Lösung“ gibt es wohl nicht, die ich gesucht habe und vielleicht wieder einmal versucht sein werde, zu suchen. Man hütet sich, Fragen zu stellen, bei soviel offenbarer Sinnlosigkeit. Welche Instanz wüßtest Du? Daß ich darum auch niemand drum bitten kann, Dich zu beschützen – das fällt mir auch ein. Daß ich nur meine Arme habe, um sie um Dich zu legen, wenn Du da bist, nur wenige Worte, um Dir etwas zu sagen, ein Blatt Papier, um Dir meinen Namen nach Paris zu schicken. Ach, Paul.
Ingeborg
Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Neapel, 10.8.1958.
Quelle:
„Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel“, Suhrkamp