Lesezeichen von: Max Brod

Max Brod ist als Nachlassverwalter und Freund von Franz Kafka in Erinnerung. Aber auch seine eigenen Romane sind eine Entdeckung wert. Das goldene Prag der Zwischenkriegszeit lebt in “Arnold Beer” wieder auf. Ein kurzes Lesezeichen.

“Und nur eines hatte ihm der Vater verboten, in den Shakespearebänden den Othello. Arnold befolgte auch getreu diese Absperrung, ängstlich wich er dem Stück aus, obwohl seine Neugierde aufs höchste erregt war und niemand ihn überwachte (…). Und als Arnold, zu Jahren gekommen, später einmal diesen fürchterlichen “Othello” durchnahm, fand er zwar gleich in der ersten Szene eine obszöne Phrase, im Ganzen aber nichts, was dieses Stück vor den vielen, die er lesen gedurft hatte, ausgezeichnet hätte. Derartige Phrasen hatte er ja als Kind zu hunderten unverstanden eingeschluckt. Und so blieb ihm dieses Verbot seiner Kinderjahre weiterhin ein Geheimnis, über das er seinen Vater aus Respekt auch nachmals nicht weiter auszuforschen sich getraute.”

Aus: “Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden”, Max Brod, 2013 wieder aufgelegt beim Wallstein Verlag.

Max Brod, der enge Freund und Nachlassverwalter Kafkas, der dessen Werke gegen dessen Anweisung nicht vernichtete, sondern sie für die Nachwelt erhielt und veröffentlichte, war zu seiner Zeit selbst ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller. Seine eigenen Romane sind heute jedoch eher vergessen, sein eigenes Werk steht im Schatten Kafkas. Der Wallstein Verlag gab einige von Brods Büchern, ausgewählte Werke, vor wenigen Jahren wieder heraus – was für ein Schatz! Wunderbare Entdeckungen waren für mich “Die Frau, nach der man sich sehnt”, der historische Roman “Tycho Brahes Weg zu Gott”, aber vor allem “Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden”. Die ersten sechzig Seiten, so Peter Demetz in seinem Vorwort, “zählen zu den besten, die Brod je geschrieben hat”. Beurteilen kann ich dies nicht: Dazu habe ich noch zu wenig von Max Brod gelesen. Aber nachvollziehen kann ich, was Demetz weiter über diesen kurzen Roman aus Brods Frühwerk schreibt: ” (…) kein anderer Schriftsteller hat die kleine Welt der Prager assimilierten Jeunesse dorée vor dem Ersten Weltkrieg danach mit größerer Detailtreue und ratloserer Skepsis gezeichnet.”

Schon die ersten Seiten, in denen das Kind Arnold dem Lesefieber verfällt, die Szenen, wie er unter der Aufsicht des Vaters nur ausgewählte Werke aus dem ansonsten verschlossenen Bücherschrank entnehmen darf, sind so lebhaft und plastisch geschildert, dass man sich das bürgerliche Wohnzimmer der Prager Familie deutlich vorstellen kann. Und zugleich hat dieser Ausschnitt bei mir Erinnerungen geweckt an die eigene Lesebiographie. Shakespeare gab es in unserem Haushalt nicht, aber Leseverbote schon: Auf keinen Fall sollte ich die Angélique-Reihe anrühren, zu verrucht! Mir ging es später wie dem erwachsen gewordenen Arnold: Die verruchten Stellen zauberten lediglich ein kleines Schmunzeln hervor…

Lesezeichen von: Herta Müller

Lesezeichen sind kurze Zitate von Autor*innen über das Leben, Lesen, Schreiben. Gedankenanstöße, Diskussionsstoff, Merkmale.

“Wenn ich erklären soll, warum für mich ein Buch rigoros ist oder flach, kann ich nur auf die Dichte der Stellen hinweisen, die im Kopf den Irrlauf hervorrufen, Stellen, die mir die Gedanken sofort dorthin ziehen, wo sich keine Worte aufhalten können. Je dichter diese Stellen im Text sind, um so rigoroser ist er, je schütterer sie stehen, um so flacher ist der Text. Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht.”

Aus: “Der König verneigt sich und tötet”, Herta Müller, Hanser Verlag, 2003.

Was Sprache ausmacht, wie Muttersprache den Menschen prägt, was Worte verschweigen, was Schweigen sagt, was Reden und Schreiben in einer Diktatur bedeutet, um all dies dreht sich dieser Band der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, angesiedelt zwischen Autobiographie und Essay. Ein Grundriss ihrer Poetologie, ein Zeugnis davon, wie ihre Dichtkunst geprägt wurde durch das Aufwachsen in einer Gesellschaft, in der das Schweigen alles überlagerte.
Und der Text einer Schriftstellerin, die bei mir immer das eine erreicht: den stummen Irrlauf im Kopf in Gang zu setzen.

Lesezeichen von: Jutta Reichelt

Manchmal geht es nicht darum, über etwas zu schreiben, sondern sich seine eigene Geschichte zu erschreiben – Jutta Reichelt über ihren Werdegang zur Autorin.

Jutta„Eine Frau, die am Abgrund steht und ihn nicht sieht. Vielleicht hat mich die Suche nach diesem Bild zur Schriftstellerin gemacht. Jedenfalls kommt es mir so vor, als habe ich mit diesem Bild den Raum des Symbolischen erstmals betreten. Als es mir eines Tages einfiel, kam es mir sofort wahrer vor als jede Erinnerung, die ich besitze, zutreffender als jeder Satz, mit dem ich versuchen könnte zu beschreiben, wer ich bin oder was mich ausmacht.“

Jutta Reichelt, “Wie ich Schriftstellerin wurde. Geschichte einer Hochstapelei.

Wie bist du zum Schreiben gekommen, wie wurden Sie Schriftstellerin? Keine Autorin, kein Autor, die nie mit dieser Frage konfrontiert würden. Oftmals klingen die Antworten phrasenhaft, häufig ist die Frage vielleicht auch nicht in einem Satz aufzuklären, meist liegt die Antwort vergraben in der eigenen Biographie. So wie bei Jutta Reichelt, die viele Blogger dank ihrer virtuellen Schreibwerkstatt, in der sie Wissen und Tipps weitergibt und zum eigenen Schreiben ermuntert, kennen.

Seit einiger Zeit arbeitet sie an einem Buch über „Lebensgeschichtslosigkeit“: Es handelt von Menschen, die über keine oder zumindest keine Lebensgeschichte im klassischen Sinne verfügen, es handelt auch von ihr selbst. Einen Auszug aus diesem Text hat Jutta Reichelt nun als Sonderdruck veröffentlicht: „Wie ich Schriftstellerin wurde. Geschichte einer Hochstapelei.“

Darin erzählt sie, wie sie spät zur Schriftstellerin wurde. Und warum. Ein Zitat:

„Viele Menschen denken, dass der therapeutische Effekt des Schreibens vor allem im Loswerden liegt und natürlich gibt es das auch, dass man sich etwas von der Seele schreibt und allein schon durch die Transformation des Erlebten in das Medium der Sprache Distanz gewinnt. Aber für mich ging es im Schreiben immer viel weniger ums Loswerden als ums Finden.“

Wer nun neugierig geworden ist: Der Sonderdruck kann direkt bei Jutta Reichelt bestellt werden.

https://juttareichelt.com/

Lesezeichen von: Urs Widmer

Der schönste Ort der Welt: Für Lesende zweifelsohne die Buchhandlung. Aber ohne belesenen Händler ist sie ein Körper ohne Seele, frei nach Cicero.

Bild von Lubos Houska auf Pixabay

“Du kletterst auf Leitern und Stühle, um unsre Werke in die Hände der Kunden zu legen. In deinem Büro hängt ein Poster, auf dem steht, was der moderne Buchhändler von heute nicht tun darf, wenn er am Ball bleiben will. Du aber stolperst über jeden Ball, Buchhändler! Du liebst deine Leitern und Stühle. Da sitzt du und liest unsre langsam vergilbten Erstlinge. Für dich wollen wir ein Buch schreiben, das, statt fast niemand, gar niemand kauft, das kannst du am Lager behalten ein Leben lang. Wir kommen dich jede Woche besuchen, du kochst einen Tee, wir bringen einen Schnaps mit, und dann erzählst du uns, wie du einmal, 1933, ein Buch schreiben wolltest, das die Welt von damals auf einen Schlag verändert hätte.”

Urs Widmer

Was macht den “schönsten Ort der Welt” eigentlich zum schönsten Ort der Welt? Natürlich, selbstverständlich, ohne Zweifel sind es die Bücher. Ein Raum ohne Bücher, sagte schon Cicero, das sei ein Körper ohne Seele. Dann müssten Buchhandlungen ziemliche seelenvolle Orte sein. Aber manche, die Paletten über Paletten an Neuerscheinungen anbieten, die wirken einfach seelenlos.
Denn es sind nicht nur die Bücher, die Geschichten erzählen. Es sind auch die Menschen, die mit diesen Büchern leben und handeln. Eine Buchhandlung wird zum schönsten Ort der Welt, wenn man dort diese eine Buchhändlerin trifft, den Buchhändler, die aus jedem Buch, das sie verkaufen, eine Geschichte machen. Die wie Seelenverwandte wirken, wie alte Freunde und die dir das Gefühl vermitteln, mit jedem Buch, das du kaufst, nimmst du einen Schatz mit nach Hause.

Geschichten über Menschen in Buchhandlungen – über Buchhändler und ihre manchmal etwas seltsamen Kunden – vereint ein Sammelband aus dem Diogenes Verlag, aus dem auch das Zitat von Urs Widmer entnommen ist. Autorinnen und Autoren wie Ingrid Noll, George Orwell, Patricia Highsmith, Martin Suter erzählen spannend, anrührend und vergnüglich aus dem Tat- und Lebensort Buchhandlung. Eine schöne Auswahl für Bibliophile und Bibliomanen, getroffen von Martha Schoknecht.

Informationen zum Buch: “Der schönste Ort der Welt”

Lesezeichen von: Walter Kappacher

Ein Blick in Walter Kappachers Gedankenwelt und in das Programm eines bibliophilen Verlages: Die “Notizen” erschienen bei Ulrich Keicher.

Kappacher

„Die berühmte Fotografie, auf der Marilyn Monroe sommerlich karg bekleidet auf einem Gestell auf einem Kinderspielplatz James Joyce` Ulysees liest, offensichtlich in der Erstausgabe – wahrscheinlich das Exemplar von Arthur Miller, ihrem damaligen Ehemann -: Es wäre leicht, darüber zu schmunzeln, aber wie viele von den ‘Intellektuellen’ haben den Roman zu Ende gelesen? Das Bemühen, der Versuch des Autors Miller, seine Geliebte teilnehmen zu lassen an seiner Welt, hat etwas Rührendes.“

Zwar unterstellt der 1938 in Salzburg geborene Walter Kappacher der Schauspielerin mit diesem Zitat – wie viele andere wohl auch – sie habe nicht aus eigenem Antrieb zum Ulysees gegriffen, auch schwingt ein wenig Altväterliches in diesen Worten mit … aber gerade dieses ist es, was auch den „Notizen“ des Büchner-Preisträgers, die in einem schmalen, schön gestalteten Band unter dem Titel „Marilyn Monroe liest Ulysees“ erschienen sind, etwas Rührendes gibt.

Das aus dem Verlag Ulrich Keicher stammende Heft ist ein Sammelsurium von Textminiaturen, im Grunde in der Art eines Tagebuchs, in dem sich Gedankenblitze verschriftlicht finden, Banales, Profanes neben gescheiten Aphorismen, Zitate anderer Schriftsteller, Betrachtungen über das Schreiben, die Kunst, Kulturkritik, das Dasein als Dichter, das Leben an sich.

Aus all dem formt sich ein Bild: Kappacher, ein Gescheiter, aber auch einer, der dem Traditionellen verhaftet ist, ein wenig ein Gestriger, ein Scheuer, manchmal griesgrämig, manchmal ganz menschenfreundlich, ein „Typ“ eben.

Die Notizen, so schreibt Matthias Bormuth im Nachwort, „sind ungeschminkte, scheinbar beiläufige Beobachtungen, denen der Autor ihre unauffällige Gestalt beläßt. (…) Ihren poetischen Elan schöpfen sie nicht zuletzt aus dem tiefen Staunen, das sich mit den Erfahrungen wirklicher Schönheit verbindet.“ Bormuth fordert auf, einzutreten in diesen Kosmos, aber auch zu widersprechen, „wenn der Autor im Abseits der Zeit diese betrachtet und die Poesie als schöpferischen Notausgang preist.“

 Einige Fundstücke, die zum Eintreten und zum Widerspruch auffordern könnten:

„Für das Universum hat die Erscheinung ‘Mensch’ bei weitem nicht die Bedeutung, wie für uns jene einer Eintagsfliege.“ 

„Man sagt nicht mehr ‘ist in Ordnung’, sondern ‘passt’. Die Menschen verwandeln den Rhythmus ihrer Sprache, gleichen ihn dem primitivsten Beat der Rock- und Popmusik an. Tam-tam-tam. So tönt es aus den Autoradios.“ 

„Ein guter Mensch – denkt man dabei nicht unwillkürlich: Aber ob der bei Verstand sein kann?“

Bereichert werden die Notizen durch ebenso melancholische anmutende Fotografien: Walter Kappacher hält seit Jahren das Schilf und das Eis an einem Uferabschnitt des Grabensees im Salzburger Land fest, einige dieser Bilder sind im Heft zu finden.

“Marilyn Monroe liest Ulysses”. Notizen, Fundstücke und 13 Fotografien. Mit einem Nachwort von Matthias Bormuth. 40 Seiten. Format 14 x 23 cm. Fadenheftung, broschiert.

Es lohnt sich auch ein Blick auf das weitere Programm des Verlages, der ein Ein-Mann-Betrieb eines Bibliophilen ist: Seit 1983 gibt Keichel schön gestaltete Editionen und Bücher in kleinen Auflagen heraus: http://www.verlag-ulrich-keicher.de/