Marlen Schachinger im Gespräch: Über das Schreiben, ein gutes Leben, den Tod

Die erste rein literarische Totenmesse “Requiem – Fortwährende Wandlung” ist das Werk der drei Autoren Markus Orths, Michael Stavarič und Marlen Schachinger.

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Im Herbst 2017 erschien im österreichischen Verlag Septime ein ungewöhnliches Buch: “Requiem – Fortwährende Wandlung”, wohl die erste rein literarische Totenmesse. Ein Experiment in mehrfacher Hinsicht. Streng angelehnt an die Form des kirchenmusikalischen Totengedenkens, wie es die katholische Kirche kennt, setzen sich hierin drei Schriftsteller mit den Fragen um Leben und Tod auseinander. Die Form gab Struktur für dieses Projekt gemeinschaftlichen Schreibens, das Markus Orths, Michael Stavarič und Marlen Schachinger zusammenführte.

Am Anfang war das Wort. Nun folgt die Melodie zu diesem ungewöhnlichen Requiem: Der österreichische Kammersänger Wolfgang Bankl trat an die Autoren mit dem Wunsch heran, das Werk unter dem Subtitel “sprach: KLANG” zu vertonen. Eine produktive Zusammenarbeit kreativer Köpfe entstand. Eine erste Teilaufführung wird diesen Herbst im Österreichischen Kulturforum in Bratislava (13.10., 18:00 Uhr) über die Bühne gehen, die Uraufführung ist für 2019 bereits geplant.

Ich führte mit Marlen Schachinger ein Interview zu diesem außergewöhnlichen Requiem.

Frage: Wie Du in dem Video beschreibst, war ein erster Mosaikstein zur Entstehung des Buches eine Lesung mit Michael Stavarič. Ihr hattet euch eher scherzhaft darüber unterhalten, eine Lesung für die Toten zu schreiben. Das Buch selbst ist jedoch von großem Ernst, von Ernsthaftigkeit geprägt – konntet ihr im Arbeitsprozess dennoch eine Leichtigkeit beibehalten?

Antwort: Jeder Schreibprozess bedarf mehrerer Entwicklungsstufen, um zu gelingen. Des Scherzhaften, um neue Denkräume zu öffnen, des Ernsthaften, um in die Tiefe zu gehen. Im Hinblick auf den Arbeitsprozess an »Requiem« spiegelte sich dies darin, dass wir alle drei wussten, der Ernst sei die Prämisse, die Leichtigkeit jedoch unabdingbar notwendig. So ist es uns auch ein Anliegen, bei der Auswahl der Lesestellen für Veranstaltungen, unsere Leser*innen in diese doch oftmals schwierige, emotionale Thematik einer Auseinandersetzung mit dem Sterben hinein- und auch wieder hinauszubegleiten; mit einem leisen Schmunzeln, vielleicht sogar mit einem Auflachen. Unseres Erachtens besteht zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit kein Widerspruch. Oder man könnte auch sagen, dass Tragik und Komik zwei Blicke auf eine Landschaft sind. Sieh dich doch einmal um: Unser aller Leben ist von solch absurder Komik geprägt! Jeder einzelne Tag … Dies gerade in der Auseinandersetzung mit jenem Themenkreis – Sterben, Abschied, Wie leben?, Was hinterlassen? – im Blick zu behalten ist eine Lebensnotwendigkeit. Wie die Literatur …

Frage: Inwiefern unterscheidet sich so ein Schreibprozess zu dritt von der Arbeit alleine? War es gerade bei diesem Thema, einer Totenmesse, gut, vielleicht auch entlastend, sich mit anderen austauschen zu können?

Antwort: Nun, die Differenzen eines Arbeitsprozesses zu dritt gegenüber der gewohnten Einsamkeit am Schreibtisch sind eher struktureller Natur. Es gilt zum Beispiel abzuwarten, bis der eine Kollege mit seinem Textteil fertig ist – zumindest in einer Rohfassung. Der Zeitplan der Arbeit folgt also nicht bloß dem eigenen Gutdünken. Bei »Requiem« war es Markus Orths, der den Rahmen lieferte und damit die Basis des Gesamtwerkes. Basierend auf dieser Erstfassung machten sich Michael Stavarič und ich an die Arbeit, um Lesungsteil sowie Evangeliums-Pendant zu verfertigen. Was uns verblüffte, war die Tatsache, dass manche Komponenten, manche Textelemente bei allen dreien auftauchten, ohne dass wir dies je abgesprochen hätten. Damit wurde das finale Verweben der drei Teile natürlich ungemein erleichtert.

Erst in der Endphase, da wir Übergänge gestalten wollten, Verwebungen einsetzen, fand ein Austausch statt. Dieser ließe sich jedoch eher unter Korrektorat und Lektorat subsumieren. In die Sichtweise jedes Einzelnen auf die Thematik wollte ich nicht eingreifen.

Frage: Und hat sich Dein Blick auf den Tod, auf das Leben durch diese Art des gemeinsamen Schreibens konkret verändert?

Antwort: Ja, durchaus. Doch weniger aufgrund des gemeinsamen Schaffens, sondern vielmehr durch die thematische Beschäftigung mit dem Prozess des Sterbens als Abschied. Und das ist gut so: Neue Aspekte eines Themas, die während des Arbeitsprozesses sich auftun, motivieren zur Weiterarbeit und öffnen neue Denkräume. Sonst hätte ich dieses Projekt auch nicht umsetzen wollen. Ein Gutteil der Schreibmotivation ist eben Entdeckungslust. Was mich am Todes-Thema bislang überraschte: Zu Beginn meiner Beschäftigung war ich überzeugt, ich könne zwar kein ›Wozu?‹ beantworten,  hätte aber zumindest eine Ahnung, vielleicht sogar einen Begriff davon, was ›leben‹ hieße: eine ziemlich mühselige Angelegenheit, ein Balanceakt zwischen Sich-Abstrampeln und fortwährendem Kämpfen, 90% anstrengend, 10% entspannt, so ließe sich das Verhältnis pauschal formuliert zusammenfassen. Dachte ich. Nun, nach zwei Jahren der Beschäftigung mit jenem Thema würde ich sagen, es sind 90% Langmut (oder für diejenigen, die das Modewort eher verstehen: Gelassenheit) versus 10% K(r)ampf – maximal …

Frage: Wie kann man sich das ganz praktisch vorstellen: Nahm jeder von euch sich einen Teil der Totenmesse vor, um einen eigenen Text zu konzipieren, arbeitete daran eigenständig oder war es ein regelmäßiger Austausch, auch gegenseitige Kritik und Lektorat beinhaltend?

Antwort: Markus Orths, der sich vor allem für den Rahmen einer liturgischen Feier interessierte, begann. Er fertigte die Basis. Nach Lektüre dieses Rahmens begannen Michael Stavarič und ich parallel zu arbeiten. Wir sprachen da auch nicht viel miteinander ab, bloß die Bibelstellen, welche unseren jeweiligen Hauptfokus bilden sollten, damit hierin keine Überschneidungen geschehen mögen. Michael wählte sich Kain und Abel, ich das Buch Kohelet, zu dem ich seit vielen Jahren einen affinen Bezug habe, gerade weil es keine eindeutige Antwort geben will, weil es mehr ein philosophisches Nachsinnen ist.

Erst als alle drei Rohfassungen unserer Passagen fertiggestellt waren, tauschten wir uns miteinander aus. Dadurch, dass zufällig bereits Bezüge zueinander in allen drei Teilen existierten, war das Verweben ein eher einfaches Unterfangen. Mittels dieser wertschätzenden Kritik der anderen beiden erarbeitete alsdann jede/r für sich die Finalfassung.

Frage: Es ist, wie ihr annehmt, die erste Totenmesse, die nur als Text entstand – ich empfinde das Buch als sehr melodisch, habe einige Passagen daraus laut gelesen. Nun wird der Prozess quasi umgekehrt – euer Requiem wird vertont. Wie sehr seid ihr in die Arbeit des Komponisten mit eingebunden?

Antwort: Ich bin in diesen Arbeitsprozess eingebunden, und finde dies auch ungemein spannend, da eine Vertonung für mich Neuland ist. Kammersänger Wolfgang Bankl, der bei unserer Uraufführung als Gast anwesend war, trat wenig später mit dem Wunsch an mich heran, aus meiner Passage »Windhauch« eine vertonte Variante erarbeiten zu dürfen. Seither trafen wir einander mehrfach, tauschten uns aus. Wobei hier anzumerken wäre, das sprichwörtliche Heft habe hierbei naturgemäß Wolfgang Bankl in der Hand. Ich fungiere in diesem Zusammenspiel eher als Echoraum, sei es um Nuancen abzustimmen, hier die Erlaubnis zur Tilgung eines Wortes, zur Wiederholung eines Satzelements zu geben. Da Wolfgang Bankls Konzept einen Wechsel zwischen Gesang und Rezitation vorsieht, um dem Textwerk seinen Klangraum zu lassen, ist jede gesungene Aufführung auch eine vorgetragene …

Frage: Wird sich der Text durch die Vertonung verändern, werden, wie ich annehme, andere Akzente gesetzt?

Antwort: Minimal; und erstaunlicherweise kaum nennenswerte Veränderungen. Hier ein ›und‹ gestrichen, dort eine Wiederholung gesetzt – viel mehr Textarbeit forderte Wolfgang Bankl nicht ein. Für mich persönlich war dies ziemlich frappierend, ging ich doch zuerst intuitiv davon aus, dass meine Kohelet-Variation mehr oder weniger gänzlich umzuschreiben sein würde. Das war nicht der Fall. Nun, gegen Ende dieser Zusammenarbeit bin ich klüger geworden – so könnte man es nennen. Oder aber: Diese Herangehensweise hat auch mit Wolfgang Bankls Respekt vor Literatur zu tun, dass er in ein Kunstwerk nur dann eingreifen mag, wenn es ihm unabdingbar nötig scheint. Und damit dass er ein Meister seines Faches ist – er könnte auch das Telefonbuch singen, und es wäre faszinierend, ihm zu lauschen!

Frage: Als Chorsängerin bist du ja auch in der Musik zuhause – hattest du bereits beim Schreiben Melodien im Kopf, im Ohr? Und wenn ja, wie sehr beeinflusst das nun die Herangehensweise an die Vertonung?

Antwort: Für mich ist jedes Sprachkunstwerk immer die Erschaffung eines Klangraumes, meine Vorarbeiten im Bauplan ähneln der Erschaffung einer umfangreichen Komposition, und meine Notizen am Rand der Lesungspassagen haben durchaus den Charakter des Arbeitens an einer Partitur. In der Zusammenarbeit mit Wolfgang Bankl erhielt ich den Eindruck, dass er jenen Klangraum intuitiv erspürt – wenn ich dies mal so unwissenschaftlich und etwas pathetisch sagen darf …

Das klingt nun vielleicht alltäglich, ist es trotzdem nicht. Manchmal werden unsere Werke in Ausschnitten ja bei Radiosendungen von Schauspieler*innen gelesen, und mehr als einmal reagierte ich darauf mit – ich würde es nicht Ärger nennen, aber Verwunderung: Wenn ich hörte, wie sie die Interpunktion zum Beispiel schlicht ignorierten, mit ihren Vorstellungen eines Sprachmusters ignorant darüber hinwegpreschten. Oder die Debatten mit manchen Herausgeber*innen, die ein Textwerk aus unzähligen eingereichten Arbeiten auswählen, um dieses eine für eine Anthologie anzukaufen. Dann erhält man die Fahnen und sieht: Moment! Da wurde automatisiert jedes Redezeichen, einfache und doppelte nivelliert. Oder ähnliche Originalitäten! Als bestünde keine Differenz zwischen allen existenten Zeichen der Interpunktion oder als würde sich eine Literatin nichts zu ihrem Einsatz überlegen, sondern Zeichensetzung nach Zufallsprinzip über den Text streuen … Deshalb sind für mich solch andere Erfahrungen der Zusammenarbeit immer sehr erfreulich: Sie zeigen mir, dass es noch Menschen gibt, die ein Kunstwerk mal zuerst betrachten wollen, ihm lauschen, bevor sie es sich aneignen.

Frage: Euer Requiem ist ja kein klassischer “Trauergesang”, der den Tod in schwarzen Farben malt und dafür ein besseres Leben im Jenseits verspricht.

Antwort: Danke! Vielleicht auch deshalb nicht, weil wir an kein Jenseits glauben? Also, ich zumindest nicht. Und bitte auch keine Wiedergeburt, man verschone mich damit. Dieser einmalige Tanz ist mir komplex und schwierig und wundervoll genug! Ihn einmalig gelungen zu gestalten, das ist mir ausreichend Herausforderung …

Frage: Das Buch kreist ja stark auch um die Fragen; Wie ein gutes Leben VOR dem Tod führen? Wie mit Abschieden als Lebender umgehen? Das Buch lässt der Trauer ihren Raum, aber auch der Lebensfreude, genauso jedoch – und dies ist wohl der religionskritische Aspekt – hadert er mit einem Gott und dessen Herrschaftsanspruch über Leben und Tod. Kann es gelingen, dieses breite Spektrum an Emotionen, die der Text beinhaltet, in einen kompositorischen Rahmen zu bringen?

Antwort: Doch, ich denke schon. Möglicherweise auch, weil jedem von uns dreien ein Aspekt relevanter war als ein anderer. Mich zum Beispiel beschäftigt seit jeher die Frage des »Wie leben?«, sodass es final ›gut‹ genannt werden könne. Vielleicht, weil ich für mich die Augen in jenem Gefühl schließen möchte: Gut ist es und genug jetzt.

Will jemand an einen Gott glauben, sieht er oder sie darin eine Stütze: meine Güte, warum nicht? Solange man andere nicht bekehren will … Ich persönlich stamme aus einer sehr religiösen Familie – mein Vater ist katholischer Pfarrer ohne Amt, meine Schwester Pfarrassistentin. Mir ist deshalb auch ein respektvoller Umgang mit Religion relevant. Auch wenn ich nicht gläubig bin. Respektvoll, aber nicht unkritisch. Daher hatte ich mit Absicht für dieses Projekt von Beginn an Kolleg*innen gesucht, die selbst keiner Religionsgruppe zugehören, die jedoch gewillt waren, feinfühlig und respektvoll damit umzugehen. Von Gesprächen mit Michael Stavarič wusste ich, dass ihn die wahnhafte Seite interessierte; und Kain und Abel als Frage der sozialen Verantwortung füreinander. Von Markus Orths wusste ich, dass er ebenso wie ich aus einem religiösen Elternhaus stammt und gleichfalls während späterer Jugendjahre eine geistliche Laufbahn andachte. Als ich ihn fragte, ob er an einer Mitarbeit Interesse habe, sagte er sogleich zu und teilte mir im nächsten Satz mit, sein Vater sei vor wenigen Monaten verstorben. So wurde »Requiem« für ihn auch Teil dieses Abschieds von seinem Vater, eine Liebeserklärung an jenen Mann, der ihn prägte, der sein Schreiben begleitet hatte, von allerersten Versuchen an. Diese déclaration d’amour schloss auch seine eigenen Kinder ein …

Du fragtest mich zuvor, ob und wie die Arbeit an »Requiem« etwas verändert habe, in unserem Denken. Vielleicht sollte ich hier noch hinzufügen, dass es – auch für mich – jenes Werk ist, welches mir am nächsten kommt, es ist mein Tod, der darin erzählt wird, mein Partner, dem ich wünsche, er möge alsdann mit einer gewissen Leichtigkeit damit umgehen können. Meine déclaration d’amour an ihn, ja, so könnte man es sagen.

Frage: “Requiem” – die katholische Totenmesse – gibt Titel und Form eures Buches. Ganz offen gefragt: Ist dies in einer überwiegend agnostischen bzw. kirchen- und religionskritischen Welt nicht geradezu ein Wagnis, sich so direkt auf die Liturgie der heiligen Messe zu beziehen?

Antwort: Vielleicht. Das mag durchaus sein. Aber ohne Wagnisse entstünde keine Literatur. Oder keine, die dieses Nomen verdient. Eine Reibung ohne Bezugsfläche wäre keine, daher entschieden wir uns absichtlich für diese Form, um sie mit neuen Inhalten zu füllen. Es ist gut, dass manche darin eine Provokation sehen – sei es in der Anmaßung, ein Evangelium zu verfassen oder in der Wahl einer liturgischen Feier als Rahmen.

Und nein, ich bin nicht der Ansicht, dass Religion im weitesten Sinn passé sei. Ganz im Gegenteil. Just in Zeiten des Wandels finden religiöse Gruppierungen jedweder Art enormen Zustrom, möge es sich dabei nun um eine der bekannten Weltreligionen oder um esoterisch verbrämte Glaubensrichtungen handeln. Es mag manchem sauer aufstoßen, dass ich, als Agnostikerin, diese diversen spirituellen Varianten wie Geistheiler *innen und Katholik*innen, Engelsbeschwörer*innen und Muslime, Körperfetischist*innen, Sportfans und mosaisch Gläubige nebeneinander stelle. Damit kann ich gut leben. – Nebeneinander! Nicht auf eine Ebene!Nebeneinander, weil all diesen Glaubenskonzepten neben einer Reflexion über das eigene Leben, die ich relevant finde, eben auch die Übertragung einer Verantwortung, zumindest in Teilen, an eine übergeordnete Instanz immanent ist, und das scheint mir bedenklich. Diese übergeordnete Instanz hat zu oft in unserer Historie dafür herhalten müssen, dass sich Menschen berufen fühlten, ihr Denken abzugeben und sich final aus der Verantwortung zu schleichen.

Dafür wird man heutzutage für die Anmaßung, ein Evangelium zu verfassen, im abendländisch-christlichen Raum nicht mehr geviertelt und gesteinigt. Stell dir vor, wir hätten uns als Rahmen einen islamischen gewählt … Für den christlichen hingegen wird man höchstens abgelehnt. Aus zweierlei Gründen: Weil Literaturhäuser zum Beispiel in der Auseinandersetzung damit keine Literatur sehen. Weil Veranstalter*innen dieses Werk fürchten: Es würde manche Besucher*innen verunsichern, deshalb wolle man keine Lesung daraus verantworten. Verunsicherung aber scheint mir eine gute Sache. Keine angenehme Situation, das nicht. Doch sinnvoll! Mir ist das ganze Leben und die Menschen darin eine permanente Auseinandersetzung mit Verunsicherung. Sicherheit? Gibt es nur im Tod! Die hat man dafür alsdann länger. Ist ja auch was …

Oder andersherum erzählt: Ein katholischer Pfarrer meinte mir gegenüber im Dialog: ›Hadern und Zweifeln, die Bibel ist voll davon. Was soll eine Religion taugen, die dies nicht aushält?‹

Frage:  Tod und Leben als zwei Ansichten einer Landschaft, zwei Seiten der Medaille: Die Religion kann den Menschen einen Halt und eine Aussicht geben, die mit der Endlichkeit des Lebens hadern. Aber braucht es die Religion, um ein gutes Leben zu führen?

Antwort: Meines Erachtens: nein. Absolut nicht. Ein gutes Leben, im Sinne eines reflektierten Seins, sich selbst und aller Konsequenzen bewusst seienden Da-Seins, das bedarf in meinen Augen keiner Religion; auch keiner spirituellen Gemeinschaft. Dass es für manche hilfreich sein mag, sie sich darin und alsdann wohler fühlen – nicht nur aber auch, weil sie glauben, einen Teil der Verantwortung abgeben zu dürfen – das steht auf einem anderen Blatt. Dass gerade dieses Miteinander in Zeiten der Vereinsamung, in unserem Jahrhundert des Egozentrismus vielen wichtig ist, kann ich hingegen gut nachvollziehen. Der Mensch ist kein Einzelgänger, sondern ein soziales Wesen. Er bedarf des Du, um sich zu erkennen.

Neulich besuchte ich zur Recherche für einen Roman eine Esoterik-Messe. Am erschreckendsten war für mich (unter anderem) dort ein Stand, der Kleidung mit der Aufschrift ICH vertrieb. T-Shirts, Pullover, Jacken – und mittig prangte groß auf jedem Stück in Blockbuchstaben jenes Personalpronomen. Als bedürfe es in unserer Zeit nicht weitaus eher eines bewusst wahrgenommenen DU! – konservativ? Ja, vielleicht bin ich das. In diesem Teilaspekt auch gerne. – Und ebenso gerne hätte ich dort einen Pinsel genommen und wäre mit roter Farbe zu Werke gegangen, hätte neben das Ich rechts wie links ein DU gesetzt  … Aber das führt nun vom Thema weg.

Ob man der Religion bedarf, in welcher Form auch immer, das hat ein jeder und eine jede doch selbst zu entscheiden – und diese Entscheidung ist respektvoll zu akzeptieren, solange davon kein anderer Mensch in seinem gestaltenden Sein beengt wird, denn die Freiheit meines Ichs endet eben genau dort, wo diejenige eines anderen Ichs beginnt. Dort hinein unbedingt fluten zu wollen, das ist in meinen Augen jedoch eine bedenkliche Konsequenz aller fundamentalistischen, missionarischen Glaubensrichtungen, und Religionen oder religionsersetzende Überzeugungen – und hierzu zähle ich auch die gesamten Spielformen des Gesundheitswahns – tendieren bedauerlicherweise stets dazu, das eigene Denken zu verteidigen und andere dazu bekehren zu wollen.

Ich persönlich denke, für mich ist die Kunst jener Raum, dessen ich bedarf, um mit der Endlichkeit umzugehen. Ich brauche die Reflexion, die sich mir darin bietet. Das Erproben divergierender Lebenskonzepte. Ja, ich würde sagen, als Literatin habe ich diesen ungemein bereichernden Vorteil mich nicht begrenzen zu müssen, ich kann im Kontext des literarischen Schaffens Mann sein, Frau sein, religiös sein, Atheistin sein – oder eben sterben. Und für Leser*innen in meinen Erzähluniversen eine Welt erschaffen, die ihnen dieses Durchdenken und Erleben gleichfalls ermöglicht.

Verlagsinformationen zum Buch:
http://www.septime-verlag.at/Buecher/buch_requiem.html

Marlen Schachinger zu “Requiem”:

Daniel Faßbender im Gespräch: Roofen oder Schreiben – was ist Fiktion, was Realität?

Ein Interview ohne Worte mit meinem Blogbuster-Favoriten und eine sensationelle Leseprobe in luftigen Höhen: Die weltbeste Geschichte vom Fallen.

Daniel Faßbender hat mich mit “Die weltbeste Geschichte vom Fallen” begeistert. Das Manuskript um einen jungen Mann, der sich in der Roofer-Szene bewegt, hatte es mir vom ersten Satz an angetan – und so wurde dieser Roman mein Favorit für den Literaturpreis Blogbuster. Weil der Text selbst von einer so ungewöhnlichen Szene erzählt, haben Daniel und ich uns entschieden, ihn auch außergewöhnlich in Szene zu setzen: Ein Interview ohne Worte über den Dächern von Köln.

Daniel, Dein Text handelt von einem Roofer. Kennst Du das aus eigener Erfahrung?

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Alle Bilder: Markus Syska

Roofen, Freiheit über den Dächern, und der Handlungsort Stockholm. Gibt es dafür spezielle Gründe?

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Dein junger Protagonist ernährt sich überwiegend von Kakao und Zimtwecken. Ist das auch Dein täglich Brot?

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Gibt es für Dich literarische Vorbilder?

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Arbeitest Du bereits an einem neuen Manuskript?

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Was bedeutet Schreiben für Dich?

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Und hier gibt es noch eine sensationelle Leseprobe:

Jutta Reichelt im Gespräch: Wie war der Weg vom Manuskript zum Buch?

Das Schreiben ist nur ein Teil der Arbeit. Wie aber kommt ein Manuskript zum Verlag? Die Schriftstellerin Jutta Reichelt im Interview über ihre Erfahrungen.

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Jutta Reichelt, 1967 in Bonn geboren, studierte Jura und Soziologie in Bonn und Bremen. Freie Schriftstellerin, lebt und arbeitet in Bremen, unterrichtet Literarisches Schreiben, leitet diverse Literaturwerkstätten, gehört dem Masken-Ensemble des Bremer Blaumeier-Ateliers an. Bisher erschienen von ihr Erzählbände, die Romane „Nebenfolgen“ und „Wiederholte Verdächtigungen“. Jutta Reichelt erhielt mehrere renommierte Auszeichnungen, u. a. war sie Stipendiatin der „Bremer Romanwerkstatt“, Preisträgerin des Tübinger Würth-Literaturpreises sowie des Irseer Pegasus. Und in der Blogosphäre kennt man sie durch ihren eigenen Blog “Über das Schreiben von Geschichten”, auf dem sie wertvolle Schreibtipps teilt.

Höchste Zeit einmal für ein Interview mit Jutta zu der Geschichte ihres Romans: Wie wurde aus den wiederholten Verdächtigungen der wunderbare Roman, den ich nicht oft genug empfehlen kann?

Liebe Jutta, Du hast fast sechs Jahre an Deinem Roman “Wiederholte Verdächtigungen” gearbeitet – wann kam der Punkt für Dich während dieser Zeit, als Du wusstest: Jetzt ist es soweit – ich will das Manuskript einem Verlag vorstellen?

Ich glaube nach etwa drei Jahren entwickelte sich bei mir (auch durch die Rückmeldungen anderer AutorInnen) die Einschätzung, dass die „Wiederholten Verdächtigungen“ sich auch in einem größeren Literaturverlag würden behaupten können. Von dem Zeitpunkt an habe ich das Manuskript immer mal wieder verschickt.

Wie geht man als Autorin dabei vor – einfach ein Manuskript einzuschicken, ist da wohl wenig erfolgsversprechend?

Nach allem, was ich höre, ist es der am wenigsten erfolgversprechende Weg – aber hin und wieder kommen wohl auch so Veröffentlichungen zustande. Das Problem ist, dass es gerade für „literarische AutorInnen“ generell schwierig ist – jedenfalls bilde ich mir ein, dass es erheblich einfacher wäre, wenn ich mal einer meiner Krimi-Ideen nachginge. Anders gesagt: eine gute Agentur zu finden ist ähnlich schwer, wie einen guten Verlag zu finden.

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Jutta Reichelt. Bild: Caro Dirscherl

Hast Du Dir gezielt mehrere Verlage ausgesucht und kontaktiert?

Ich habe in einer ersten Runde nacheinander Kontakt zu vier größeren Agenturen aufgenommen, bei denen ich mich auf Empfehlungen anderer AutorInnen beziehen konnte. Da gab es durchweg positive Reaktionen, allerdings  auch immer ein „aber“.

Ich erzähle mal von einer Absage,  weil es eine schöne Geschichte ist und weil sie mir tatsächlich sehr weitergeholfen hat: Ich erhielt von einem Agenten eine sehr knappe Absage (wofür man schon fast dankbar sein muss, weil manche Agenturen sich überhaupt nicht melden) und vom selben Agenten nochmals sechs Monate später eine weitere. Er entschuldigte sich, dass er so spät erst reagierte, wusste also offenbar nicht mehr von der früheren Absage. Er lobte dann sehr den Ton, die Sprache, die „fast makellose Prosa“, monierte aber, dass er in die Geschichte nicht richtig reingekommen wäre, dass ihm das alles zu lang gedauert hätte. Als ich das las, dachte ich: Das darf nicht wahr sein! Die Geschichte, die ich vor mir sehe, die ich in den „Wiederholten Verdächtigungen“ erzähle, ist so stark, es muss mir doch gelingen, dafür eine Form zu finden. Und dann habe ich jeden Absatz, jeden Satz daraufhin überprüft, welche Funktion er für den Text hat – und etwa 50 Seiten gestrichen…

 Wie war das emotional für Dich – ein Stück Arbeit, die ja auch ein Stück Deines Lebens ist, zur “Bewertung” durch Lektoren und Verlagsmitarbeiter aus der Hand zu geben?

 Was ich schwierig finde, ist der Umstand, den ich eben angedeutet habe: Dadurch, dass die Agenturen und Verlage derart mit Manuskripten überschwemmt werden, gelingt es den wenigsten, den Ablauf zu gewährleisten, den sich vermutlich alle Beteiligten wünschen würden: Eingangsbestätigung und innerhalb von 6 – 8 Wochen eine Entscheidung. Manche Agenturen schreiben z. B. auf ihrer Homepage: „Wenn Sie nach 3 –6 Monaten nichts von uns gehört haben, können Sie davon ausgehen, dass wir kein Interesse haben.“ Da ist dann die Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die das Manuskript für die Autorin, den Autor hat und der Bedeutung, die ihm vom Gegenüber entgegengebracht wird, schon frustrierend. Und, dass alles so lange dauert: Bei einem größeren Verlag sah es längere Zeit ganz gut aus – und dann wurde es doch nichts und es waren wieder insgesamt neun Monate vergangen, in denen ich auch nichts anderes hatte versuchen können.

Wie gingst Du mit Absagen um?

Das war ganz unterschiedlich. Es gab welche, die ich  recht sportlich nehmen konnte, bei denen ich mich wie eben geschildert auch gefreut habe, dass vieles offenbar stimmt und dann aber auch ein oder zwei, die mich wegen ihres Tons  geärgert haben. Und natürlich ist es eine Enttäuschung. Aber es waren für mich immer eher Tage als Wochen oder gar Monate, in denen sich das auf meine Stimmung ausgewirkt hat. Und man muss einfach auch sehen, dass es für den großen Aufwand, den es für einen Verlag bedeutet, ein Buch zu „machen“, einfach auch nicht reicht, es „nur“ gut oder sehr gut zu finden – es muss dann wirklich begeistern oder zumindest die Hoffnung wecken, es würde genug LeserInnen begeistern.

Veröffentlicht wurde “Wiederholte Verdächtigungen” bei Klöpfer&Meyer, einem Verlag der sich neueren Stimmen der deutschen Literatur öffnet. Wie fandet ihr zusammen?

Ich habe 2008 den Preis der Jury des Irseer Pegasus erhalten, der in eben diesem Jahr sein zehntes Jubiläum feierte, weswegen eine schöne Anthologie erschien – im Klöpfer & Meyer Verlag. Huber Klöpfer, der Verleger, brachte die druckfrischen Exemplare direkt nach Irsee und es kam zu einer kurzen Begegnung zwischen uns, auf die ich mich dann berufen konnte, als ich ihn vor gut zwei Jahren anschrieb. Und dann gab es noch einen weiteren Anknüpfungspunkt nach Tübingen, wo der Verlag sitzt, der sicherlich ein „Türöffner“ war: Ich hatte 2001 den Würth-Preis der Tübinger Poetik-Dozentur erhalten, verbunden mit einer Laudatio von Herta Müller.

Vom Vertrag bis zur Veröffentlichung: Wie lange hast Du dann noch am Manuskript gearbeitet? Wie sah Deine Zusammenarbeit mit dem Verlagslektorat aus?

Im  Frühjahr 2014 hatte ich die Zusage von Hubert Klöpfer, dass er das Buch verlegen wird, im Sommer haben wir uns dann in Tübingen getroffen und über Details gesprochen und dann war klar, dass der Text im Spätsommer ins Lektorat ginge und ich bis dahin Zeit hätte ihn nochmals zu überarbeiten. Zunächst dachte ich daraufhin: Ich habe den Text jetzt schon so oft überarbeitet, ich warte erstmal ab, was die Lektorin Petra Wägenbaur dazu sagt. Aber dann habe ich bei einer weiteren Lektüre des Textes festgestellt, dass ich mit dem letzten Drittel des Textes und auch mit dem unmittelbaren Ende noch nicht vollkommen zufrieden war und habe also den Sommer über nochmals sehr konzentriert an dem Text gearbeitet.

Die Zusammenarbeit mit der Lektorin war dann sehr entspannt, von wechselseitigem Respekt geprägt. Aber da war der Text auch schon in einer sehr „guten Verfassung“ – was ich auch den beiden wunderbaren Autoren-Kolleginnen Ulrike Ulrich und Kerstin Becker zu verdanken habe, die den Text über die Jahre mehrfach gelesen haben.

Und wieviel Einfluss hattest Du als Autorin auf die Buchgestaltung?

Ich hatte die Möglichkeit, Vorschläge zur Cover-Gestaltung zu formulieren, aber eher, um zur Ideenfindung beizutragen und weniger, um einen sehr konkreten Vorschlag zu machen, der dann übernommen wird. Aber ich hatte die Zusage, dass ich bei allem (Cover, Klappentext, Vorschau) eine Art Veto-Recht habe. Bei der Vorschau war es dann auch keine Frage, dass meine Änderungswünsche angenommen wurden, was oft vor allem ein Zeitproblem ist. Für mich war wichtig, dass es bei dem Titel bleibt und ansonsten kann ich sehr gut andere ihre Arbeit machen lassen und anerkennen, dass sie davon mehr verstehen als ich – zum Beispiel von Gestaltung.

Wiederholte Verdächtigungen ist Deine vierte Buchveröffentlichung – fängt für Dich mit dem fünften Buchprojekt dieses Procedere der Verlagssuche dann wieder von vorne an? Oder wird es von Buch zu Buch aufgrund wachsender Kontakte – so wie ja auch der Kontakt zu Klöpfer&Meyer durch ein persönliches Zusammentreffen entstand – einfacher?

Was den “neuen Roman” betrifft, gibt es von meiner wie auch von Verlagsseite die Absicht, weiter miteinander zu arbeiten – was mich auch deswegen sehr freut, weil ich die Zusammenarbeit mit dem ganzen Verlagsteam als ungewöhnlich angenehm empfunden habe: sehr engagiert, qualitativ hochwertig und humorvoll. Aber ich habe mittlerweile auch noch ein paar andere Projekte, die nicht in das Profil von  Klöpfer & Meyer passen (ein Kinderbuch und einen “anderen” Schreibratgeber um mal die zu nennen, die schon weit gediehen sind) – und da bin ich wieder auf der Suche und merke, dass ich jetzt schon in einer besseren Position bin, als noch vor einem Jahr – aber mal schauen, vielleicht versuche ich es auch noch mal mit einer Agentur …

Gerald Drews im Gespräch: Was macht ein Literaturagent?

Der Augsburger Autor, Journalist und Literaturagent Gerald Drews gibt im Interview Einblick in seinen Arbeitsalltag.

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Ich durfte den Literaturagenten Gerald Drews in Aktion erleben. Und habe ihn dann gleich mal zu einem Interview überredet. Weil ich selbst neugierig war: Was macht man eigentlich, so als Literaturagent? Mein Dank gilt Gerald, der hier Einblick gibt in seinen Berufsalltag, in Herzensprojekte, berufliche Härten und Glückmomente.

Gerald Drews, 61 Jahre, ist Inhaber der Medien- und Literaturagentur Drews in Augsburg. Seine Kollegin Conny Heindl und er betreuen rund 50 Autoren in den Bereichen Belletristik, Ratgeber, Sach-, Kinder- und Geschenkbuch. Als Autor arbeitet er für die Musikredaktion von Readers Digest und hat selbst rund 150 Bücher mit einer Gesamtauflage von rund vier Millionen verkaufter Exemplare geschrieben, allerdings noch keinen Roman. Privat engagiert er sich im Vorstand der Literaturgruppe 42erAutoren. Wenn er nicht selbst schreibt oder Manuskripte liest, dann spielt er Tennis, schaut Fußball oder verbringt ein paar Tage mit seiner Frau, der Autorin Christiane Schlüter, im Harz.

Wie wird man eigentlich Literaturagent – ein Ausbildungsberuf ist das ja gerade nicht?

Purer Zufall. Wie so vieles in meinem Leben. Ich habe eine klassische Journalistenausbildung bei der Augsburger Allgemeinen genossen, war danach mehrere Jahre in unterschiedlichen Positionen in der Weltbild-Gruppe tätig, um mich Mitte der 1980er-Jahre selbständig zu machen. Ich habe mich damals selbst bei einer Agentur verdingt, weil mir die Akquise auf eigene Faust zu riskant erschien. Die Agentur hat mir zunächst jede Menge Aufträge für Illustrierte vermittelt, bis eines Tages die Anfrage kam, ob ich Lust hätte, ein Buch über Nachbarrecht zu schreiben. Ich bin ins kalte Wasser gesprungen – denn ich hatte vom Thema keine Ahnung. Und man war beim Verlag – immerhin Heyne – ganz zufrieden, so dass ich weitere Aufträge in dieser Richtung bekam. Irgendwann hätte ich innerhalb von einem Vierteljahr drei Bücher schreiben sollen, was natürlich nicht ging. Aber absagen wollte ich auch nicht; denn wer weiß, ob der Kunde wiederkommt. Das klassische Dilemma eines jeden Freiberuflers. Also habe ich ein paar befreundete Kollegen gefragt, ob sie mir bei der Recherche helfen oder sogar den einen oder anderen Titel ganz übernehmen wollen. So fing alles an.

Wie kamst Du zu diesem Metier? Und wie kamen die Autorinnen und Autoren zu Dir?

Es war mir, ehrlich gesagt, anfangs ziemlich egal, was ich schreiben oder vermitteln sollte. Denn ich hatte eine junge Familie zu ernähren. Rechtsratgeber waren zu jener Zeit durchaus angesagt und es gab anscheinend nicht allzu viele gute Autoren, die so etwas populär vermitteln konnten. Nach dem Nachbarrecht folgten Mietrecht, Scheidungsrecht, Bausparen, Alles ums Auto und weitere Ratgeber – mir machte das auch Spaß, Fachthemen lesbar aufzubereiten und weiterzuvermitteln.

Wohl gemerkt: alles in der Zeit vor dem Internet. Was ich überhaupt nicht machen wollte, war ein Auftrag für das Buch „Latein für Angeber“. Denn ich habe mein Abitur nur mit Ach und Krach geschafft, nicht zuletzt dank dieses Faches. Ich hab‘s dann doch gemacht und bis heute von diesem Buch eine halbe Million Exemplare verkauft.

Parallel dazu habe ich relativ schnell ein Netzwerk von Leuten aufgebaut, die von den unterschiedlichen Themen Ahnung hatten und habe selbst die Texte, sagen wir einmal, verfeinert. Viele Kontakte entstanden durch Zufall. Mundpropaganda. Das funktioniert bis heute. Als dann irgendwann das ZEIT-Magazin eine große Reportage über mich brachte, konnte ich mich vor Anfragen kaum retten. Manche Autoren von damals haben mich über viele Jahre begleitet.

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Literaturagent Gerald Drews. Bild: Arno Loeb

Gibt es eine klassische Vorgehensweise? Also: Kommen Autoren mit fertigen Manuskripten zu Dir und Du suchst den passenden Verlag? Oder betreust Du auch Autoren von der Idee bis zum Buch?

Manchmal kommt ein fertiges Manuskript, das man nur weiterzureichen braucht. Manchmal kommt nur eine Idee, die man beim gemeinsamen Brainstorming verfeinert und weiterentwickelt. Manchmal treten aber auch Verlage mit Wünschen an die Agentur heran: „Wir hätten da eine Idee – haben Sie vielleicht den passenden Autor?“ Das ist sehr angenehm, denn mit eigenen Ideen Verlage zu überzeugen, ist eine Ochsentour. Entweder die Idee passt nicht. Oder der Autor. Oder der Verlag hat gerade selbst so etwas in Planung. Man braucht an dieser Stelle eine enorme Frustrationstoleranz.

Es gibt immer mehr Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt, gerade auch im Sachbuchbereich. Hat sich Deine Arbeit deswegen in den letzten Jahren erschwert, wird es schwieriger, sich in der Masse mit Ideen durchzusetzen?

Das kannst du laut sagen. Aus meiner Sicht hat vor allem das Internet die Szene ziemlich verändert, aber auch das Fernsehen. Schau dir mal die Sachbuchlisten an! Du findest sehr viele prominente Namen. Ganz selten mal etwas Überraschendes wie zum Beispiel „Darm mit Charme“. Schwieriges Thema, unbekannte Autorin. Hat trotzdem prima funktioniert, einfach, weil das Buch das gewisse Etwas hatte. Aber oft setzt man auf Fernsehgesichter oder internationale Titel. Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, sie investieren gut und gern in Spitzentitel. Für Neulinge bleiben oft nur ein paar Brotkrumen. Nur der prominente Spezialist zählt. So kommt es mir jedenfalls oft vor.

Warum sollten Deiner Meinung nach Autoren einen Literaturagenten aufsuchen? Welche Vorteile bringt das den Autoren?

Gerade als unbekannter Autor hast du kaum eine Chance, bei Publikumsverlagen Gehör zu finden. Es gibt einfach zu viele, die glauben, etwas zu sagen zu haben. Ich könnte jeden Monat fünf Coach-Konzepte unterbringen. Hinzu kommt: Verlage sind chronisch unterbesetzt, die Arbeit der Lektoren grenzt in vielen Fällen an Selbstausbeutung, die schleppen abends noch Manuskripte mit nach Hause, um sie dort zu lektorieren. Genauso wie wir in der Agentur eigentlich auch. Ganz zu schweigen von den Autoren, die dürfen ihren Stundenlohn gar nicht hochrechnen. Aber das nur nebenbei.

Zurück zu deiner Frage: Als Agent kenne ich die Türöffner. Ich weiß, welche Themen zu welchen Verlagen passen und wer die richtigen Ansprechpartner sind. Jemand, der den Markt nicht kennt, und davon gehe ich bei Autoren in aller Regel aus, kann diesen Dschungel kaum durchblicken. Natürlich nimmt eine Agentur Provision. Aber bedenkt ein Autor den Zeitaufwand, den er aufwenden müsste, ehe er selbst ein Buch unter Dach und Fach bringt? Hat er Ahnung von Buchverträgen? Weiß er es zu schätzen, sich während des Schreibprozesses Rat und Tat zu holen oder sich einfach mal auszuheulen oder besser noch: seine Freude zu teilen? Für all das sind wir da.

Was sind so die “Härten” in Deinem Job, was bringt die Glücksgefühle?

Immer wieder gegen verschlossene Türen zu laufen, vor allem mit Manuskripten oder Autoren, von denen man felsenfest überzeugt ist. Das ist hart. Enttäuschungen vermitteln zu müssen. Nach vielen Monaten gemeinsamen Hoffens und Bangens erkennen zu müssen, dieses Thema will niemand haben. Es ist ja nicht nur die Zeit, die man als Agent aufwendet (immer im Hinterkopf, dass da im Hintergrund ein Autor mit klopfendem Herzen wartet). Es sind auch die Emotionen. Mit vielen unserer Autoren sind wir befreundet. Das entsteht einfach durch die Arbeit. Und Freunde will man nicht enttäuschen.

Mit den Glücksgefühlen ist es natürlich das genaue Gegenteil: Wenn du etwas unterbringst, wenn der Anruf von einem Verlag kommt: Das machen wir! Wenn der Vertrag unterschriftsreif vor einem liegt – das hat schon etwas. Und erst recht, wenn sich ein Titel dann auch noch gut verkauft. Hart ist es natürlich auch, wenn man einen Titel untergebracht hat und der dann nicht läuft. Das ist leider eher die Regel als die Ausnahme.

Auf welches Buchprojekt warst Du am meisten stolz?

Für mich sind zunächst einmal alle Projekte mehr oder minder gleich wichtig. Klar gibt es ein paar, bei denen aufgrund des Themas mehr Herzblut drin steckt als bei anderen. So richtig stolz war ich zuletzt auf ein Buch mit dem Titel „Mein Sommer mit den Flüchtlingen“. Die Autorin Beatrice Bourcier hat innerhalb weniger Tage aufgeschrieben, was sie als Ersthelferin in ihrem kleinen Dorf erlebt hat. Ein Dutzend großer Verlage hat den Titel abgelehnt, vor allem weil man sich nicht in der Lage sah, ihn zeitnah zu veröffentlichen. Ein kleiner Verlag, ich denke, ich darf ihn an dieser Stelle nennen, Brandes & Apsel aus Frankfurt, hat uns das Vertrauen geschenkt, obgleich wir einander überhaupt nicht kannten. Erst dieser Tage habe ich eine tolle Besprechung des Buches von Rupert Neudeck, dem Gründer von Cap Anamur, erhalten. So etwas zählt natürlich zu den Highlights.

Gibt es ein Projekt, an dem Dein Herz und Kopf hingen, das aber nicht verwirklicht werden konnte?

 Ja, das gibt es auch. Ich bin ein lebendes Lexikon in Sachen populärer Musik, vor allem in Sachen Schlagern. Frag mich nicht, warum. Was ich ganz besonders faszinierend finde, ist die Biografie des Sängers Peter Orloff. Mal davon abgesehen, dass er ein ausgesprochen sympathischer Mensch ist, hat er wirklich ein faszinierendes Leben. Ein Vorfahre von ihm etwa, Graf Orlow, war der Geliebte von Katharina der Großen. Sein Vater kämpfte an der Seite der Weißen gegen die Roten während der Oktoberrevolution. Später gründete er den Schwarzmeerkosakenchor, in dem Sohn Peter schon als 14jähriger sang – übrigens an der Seite von Ivan Rebroff. Danach wurde er einer der erfolgreichsten Schlagersänger der späten 60er- und frühen 70er-Jahre. Und trotzdem will keiner diese Biografie haben. Daran bin ich echt verzweifelt.

Und welches Buch der letzten Jahre hättest Du gerne betreut?

Ich habe mit viel Vergnügen die Autobiografie von Rod Stewart gelesen. Ich mag diesen alten Haudegen einfach. Ich kann mir vorstellen, dass so ein Abend im Pub mit ihm höchst vergnüglich sein könnte. Wobei ich natürlich alkoholtechnisch gegen ihn keine Chance hätte. Nach zwei Guinness ist bei mir Feierabend. Wenn die Zusammenarbeit an dem Buch so unkompliziert wäre, wie sich Roddie gibt, hätte das wohl Spaß gemacht. Andererseits sind Prominente, oder besser: deren Berater, dann doch nicht immer ganz so einfach zu betreuen.

Jetzt frage ich noch den Literaturmenschen als Privatmann: Welches Buch wünschst Du Dir unter den Weihnachtsbaum?

 Wenn wir schon bei Autobiografien von Musikern sind: die Erinnerungen von Mike Rutherford fehlen mir noch in meiner Sammlung. Er ist nicht nur Mitglied bei Genesis, sondern mit seiner eigenen Band Mike & The Mechanics selbst äußerst erfolgreich. Ich mag nicht nur deren Musik, sondern mich würde auch interessieren, was es da alles so hinter den Kulissen zu erzählen gibt. Die richtige Lektüre zwischen den Feiertagen. Aber da habe ich mich jetzt für „Dictator“, den hochgelobten Cicero-Roman von Robert Harris entschieden.

Homepage der Literaturagentur Gerald Drews: https://www.gerald-drews.de/

Kathrin Schmidt im Gespräch: “Preisvergaben sind als demokratische Veranstaltungen nicht denkbar”

Kathrin Schmidt, die mit “Du stirbst nicht” 2009 den Deutschen Buchpreis errang, im Interview.

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Bild von Florin Radu auf Pixabay

2019 gehörte ich mit zum Team der Bloggerinnen und Blogger, die den Deutschen Buchpreis unter dem Hashtag #buchpreisbloggen begleiteten. Wir baten auch die Autorinnen und Autoren der vergangenen Jahre, mit uns über ihre Erfahrungen mit dem Deutschen Buchpreis zu sprechen. Auf Buchrevier hatte Tobias Nazemi bereits Julia Franck im Gespräch, Linus von Buzzaldrins Bücher interviewte Terézia Mora. Und hier kommt nun Kathrin Schmidt zu Wort, die Buchpreisträgerin des Jahres 2009.

Sechs Jahre sind seit der Auszeichnung von „Du stirbst nicht“ mit dem Deutschen Buchpreis vergangen. Werden Sie noch manchmal im Alltag darauf angesprochen?

Im Alltag? Was ist das? Ich schreibe ja alle Tage, und ich esse oder wasche alle Tage, und alle Tage legen sich zu meinem Leben übereinander. Sicher spricht mich wer an, aber kaum auf den Buchpreis. Das ist weit weg, lange her. Bekannte erwähnen ihn manchmal, „weißt Du noch?“, Unbekannte wissen davon nichts.

Wie geht man damit um, wenn man mit einem doch so sehr persönlichen Buch wie „Du stirbst nicht“ nun – trotz zahlreicher Veröffentlichungen zuvor – plötzlich so sehr in der Öffentlichkeit steht?

Ich finde das Buch nicht „persönlicher“ als meine anderen Romane. Ich kann ja überhaupt nur schreiben, wenn ich eine gewisse Distanz zum Gegenstand gewonnen habe. Das ist bei „Du stirbst nicht“ keinesfalls anders gewesen. Keine „Aufarbeitung“. Keine „Therapie“. Das lag hinter mir. Ich konnte die Erinnerungen an die Krankengeschichte einer anderen Person mitgeben, aber die Krankengeschichte ist ja hoffentlich nicht alles…

Die Freude über den Preis – so äußerten Sie das in einem Interview mit dem Tagesspiegel 2009 – kam einher mit belastenden Gedanken: Der Verlag diskutierte über Nachdruck, Verkaufszahlen, etc. Wie sehr setzt dies eine Schriftstellerin unter Druck, wie sehr beeinflusste es auch Ihre Arbeiten im Anschluss?

Das stürmte in den ersten Wochen auf mich ein, verlor sich aber bald. „Richtige“ Bestsellerautoren erleben das öfter, gewöhnen sich daran, denke ich. Ich brauchte mich zum Glück nicht daran zu gewöhnen, denn es war ein einmaliges Ereignis. Dass es mich nicht unter Druck gesetzt hat, würde ich heute nicht mehr sagen. Ich tat mich schwer mit dem nächsten Roman, der aber im nächsten Jahr nun kommt. Zum Glück hatte ich Kurzprosa und Gedichte, und zwar nicht zur Überbrückung. Und der Verlag war, wie vorher schon, keinesfalls drängend oder treibend.

Dem Deutschen Buchpreis werden ja zahlreiche Kritikpunkte vorgehalten. Unter anderem, es würden vorwiegend Bücher prämiert, die die einschneidenden Themen der deutschen Geschichte – Nationalsozialismus, Teilung, Fall der Mauer – zum Inhalt hätten. Ist das für sie – zumal sie sich in der Bürgerrechtsbewegung engagiert haben – ärgerlich, dass diese Themen so abgetan werden?

Das interessiert mich eigentlich nicht. Ich habe inzwischen oft genug erlebt, wie das Feuilleton tickt. Damit meine ich nicht die ehrlichen, guten Kritiker, die es zum Glück noch gibt. Aber oft wird ein subjektiver Eindruck nicht als subjektiver Eindruck verkauft, sondern als objektive Gegebenheit. Wenn das Gegenteil der Fall wäre, also stets nicht vordergründig politische Bücher gewählt würden, wären die Kritikpunkte auch gegenteilig. Als Korrektiv vielleicht gar nicht schlecht? Aber drauf geben muss man, glaube ich, nicht viel.

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Kathrin Schmidt bei der Buchpreisverleihung 2009. Bild: (c) Claus Setzer.

Sie wurden bei der Preisverleihung 2009 noch als „Karin“ Schmidt aufgerufen – war das auch ein wenig symptomatisch dafür, dass man, selbst 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, im „westdeutsch“ geprägten Literaturbetrieb viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die mit dem Schreiben in der ehemaligen DDR begonnen hatten, kaum kannte und las?

Das scheint mir ein Trugschluss zu sein. Wenn ich an die 80er Jahre denke, eigentlich also auch an den Beginn meiner eigenen Publikationserfahrung, so waren Schriftsteller meines Alters aus dem Gebiet der DDR dem westdeutschen „Literaturbetrieb“ Garanten für Aufmerksamkeit und Erfolg, und zwar nicht unbedingt abhängig davon, ob sie in der DDR verblieben oder ausgereist waren. Auch Literaturpreise gingen in den 80ern und 90ern oft an in diesem Sinne ostdeutsche Autoren. Unter den zehn Trägern des Buchpreises finden sich fünf ostdeutsch geborene und zwei mit „Migrationshintergrund“, dazu kommt ein Österreicher. Bleiben zwei Preise für genuin „westdeutsche“ Autoren. Dass Herr Honnefelder mich Karin nannte, war ihm womöglich peinlicher als mir unangenehm, ich habe einfach keinen Namen, den man sich merkt. Durs Grünbein hat es besser. Übrigens auch ein Ostdeutscher

In der von Marlene Streeruwitz angestoßenen Debatte haben Sie sich auch Gedanken darüber gemacht, wie eine demokratische Preisvergabe für „einen“ Roman des Jahres aussehen könnte. Vorschläge?

Preisvergaben sind als demokratische Veranstaltungen nicht denkbar. Wenn jeder Autor, den der Buchpreis trifft, auch an jene dächte, die ihn nicht bekommen, könnte er sich vielleicht sogar leichter und ehrlicher freuen. Bei mir war das übrigens einer der ersten Gedanken. Er ebnete die Freude nicht ein, mäßigte sie aber und sorgte für Bodenhaftung. Ich habe mich damit wohlgefühlt.

Weitere Informationen:

Die Jury begründete ihre Entscheidung 2009 für Schmidts Roman “Du stirbst nicht” so:

“Der Roman erzählt eine Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt. Silbe für Silbe, Satz für Satz sucht die Heldin, nach einer Hirnblutung aus dem Koma erwacht, nach ihrer verlorenen Sprache, ihrem verlorenen Gedächtnis. Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und lässt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen. Zur Welt, die sie aus Fragmenten zusammensetzt, gehört die zerfallende DDR, gehören die Jahre zwischen Wiedervereinigung und dem Beginn unseres Jahrhunderts. So ist die individuelle Geschichte einer Wiederkehr vom Rande des Todes so unaufdringlich wie kunstvoll in den Echoraum der historisch-politischen Wendezeit gestellt.”

Gerrit Bartels schrieb in der Zeit: “Die Auszeichnung trifft die Richtige.”

2014 äußerte sich Kathrin Schmidt zur Gender-Debatte um den Buchpreis in der Welt: “Eine Quote für den Buchpreis ist Frauenkohlsuppe.”