Daniela Engist im Gespräch: Das Paar am Strand

Bei der #indiebookchallenge im Mai stehen Bücher mit einem Gemälde auf dem Cover im Mittelpunkt. Daniela Engist wählte für ihren Roman ein Bild des Malers Alex Colville. Im Interview erklärt sie, warum ihre Wahl auf das Paar am Strand fiel.

Im Frühjahr 2021 veröffentlichte Daniela Engist ihren Roman “Lichte Horizonte” im Kröner Verlag. Das Cover ziert ein Gemälde des Malers Alex Colville, “Couple on beach”. Warum ihre Wahl auf dieses Bild fiel und wie es mit dem Roman korrespondiert, darüber spricht Daniela Engist im Interview:

Wie kamen Sie auf dieses Gemälde?

Auf den Maler Alex Colville hat mich Peter Stamm gebracht, der mir mal ein Bild zeigte, das er gerne für eines seiner Bücher gehabt hätte, woraus aus gewissen Gründen aber nichts geworden ist. Es war ein seltsames Bild, aber seltsam schön, und ich habe ein wenig gestöbert, was Colville sonst noch gemacht hat. Kunsthistorisch wird er zum Magischen Realismus gezählt, Tiere spielen in seinem Werk eine große Rolle. Vor allem aber hat er Porträts von Menschen in alltäglichen Situationen gemalt, sie sind altmeisterlich nach strengen Regeln komponiert, minutiös in der Ausführung und zurückhaltend in der Farbgebung – aber emotional stark, berührend.

Als es ums Cover für „Lichte Horizonte“ ging, habe ich mich daran erinnert und bin direkt an „Couple on Beach“ hängen geblieben. Das Bild stammt von 1957 und zeigt den Künstler und seine Frau Rhonda am Strand, ein sogenanntes verdecktes Doppelporträt. Verdeckt, weil man die Gesichter nicht sieht. Die Figuren sind ganz bei sich, abgewandt vom Betrachter.

Welche Assoziationen löste es aus?

Die Intimität, die diesem Bild eingeschrieben ist, hat mich sofort fasziniert. Es ist ein inniger Moment, auch ein Moment der erotischen Anziehung, aber ohne jede Anzüglichkeit, eine Art erotische Zugehörigkeit, wenn es das denn gibt. In Colvilles Bildern ist es ganz häufig so, dass sich die Figuren einander nicht direkt zuwenden, sie bleiben in einem Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz.

Welche Verbindungen hat das Bild zum Roman?

Nähe und Distanz spielen auch im Roman eine zentrale Rolle. Lasse ich mich auf einen anderen Menschen ein und wie weit gehe ich dabei? Wieviel von mir muss ich in eine Beziehung hineingeben, damit sie gelingen kann? Ab welchem Punkt gehe ich mir selbst verloren?

Und dann die Frage der gegenseitigen Wahrnehmung. Das Paar auf dem Gemälde nimmt sich nicht in den Blick. Sie hat einen Sonnenhut über dem Gesicht, scheint zu schlafen, bei ihm ist kaum zu sagen, ob er auf ihren Körper blickt oder nicht doch aufs Meer hinaus. Auch die Figuren in meinem Roman machen sich ihr Bild vom anderen, ohne allzu genau hinzuschauen, versuchen mit geschlossenen Augen zu sehen. Das erinnert an die Grundidee des Magischen Realismus selbst, die Synthese von gegenläufigen Wirklichkeiten, zu der auch meine Ich-Erzählerin tendiert. An einer Stelle sagt sie: „Ich habe eine Neigung, ein Bedürfnis sogar, die Welt anders sehen zu wollen, als sie ist. Manchmal würde ich gerne allen ins Gesicht schreien: Die Welt ist nicht so, wie ihr sagt!“

Wie korrespondieren Titel und Cover?

Daniela Engist. Bild: Anja Limbrunner

Im Versuch ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, beschließt Anne, die Erzählerin ihrer eigenen Geschichte zu werden. Dabei entfernt sie sich mehr und mehr von ihrem Mann Alexander, innerlich und äußerlich. Geografisch gesehen geht die Bewegung immer weiter nach Westen bis ins bretonische Finistère, wo sie ihr Buch zu Ende schreibt, während sie auf Stéphane wartet. Dort gibt es nur noch Meer und Himmel und Horizont – so wie auf Colvilles Gemälde. Der Strand am „Ende der Welt“ ist ein Ort, an dem man eine Weile unschlüssig auf und ab wandern kann, von dem aus es aber nur noch den Aufbruch zu neuen Ufern oder die Umkehr gibt. Und es ist ein Ort, den man verändert verlassen wird, egal für welchen Weg man sich entscheidet.

Warum ist das Bild auf dem Cover gedreht?

Das gehört zu den glücklichen Zufällen, die sich im ersten Moment wie eine Katastrophe anfühlen. In der Programmvorschau sah das Buch ja noch ein bisschen anders aus. Kurz vor Drucklegung ließ die National Gallery of Canada den Verlag wissen, dass sie nun doch nur das ganze Gemälde und keinen Ausschnitt, wie ursprünglich geplant, verwenden dürften. Vom Ansinnen her verständlich, es ging um die Integrität des Kunstwerks. Aber der Zeitpunkt! Praktisch über Nacht waren wir alle gezwungen, eine neue Perspektive einzunehmen, auf die ohne diesen Impuls niemand gekommen wäre. Der Grafiker hat fantastische Arbeit geleistet. Mich macht das gegen die Sehgewohnheiten gedrehte Cover, das dem Buch so sehr entspricht, ganz glücklich. Es ist tatsächlich nochmal besser als der ursprüngliche Entwurf.


Werkdaten

Alex Colville, Couple on Beach, 1957
Material: Kaseintempera auf Hartfaserplatte
Abmessungen: 73,4 x 96,4 cm
National Gallery of Canada, Ankauf 1959

Weiterführende Informationen zu Colville

http://alexcolville.ca

Wo kann man Colville im deutschsprachigen Raum sehen?

Museum Ludwig in Köln
Nationalgalerie in Berlin
Museum der modernen Kunst in Wien


Trivia

Vier Colville-Bilder spielen in Stanley Kubricks The Shining eine Rolle. Kein Zufall.

Annette Stroux und Fred Reber im Gespräch: Das Gewicht von Nähe

Fred Rebers Roman „Das Gewicht von Nähe“ erschien im Programm der „STROUX edition“. Der Verlag veröffentlicht Bücher, die um das Phänomen der Erinnerung kreisen, seien es fiktionalisierte Geschichten wie das „Gewicht von Nähe“, seien es Familienportraits wie „Findelkind“. Verlegerin Annette Stroux und Autor Fred Reber im Interview über den Verlag und den Roman.

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Chris schluckt. Damals, als sie aus dem Krankenhaus zurück in Bens Wohnung kamen und die Ereignisse sie am Schlafen hinderten, hatte er zu ihm gesagt:
„Dad, das musst du aufschreiben. Das ist ja wie ein Krimi.“
„Wo denkst du hin. Das geht nicht.“
„Wieso?“
„Weil ich der Auslöser war für die ganze Geschichte.“

Fred Reber, „Das Gewicht von Nähe“, STROUX edition

Die ganze Geschichte zwischen Ben und Nina endet drei Jahre zuvor: Am Beginn des Romans sehen wir einen Mann, der blutend an einer Bushaltestelle steht. Geflüchtet aus der Wohnung einer Frau, die ihn zunächst faszinierte und dann immer mehr durch ihr obsessives Verhalten irritiert. Fred Reber beschreibt in seinem zweiten Roman feinfühlig und mit viel Gespür für die Psychologie seiner Figuren die Entwicklung einer gestörten Beziehung.

Ben, der sich als Buchhalter durchs Leben schlägt, aber eigentlich von einem Leben als Schriftsteller träumt, lernt eines Abends in einer Hotelbar die attraktive Nina kennen. Erst später wird ihm bewusst, dass diese faszinierende Frau eine schwedische Schlagersängerin ist, für die er als Jugendlicher schwärmte. Ihr Ruhm ist jedoch schon längst verblasst, die Tage des großen Erfolgs lange schon vorbei.

Zu Beginn der Beziehung erscheint Ben alles im schönen Schein. Doch nach und nach stellt er fest, dass Nina in ihrer Vergangenheit gefangen ist. Ihre Idee, Ben solle eine Biographie über sie verfassen, wird schließlich zur Belastungsprobe, als Ben sich zurückziehen will, eskaliert die Situation. Fred Reber erzählt dies mit Gespür für die Psychologie seiner Figuren, insbesondere Nina gewinnt mehr und mehr an Kontur. Als wäre man an Bens Seite, erlebt man den einstigen Star zunächst als souveräne Frau, die im Laufe der Geschichte immer mehr Schattenseiten bis hin zu psychotischen Zügen zeigt. Das ist auch spannend zu lesen und gute Unterhaltungsliteratur mit Tiefgang.

Am Ende des Buches treffen wir Ben wieder: Er liest, drei Jahre nach den Vorkommnissen, an der Musikhochschule München aus seinem Roman, der ihm endlich den ersehnten Erfolg als Schriftsteller bescherte. Doch zu welchem Preis: Schließlich ist der Roman auch die Verarbeitung seiner dramatischen Liebesgeschichte.


Fred Rebers Roman „Das Gewicht von Nähe“ erschien im Programm der „STROUX edition“ (ein Verlagsportrait in der Süddeutschen Zeitung findet sich hier), das Bücher, die um das Phänomen der Erinnerung kreisen, beinhaltet, seien es fiktionalisierte Geschichten wie das „Gewicht von Nähe“, seien es Familienportraits wie „Findelkind“. Ich sprach mit Verlegerin Annette Stroux und Autor Fred Reber über den Verlag und den Roman.

Frau Stroux, Ihr Verlag widmet sich dem Thema “Erinnerung” – es geht also um Autobiografisches, biografisches Erzählen? Wie und wann entstand die Verlagsidee? 

Annette Stroux: Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Erinnerung“ begleitet mich schon seit der Kindheit. In meiner Familie gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen über bestimmte Erlebnisse und die völlig unterschiedliche Bereitschaft und Fähigkeit, sich daran zu erinnern. Bei den einen wurde alles ausgeschmückt und fast als eine Art Waffe gegen jedes entspannte Beisammensein benutzt, die anderen rasteten aus, sobald an ihre Erinnerungen gerührt wurde. Irgendwann merkte ich, dass Erzählen und Schreiben aus der Quelle des Autobiographischen eine besondere Qualität haben kann – und daraus entwickelte sich mein Verlagsschwerpunkt.

Es gibt ja zunehmend mehr Menschen, die ihre Lebenserinnerungen festhalten und auch veröffentlicht haben wollen. Was zeichnet die Qualität eines Manuskriptes aus, was muss eine fiktionalisierte Lebensgeschichte mitbringen, damit Sie sich für eine Veröffentlichung entscheiden? 

Annette Stroux: Das Thema muss von allgemeinem Interesse sein. Eine meiner ersten Publikationen war ein (auto-)biographischer Roman über den Algerienkrieg (La grande Bleue). Das Buch finde ich fast exemplarisch. Aber es müssen nicht unbedingt historische Ereignisse sein – auch persönliche Extremsituationen und der Umgang damit interessieren mich sehr.

Herr Reber, in “Das Gewicht von Nähe” geht es auch um das lose Projekt einer Biografie, eine Frau will die eigenen Erinnerung festhalten. Beim Lesen wurde mir deutlich, wie sehr man selbst auch dazu neigt, die eigene Vergangenheit zu verklären. War das mit ein Hintergedanke? 

Fred Reber: Vor Jahren war Nina ein großer Star. Sie hat ihre Karriere aus freien Stücken aufgegeben. Mich hat interessiert, wie sie reagiert, wenn ihr jemand wie Ben anbietet, ihre Biografie zu schreiben.Ich wollte zeigen, wie sie sich selbst wahrnimmt. Und ich fand es spannend, was es mit ihr macht, wenn ihre Wünsche und unerfüllten Sehnsüchte erneut geweckt werden.

Im Grunde weiß sie, was in ihrem Leben falsch gelaufen ist, und dass sie ihren Teil dazu beigetragen hat. Sie will es sich nur nicht eingestehen und so fängt sie an, ihr früheres Leben zu verklären.

Steckt in der Erzählung auch ein autobiografisches Element?

Fred Reber: Ich war vor Jahren mit einer Frau befreundet, deren Leben ähnlich verlief, wenn auch in einem anderen Umfeld. Das war der Ausgangspunkt für den Text, der sich dann immer mehr verselbstständigt hat.

Wie kam der Kontakt zwischen Autor und Verlag in diesem Fall zustande, was hat Sie, Frau Stroux, an dem Manuskript fasziniert? 

Annette Stroux: Mit Fred Reber kam ich über eine Lesung in Kontakt. Mich hat einerseits interessiert, dass Fred Reber schon einmal einen Roman im Selfpublishing erfolgreich veröffentlicht hatte – und dann kam die Story dazu. Am Anfang und am Ende seines Romans stehen persönliche Grenzerfahrungen – und seine Erzählweise lässt erkennen, dass ihn die Frage nach dem „Was war da eigentlich?“ nie wirklich losgelassen hat. Man sagt ja, dass das autobiographische Gedächtnis das aktuelle Selbst immer besser bewertet als das Selbst der Vergangenheit und – dass Erinnern ein kreativer Prozess ist. Auch darüber erzählt „Das Gewicht von Nähe“ sehr anschaulich.


Informationen zum Buch:

Fred Reber
Das Gewicht von Nähe
STROUX edition, 2019
Gebunden, 268 Seiten, auch als E-Book erhältlich
ISBN 978-3-948065-04-1

Gianrico Carofiglio im Gespräch: “Der Plot ist für mich fast nur ein Vorwand, um über Menschen zu schreiben.”

Ein kleiner, stiller Roman des berühmten Krimiautoren Gianrico Carofiglio: Eine Vater-Sohn-Beziehung, die sich während zweier schlafloser Tage völlig wandelt.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Der italienische Autor Gianrico Carofiglio über seinen soeben auf Deutsch erschienenen Roman Drei Uhr morgens.

Er ist einer der berühmtesten italienischen Krimiautoren, war Anti-Mafia-Staatsanwalt, Berater des italienischen Parlaments und Senator – Gianrico Carofiglio aus Bari weiß, wovon er spricht, wenn er seinen Avvocato Guerrieri oder seinen Maresciallo Fenoglio in seiner Heimatstadt ermitteln lässt. Dass Carofiglio auch außerhalb des mörderischen Milieus ein Meister der psychologischen Beobachtung ist, ist bei seinen Lesern diesseits des Brenners weniger bekannt. Nun hat der in Wien und Bozen ansässige Folio Verlag einen kleinen, stillen Roman Carofiglios auf Deutsch herausgebracht: Drei Uhr morgens erzählt von einer Vater-Sohn-Beziehung, die sich völlig wandelt, als die beiden Protagonisten 48 schlaflose Stunden miteinander verbringen müssen. Veronika Eckl traf Gianrico Carofiglio vor der Präsentation der Neuerscheinung im Münchner Literaturhaus. Der Autor trank während des Gesprächs nur Wasser, war aber vor allem eins: hellwach.

Signor Carofiglio, wir sind es gewohnt, dass Ihre Bücher uns ab der ersten Seite nach Apulien versetzen – in die Bars und Gerichtssäle von Bari, in graue Carabinieri-Kasernen, ans Meer. Warum spielt Drei Uhr morgens im französischen Marseille?

Carofiglio: Drei Uhr morgens ist der einzige meiner Romane, der auf einer wahren Begebenheit beruht. Schriftstellern passiert es oft, dass sie zum Beispiel auf einem Fest angesprochen werden: Ach, Sie sind Schriftsteller? Ich habe da etwas erlebt, darüber müssten Sie schreiben! Normalerweise taugen diese Anekdoten nicht für einen Roman, aber diese Erzählung eines Freundes hat mich sofort elektrisiert. Er berichtete mir, dass er als Jugendlicher Epileptiker war und von dem berühmten französischen Neurologen Henri Gastaut in Marseille behandelt wurde, in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Koryphäe auf dem Gebiet der Epilepsie. Für eine abschließende Untersuchung musste er sich einer Art Reizüberflutung aussetzen und durfte zwei Tage und Nächte nicht schlafen – was heute kein Arzt mehr so anordnen würde. Vater und Sohn waren also 48 schlaflose Stunden, der Sohn gepuscht von Wachmacher-Pillen, in Marseille unterwegs. Mir war sofort klar, dass die unterschwellige Energie, die in dieser besonderen Situation steckt, perfekt für einen Roman ist.

Marseille und Bari sind einander ja gar nicht so unähnlich….

Carofiglio: Nein, beide sind mediterrane Hafenstädte. Aber Marseille ist etwas ganz Besonderes. Ich habe 2010 einen Monat als Schreibstipendiat dort verbracht und war fasziniert. Man glaubt in manchen Straßenzügen in Nordafrika zu sein, sieht Hässliches, Verwahrlosung, spürt Gefahr, die in der Luft liegt – und fährt dann morgens mit dem Boot hinaus in die Calanques, durch ein türkisblaues Meer, und alles ist voller Schönheit und Licht. Dieser Kontrast zwischen Licht und Schatten macht Marseille zum idealen Ort für die Geschichte von Antonio und seinem Vater.

Gianrico Carofiglio_© Francesco Carofiglio
Gianrico Carofiglio: Bild: © Francesco Carofiglio

Der Titel des Romans spielt mit einem Zitat des amerikanischen Autors F. Scott Fitzgerald: „In der dunklen Nacht der Seele ist es immer drei Uhr morgens.“ Der fast 18 Jahre alte Antonio und sein Vater wirken beide sehr einsam. Warum?

Carofiglio: Die Dunkelheit in uns, mit der wir uns auseinandersetzen müssen und die viele meiden, ist eine Grundsituation der menschlichen Existenz. Im Roman verkehre ich das Ganze jedoch ins Gegenteil: Es kommt Licht ins Dunkel, der ernste, korrekte, etwas unnahbare Vater und sein Sohn, der in so jungen Jahren bereits durch eine Krankheit verunsichert wurde, lernen einander kennen. Der Sohn, der bis dahin der Meinung war, der Vater habe ihn und die Mutter verlassen, entdeckt, dass die Geschichte der Eltern sich anders zutrug, als er glaubte. In Marseille entfliehen die beiden ihrer Einsamkeit für zwei Tage.

Vater und Sohn flanieren durch die Stadt, um sich wach zu halten. Dabei entdecken sie die Talente des jeweils anderen und lernen, stolz aufeinander zu sein…

Carofiglio: Ja, der Vater entdeckt, dass der Sohn dasselbe mathematische Talent hat wie er selbst…

… und der Sohn ist zum ersten Mal richtig stolz auf seinen Vater, als der bei einer Jam-Session in einem Marseiller Club auf dem Klavier improvisiert. Warum ist Jazz so wichtig in dieser Geschichte?

Carofiglio: Das Wesen des Jazz ist es, dass er unvollendete Musik ist. Die Unvollendetheit, das Unperfekte interessieren mich. Ich habe beim Schreiben aber auch an meinen Vater gedacht. Er hat als alter Mann nach und nach sein Gedächtnis verloren, aber was er noch konnte, war Jazz spielen.

Man hat als Leser den Eindruck, dass sie für diesen Roman sehr viel recherchiert haben. Über Jazz, über Epilepsie, über die Figur des Arztes, den es ja wirklich gab und der auch so hieß…

Carofiglio: Ja, das habe ich tatsächlich. Der Roman handelt von Krankheit und Heilung, das kann man nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln. Ehrliches Schreiben, das den Leser ernst nimmt, ist gut informiertes Schreiben. Als ich in Italien mit dem Buch auf Lesereise war, kam es zu bewegenden Szenen. Eine junge Frau, die Epileptikerin ist, sagte mir, sie habe dank des Romans ihrer Mutter verständlich machen können, wie sie sich fühle. Eine andere erhob sich von ihrem Platz und erklärte, sie sage jetzt zum ersten Mal in der Öffentlichkeit, dass sie Epileptikerin sei – viele empfinden Epilepsie als Stigma. Ich werde jetzt sogar zu ärztlichen Fachkongressen eingeladen, weil ich die Krankheit angeblich so realistisch dargestellt habe.

Trotzdem ist es kein Buch über Krankheit.

Carofiglio: Es ist, um es mit diesem schönen deutschen Wort zu sagen, ein Bildungsroman. Antonio macht eine Entwicklung durch. Er lernt, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ohne diese zwei schlaflosen Nächte hätten Vater und Sohn einander wahrscheinlich nie richtig kennengelernt. Viele Menschen leben ja nebeneinander her, ohne sich zu kennen.

Aus der Finsternis ans Licht – im Grunde ist das doch gar nicht so weit weg von Ihren Kriminalromanen mit ihren einsamen Ermittlern, oder?

Carofiglio: Nein, denn als Schriftsteller versucht man, Ordnung ins Chaos der Welt zu bringen. Mich interessiert die Entwicklung, die Menschen durchmachen, auch im Krimi. Der Plot ist für mich fast nur ein Vorwand, um über Menschen zu schreiben.

Antonios Entwicklung geht am Ende recht schnell vonstatten. Als Vater und Sohn am Meer zwei Französinnen kennenlernen, glaubt man als Leser, der Vater werde sich jetzt in ein erotisches Abenteuer stürzen. Dann aber ist es Antonio, der bei einem Fest in einer Villa seine sexuelle Initiation erfährt. Zuvor hat sein Vater ihm noch erzählt, dass er selbst als Jugendlicher seine Unschuld bei einer Prostituierten verloren hat. Ist das nicht ein wenig dick aufgetragen? Wer erzählt seinem Sohn denn so etwas?

Carofiglio: Finden Sie? Hm, das ist natürlich schon auch der Ausnahmesituation geschuldet, in der beide sich befinden.

Kann man eigentlich wirklich 48 Stunden lang nicht schlafen?

Carofiglio: Ja, ich habe das einmal durchgezogen, als ich noch Staatsanwalt war und wir mit Hochdruck an einem Mordfall arbeiteten. Danach hat sich um mich herum alles gedreht, aber wir haben den Mörder gefasst.

Haben Sie irgendwelche Pillen eingeworfen?

Carofiglio: Nein, aber ich habe sehr viel Espresso getrunken.


Informationen zum Buch:

Gianrico Carofiglio
“Drei Uhr morgens”
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Folio Verlag, Bozen und Wien
Gebunden mit Schutzumschlag, 186 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-85256-769-3


Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Joey Goebel im Gespräch: „Die Welt bräuchte dringend mehr schüchterne Menschen“

Joey Goebel sprach für den Blog mit Veronika Eckl über schüchterne Menschen, Einsamkeit und das Leben in der Kleinstadt.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Nein, der Mann, der in seinem Anzug und mit den gepunkteten Socken in der Lobby des Hotels Bayerischer Hof in Freising sitzt, ist sich nicht zu schade für eine Lesung in einer kleinen Stadt. Ein paar Tage vorher war Joey Goebel, dessen Romane Vincent, Freaks, Heartland und Ich gegen Osborne inzwischen in 14 Sprachen übersetzt werden, in Berlin zu Gast – an diesem Abend wird er in der örtlichen Buchhandlung aus seinem soeben erschienenen Kurzgeschichtenband Irgendwann wird es gut lesen und danach mit den Gastgebern im Hinterhof grillen. Er freut sich drauf und findet es cool, „dass sich hier alle für meine Bücher interessieren.“

Joey, Sie waren gerade eine Woche lang in Deutschland unterwegs. Finden Sie, dass Kleinstädte hier und in den USA etwas gemeinsam haben, oder sind das ganz andere Welten? 

Goebel: Oh ja, ich glaube, sie haben etwas gemeinsam. Die Leute, die dort leben, denken oft, dass sie aus ihrem Kleinstadtschicksal nicht rauskommen. Sie sind überzeugt, dass das Leben anderswo stattfindet.

“Irgendwann wird es gut” beschreibt das Leben ganz unterschiedlicher Menschen in Moberly, einer fiktiven Kleinstadt, die große Ähnlichkeit zu Ihrer Heimatstadt Henderson in Kentucky aufweist. Warum haben Sie diesen Schauplatz gewählt, warum nicht eine Großstadt wie New York oder Los Angeles?

Goebel: Ganz einfach, ich habe mein ganzes Leben in einer kleinen Stadt gelebt. Und die amerikanischen Verlage produzieren ständig irgendwelche Bücher, die in den Großstädten der USA spielen. Davon gibt es wirklich genug. Ich wollte eine modernere Version von Sherwood Andersons Winesburg, Ohio schreiben, einem Klassiker der amerikanischen Literatur. Das ist ein Band von Erzählungen über die Bewohner eines kleinen Orts im Mittleren Westen um 1890.

Auch Sie erzählen von kleinen Leben, klein wie die Form der Kurzgeschichte, die Sie gewählt haben. Das Leben Ihrer Protagonisten in Moberly erscheint langweilig und einsam, ja bedrückend. „In Winstons Leben gab es keinen Platz für Hoffnung“, heißt es in der short story über einen Messie, der sein Haus nicht mehr verlässt. Ist es härter, in einer kleinen Stadt zu leben als in einer großen?

Goebel: In der Kleinstadt gibt es weniger Anregungen, weniger Zerstreuung. In meiner Stadt, Henderson, existieren wenige Orte, wo man hingehen kann. Man wird alleingelassen mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken, und das macht das Leben natürlich nicht einfacher. Man empfindet das Leiden am Alltag intensiver.

Ihre Geschichten spielen im Hotel, in einem Antikmarkt, im Secondhand-Laden der Heilsarmee. Wie wählen Sie Ihre Schauplätze aus?

Goebel: Es gibt in solchen kleinen Städten eben nicht viele aufregende Orte. Hotels liebe ich, weil sie für Möglichkeiten stehen, vielleicht auch für ein Liebesabenteuer, oder für Traurigkeit und Einsamkeit. Einen Antikmarkt haben meine Eltern gekauft, als sie in Rente gingen. Und in meiner Heimatstadt spielt der Laden der Heilsarmee tatsächlich eine Rolle, weil viele Leute arm sind. Übrigens haben wir wirklich einen eigenen Fernsehsender, so wie den, bei dem die Moderatorin Olivia arbeitet, die von gleich zwei Männern gestalkt wird. Ich interessiere mich sehr für diese Moderatoren von Lokalsendern, die nur für ein kleines Publikum interessant sind, für dieses aber umso mehr.

Sonderbarerweise denkt keiner ihrer Protagonisten darüber nach, aus Moberly zu fliehen, die Kleinstadt hinter sich zu lassen. Warum?

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Joey Goebel. Foto: Regine Mosimann/Diogenes Verlag

Goebel: Die Figuren haben den Gedanken an Flucht schon im Hinterkopf, aber dazu kommt es nicht. Zum einen haben sie alle Geldprobleme. Und dann gibt es wohl oft etwas, was sie zurückhält. So war es auch bei mir: Mein Vater wurde sehr krank, als ich elf war, und er starb, als ich 16 war. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter und meine Schwester mich brauchten. So kommt es, dass ich jetzt 38 Jahre alt und nie weggegangen bin.

Das erinnert an die Kurzgeschichte „Es wird alles schlecht werden“, in der eine Mutter und ihr erwachsener Sohn sich nach dem Unfalltod des Vaters gemeinsam in ein Schicksal ergeben, das von der Einnahme von Psychopharmaka bestimmt wird.

Goebel: Ja, diese Story ist ein totaler Magenschwinger. Da gibt es wirklich keine Hoffnung. Für mich selbst kann ich sagen: Ich wäre ohne den frühen Tod meines Vaters wahrscheinlich nicht Schriftsteller geworden.

Ihre Eltern waren Sozialarbeiter und auch Sie wirken wie ein Sozialarbeiter, wenn Sie mit einfühlsamer Sympathie, mit lakonischem Humor über ihre unglücklichen Helden schreiben. Existieren die wirklich, oder kommen sie aus Ihrem Inneren?

Goebel: Schreiben ist tatsächlich Sozialarbeit, man muss mit den Figuren sympathisieren. Ich bin übrigens der einzige in meiner Familie, der diesen Job nicht macht; auch meine Schwester ist Sozialarbeiterin. Ein paar dieser Figuren gibt es wirklich; etwa Mr. Baynham, einen älteren Herrn, der in Hollywood beim Film gearbeitet und mit James Dean befreundet war. Aber die meisten kommen aus mir, sie sind Teile meiner Persönlichkeit. Ich habe so viele Neurosen, dass ich aus jeder einzelnen eine Figur machen kann.

Gibt es einen Helden, den Sie besonders gerne mögen, dem sie eine Chance geben, später vielleicht einmal ein glückliches Leben zu führen?

Goebel: Ich mag natürlich den 16 Jahre alten Luke, diesen einsamen Teenager aus “Skanky Baby“, der für seine Punkband lebt und davon träumt, die Kleinstadt hinter sich zu lassen. Das bin ich selbst in dem Alter. Ich hatte keine Freundin, war nicht sportlich, hatte aber die Platten seltsamer Bands zuhause, die sonst niemand besaß.

Und mir liegt Carly am Herzen, die Protagonistin aus „Antikmarktmädchen“, die mit den Gleichaltrigen in der Schule nicht zurechtkommt und ältere Dinge, ältere Menschen bevorzugt, sich mit einem älteren Mann anfreundet. Sie ist meiner Schwester nachempfunden, deren Schüchternheit ich sehr schätze. Die Welt ist nicht für die Schüchternen gemacht, aber sie bräuchte dringend mehr schüchterne, ruhige Menschen, denn diese Menschen denken mehr nach als andere.

Alle ihre Protagonisten sind schrecklich einsam. Warum?

Goebel: Sie alle sehnen sich danach, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, und scheitern. Bücher über Leute, die sich kriegen und Sex haben und glücklich sind, gibt es genug. Ich wollte zeigen, wie sich der ganze Rest von uns fühlt. Dazu habe ich mir die Regel gegeben: Keinen Sex! Die intensivste körperliche Annäherung, die es im ganzen Buch gibt, ist ein Handkuss. Alle sind und bleiben einsam, bis auf Winston, den Helden der letzten Geschichte „Der Mann, der sich selbst genügte“. Er hatte sich eigentlich für immer in seinem Haus verschanzt, geht aber eines Tages doch raus auf die Straße, weil er fasziniert ist von einer Frau, die jeden Tag an seinem Fenster vorbeikommt. Er ist der einzige, der es schafft, aus sich herauszutreten. Und findet Moberly plötzlich zauberhaft.

Einsamkeit gilt inzwischen als eine der Volkskrankheiten unserer Zeit. Stimmt das?

Goebel: Ich glaube schon, dass die neuen Technologien, die sozialen Medien die Einsamkeit vergrößert haben, auch wenn man meinen könnte, das Gegenteil sei der Fall. Facebook, Twitter und Co. vermitteln den Leuten den Eindruck, dass das Leben eine große Party ist, zu der sie nie eingeladen sein werden.

In der Kurzgeschichte über die Fernsehmoderatorin Olivia, die nach einem Selbstmordversuch in einer Klinik landet, wird die Frage in den Raum geworfen: „War diese Trostlosigkeit etwa die ganze Zeit nur in einem selbst gewesen?“ Was meinen Sie, beeinflusst uns der Ort, an dem wir leben, oder beeinflussen wir den Ort, an dem wir leben?

Goebel: Genau darum geht es in dem Buch. Ich denke, das Leben ist das, was wir daraus machen. Wo auch immer du lebst, deine Einstellung ist entscheidend. Wenn du in Kentucky deprimiert bist, wirst du auch in L.A. deprimiert sein.

Und Sie bleiben Henderson, Kentucky treu?

Goebel: Wissen Sie, eigentlich würde ich gerne nach Deutschland ziehen. Haben Sie ein Gästezimmer? Hier werde ich als Schriftsteller geschätzt, in den USA nicht. Und ich bin stolz darauf, dass ich in Europa bekannter bin als in Trump-Land! Ich unterrichte ja Englisch an einer Highschool, und meinen Schülern sage ich manchmal im Spaß: ‘Hey, seid mal ruhig, wisst ihr eigentlich, dass auf der anderen Seite des Ozeans Leute dafür bezahlen, dass sie mir zuhören dürfen?’

Ich mag das deutsche Essen, das Bier, das Interesse für Literatur. Meine Eltern hatten beide deutsche Vorfahren. Mein Blut wurde wohl nie richtig amerikanisiert. Aber in Henderson lebt mein kleiner Sohn, und was würde meine Ex-Frau sagen, wenn ich fortgehen würde? Anyway, wie es so schön heißt: „The grass is always greener on the other side.“


Informationen zum Buch:

Joey Goebel
“Irgendwann wird es gut”
Diogenes Verlag 2019
22,00 Euro, Hardcover, Leinen, 320 Seiten
ISBN: 978-3-257-07059-0


Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Barbara Honigmann im Gespräch: “Er war immer fremd”

In “Georg” portraitiert Barbara Honigmann ihren Vater. Über den Journalisten und Bohemien, über das Gefühl von Heimat und die Bedeutung des Wohnortes spricht sie im Interview mit Veronika Eckl.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Siebzig Jahre alt ist die Schriftstellerin Barbara Honigmann im Februar geworden, und sie ist noch einmal eingetaucht in ihre eigene Vergangenheit und die ihrer deutsch-jüdischen Familie. Nach Ein Kapitel aus meinem Leben, in dem sie von ihrer Mutter erzählt, zeichnet sie in Georg ein Porträt ihres Vaters, des Journalisten Georg Honigmann. Der ging, von seiner Frau zum Kommunismus „verführt“ – so die Autorin mit einem Augenzwinkern -, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Londoner Exil nach Ostberlin, obwohl er doch nach eigener Aussage „über Hermann Hesse nie hinausgekommen war“. In der ihr eigenen heiteren Lakonie beschreibt Honigmann das Schicksal des nicht religiösen jüdischen Remigranten, der mit der Entscheidung für den Kommunismus wohl dem ewigen Zwischen-den-Stühlen-Sitzen ein Ende bereiten wollte.

Veronika Eckl traf Barbara Honigmann, die seit Jahrzehnten in Straßburg lebt, bei der Vorstellung von Georg im Münchner Literaturhaus und sprach mit ihr über ihre Eltern, über Fremdheit und über die Wohnungen, die in Honigmanns Werken zwar eher beiläufig beschrieben werden, aber doch eine zentrale Rolle spielen.

Ihr jüngstes Werk Georg beginnt damit, dass Ihr 60 Jahre alter Vater, grau im Gesicht, nach der Trennung von Ihrer Mutter in einem möblierten Zimmer in Berlin sitzt, wo Sie, die Teenager-Tochter, ihn besuchen. Warum haben Sie gerade diese sehr eindrückliche, berührende Szene an den Anfang gestellt?

Die Erinnerung an meinen Vater in diesem Zimmer ist für mich ein Schreckensbild, ein Alptraum, der sich mir tief eingeprägt hat. Georg war ja nun nicht mehr jung, er war ohnehin älter als die Väter meiner Freundinnen, und ihn so unbehaust zu sehen, war furchtbar.

Dieses Gefühl der Unbehaustheit zieht sich durch das ganze Buch, in dem Sie das Leben Ihres Vaters erzählen.

Ja, er war ein sehr wurzelloser Mensch, das war wohl sein Charakter. Er hat mit elf Jahren seine Mutter verloren – vielleicht ist das zu küchenpsychologisch gedacht, aber es heißt immer, dass Kinder, die einen so einschneidenden Verlust erleben, es schwer haben, je wieder einen Halt zu finden. Mein Vater war immer fremd. Wenn er eine neue Frau hatte –  er heiratete in seinem Leben vier Mal, und zwar immer dreißigjährige Frauen – zog er mit seinem Koffer bei ihr ein, in eine Wohnung, die nach einem anderen Geschmack eingerichtet war.

Und damit war er zufrieden?

Er war Bohemien. Er wollte seine Zeitung, sein Buch, seine Ruhe. Und er musste in seinem Leben an so vielen verschiedenen Orten zurechtkommen – in der Odenwaldschule in Hessen, als Auslandskorrespondent in London und im englischen Exil, interniert in Kanada, im Ostberlin der Nachkriegszeit – dass ihm Wohnungseinrichtung nun wahrlich nicht wichtig war. Bei anderen kippte das ja nach dem Erlebnis des Krieges ins Gegenteil: Meine Schulfreundinnen lebten eher in kleinbürgerlichen Wohnungen, in denen eine heile Welt aufgebaut wurde, mit dem Foto des gefallenen Opas im Goldrahmen.

Sie lebten nach der Trennung Ihrer Eltern bei Ihrer Mutter…

… ja, und sie war ganz anders: Sie liebte es, Wohnungen einzurichten und zog auch leidenschaftlich gern um. Die meiste Zeit habe ich mit ihr in einer schönen Wohnung in Karlshorst gelebt, einem Ostberliner Villenvorort mit einer Russengarnison, wo auch die Kapitulation unterzeichnet wurde. Meiner Mutter gefiel die Neue Sachlichkeit, eine Wohnung hatte in ihren Augen hell und leer zu sein. Damit wollte sie sich abgrenzen von der spießigen Wohnkultur der Nachkriegszeit mit ihren Schrankwänden voller Nippes.

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Das Portraitbild wurde freundlicherweise von Barbara Honigmann selbst zur Verfügung gestellt. Bildnachweise: honorarfrei/Babu

Prägen denn die Wohnungen der Eltern die Kinder?

Oh ja, sicherlich. Mich interessieren Wohnungen, so wie meine Mutter. Wenn ich irgendwo eingeladen bin, frage ich oft: „Kann ich mir die Wohnung ansehen?“ Wie meine Mutter mag ich es sachlich und praktisch. Bei mir stehen überall Bücher, damit ist eh schon alles voll. Dann braucht man doch nur noch einen Platz für den Schreibtisch und den Computer und ein Sofa, auf das man sich lümmeln und auf dem man ein Buch lesen kann.

Sie selbst zogen 1984 mit Ihrem Mann von Ostberlin nach Straßburg. Warum?

Es war ein Aufbruch ins Innere des Judentums. Meine Eltern waren ja nicht religiöse Juden, während ich auf der Suche war. Man hatte mir Straßburg als anregenden jüdischen Ort beschrieben, und das stimmt auch. Hier gehört die Präsenz der Juden einfach dazu, et ça se passe bien. Weil die Stadt klein ist, vermischen sich die Milieus, anders als in London oder New York. Hier leben etwa 15 000 Juden, es ist etwas geboten, auch intellektuell. Wir leben auf einer Insel der Seligen, Juden aus den banlieues von Paris oder Toulouse, die sich dort nicht mehr wohlfühlen, ziehen jetzt hierher. In Straßburg spüren wir keinen Antisemitismus.

Sie haben damals eine Wohnung in der Rue Edel bezogen, die Sie selbst als „Straße der Ankunft“ beschreiben, weil hier viele Neuankömmlinge aus den unterschiedlichsten Ländern leben. Aus diesem Mikrokosmos heraus ist „Chronik meiner Straße“ entstanden.

Ja, es hatte sich in mir viel angesammelt, Begegnungen mit den Nachbarn, Beobachtungen, Fragmente. Ich wollte so etwas schreiben wie Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse. Eine Chronik, denn das Buch beschreibt auch die vergehende Zeit. Wir leben heute noch in der Rue Edel, wo es nach wie vor viele Sozialwohnungen gibt, aber auch Studenten-WGs. Es ist, wie man in Frankreich sagt, ein populäres Viertel, aber kein Ghetto. Ich wüsste nicht, warum ich umziehen sollte.

Ist Ihnen Frankreich Heimat geworden?

Ach, das mit der Heimat, das ist so ein deutsches Ding. Ich frage mich nicht jeden Tag, wo meine Heimat ist, ich wohne jetzt hier, ich habe meine Wege. Aber im Nachhinein bewundere ich unseren Mut damals: Wir kannten in Straßburg keinen Menschen, ich musste Französisch lernen, neben all dem Jüdischen, das mir neu war – so etwas macht man nur einmal im Leben, mit Mitte 30 ging das noch.

Haben Sie nie Heimweh nach Berlin?

Nein, ich verspüre da keinerlei Nostalgie. Meine Eltern mochten Berlin überhaupt nicht, meine Mutter war Österreicherin, mein Vater stammte aus Hessen. Heute bin ich relativ oft in Berlin, weil mein Sohn mit seiner Familie dort lebt und ich die Enkelkinder besuche. In den Osten fahre ich überhaupt nicht mehr, da habe ich nichts zu tun. Und Westberlin ist mir ja völlig fremd, da kenne ich mich nicht aus. Mein Sohn lebt im Übrigen dort, weil die Mieten in Paris ihm zu hoch geworden sind. An Berlinerischem ist mir nur die Berliner Schnauze geblieben, die ich heute in der Stadt vermisse.

Das Grab Ihres Vater ist auch in Berlin…

Ja, auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee.

Besitzen Sie denn heute noch Gegenstände aus den Wohnungen Ihrer Eltern?

 Von meiner Mutter habe ich noch ganz massive, solide Bücherregale und solche, in denen man Bettzeug verstauen kann. Die sind aus Ostberlin mit nach Frankreich umgezogen, ebenso wie ein Schaukelstuhl, der in meinem Zimmer stand, als ich ein Kind war. Von meinem Vater habe ich gar nichts, nichts Materielles, er besaß ja auch nichts. Aber seine Briefe hat er mir hinterlassen, von denen ich einige in meinem Buch verwendet habe.


Mehr Information:

Georg (2019). Hanser Verlag, 18 Euro
Chronik meiner Straße (2015). dtv, 9,90 Euro, Hanser Verlag, 16,90 Euro


Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.