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Florian Illies: 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts

“1913 – Der Sommer des Jahrhunderts”: Mit leichter Hand zeichnet Florian Illies das Bild eines kunsthistorisch bedeutenden Jahres. Locker&lesbar.

Im Sommer 1913 kochte die kreative Szene hoch, vielleicht die kommende Katastrophe vorausahnend.
Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

November

„Adolf Loos sagt, dass das Ornament ein Verbrechen sei, und baut Häuser und Schneidersalons voll Klarheit. Alles ist aus zwischen Else Lasker-Schüler und Dr. Gottfried Benn – sie ist verzweifelt, woraufhin ihr Dr. Alfred Döblin, der gerade Ernst Ludwig Kirchner Modell sitzt, Morphium spritzt. Prousts „In Swanns Welt“, der erste Band von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, erscheint, den Rilke sofort liest. Kafka geht ins Kino und weint. Prada eröffnet in Mailand seine erste Boutique. Ernst Jünger, 18 Jahre alt, packt seine Sachen und geht zur Fremdenlegion nach Afrika. Das Wetter in Deutschland ist ungemütlich, aber Bertolt Brecht findet: Schnupfen kann jeder haben.“

Florian Illies, „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“


Das Jahr 2013 neigt sich bald seinem Ende zu. Und ich habe noch rechtzeitig die Kurve zu „1913“  genommen. Glücklicherweise. Denn selten hat mich ein Sachbuch (oder wie auch immer man dieses Buch einordnen mag – ein langes Essay über ein Jahr? Ein literarisches Biopic? Ein „gewaltiger Teaser“, wie Gustav Seibt es in der Süddeutschen Zeitung nannte?) … jedenfalls hat mich selten ein „Sachbuch“ so oft laut auflachen lassen.

Der Kunsthistoriker und Journalist Florian Illies lässt dieses eine, dieses besondere Jahr Revue passieren – ein Jahr schwankend zwischen Hypernervosität und Lethargie. Ein wenig erinnert dies an die Jahresrückblicke, mit denen die Nation jeweils in den ersten Januartagen von sämtlichen Fernsehsendern beglück wird. ALLERDINGS: Weitaus klüger und amüsanter verfasst.

Voyeuristischer Reiz

Monat für Monat rollt Illies das auf, was vor 100 Jahren vor allem die Intellektuellen, die Künstler und die Bohème umtrieb: Ein Reigen (ja, Schnitzler kommt auch vor), gegen den das öffentliche Beziehungstreiben unserer Stars und Sternchen heute geradezu verblasst. Das Buch spricht durchaus auch etwas Voyeuristisches im Leser an – wer mit wem und warum nicht mehr, das liest sich unterhaltsam und streckenweise auch verwirrend, weil, vor allem wenn Rilke ins Spiel kommt, eigentlich alle mit allen…

Es griffe natürlich zu kurz, würde man die knapp 320 Seiten nun als eine Art feuilletonistischen Tratsches interpretieren – andererseits ist „1913“ aber auch keine geschichtswissenschaftliche Analyse. Kluge Unterhaltung bietet es – und das gut gemacht. Warum 1913? Alles scheint da auf dem Siedepunk in der Kultur: Brücke, Blauer Reiter, Secession, Expressionismus, Kubismus – das Neue löst das Alte ab, die Richtungen konkurrieren. Marcel Duchamp hat die Nase voll vom Malen und erfindet nebenbei das erste Ready Made. Auch in der Literatur werden die Väter abgemurkst, die Romantik begraben. Freud wird von Jung geschnitten, nicht das einzige Trauma und Beziehungsdrama, das in diesem Jahr über die Bühne geht. Die „Alten“ (Schnitzler, Hofmannsthal) und Mittelalten (Kraus, T. Mann) hadern mit privaten Angelegenheiten oder sind irgendwie beleidigt und geplagt von Zipperlein und Allüren, die Jungen (Brecht, Jünger, Tucholsky) scharren mit den Füßen.

Hektische Hypernervosität

Alles spitzt sich in der Kunst in hektischer Hypernervosität zusammen, als ob in komprimiertester Zeit  das Rad neu erfunden werden müsste. Wie es Duchamp dann ja auch tut. Demgegenüber erstarren Machthaber und Politiker in seltsamer Lethargie, selbst angesichts der Unruhen auf dem Balkan. Kaiser Wilhelm schießt zunächst lieber täglich auf Tausende von Fasanen, kann aber nur einen abends speisen. Eines dieser kleinen, feinen Beispiele für die Dekadenz einer untergehenden Klasse, die Illies bringt. Er muss nicht mit dickem Pinsel streichen – feine Striche genügen ihm, um das Bild dieses Jahres zu zeichnen.

Ein Meisterstück, forderte die Mahler, und sie würde ganz die Seine. Oskar Kokoschka malte die Windsbraut und bekam die Alma trotzdem nicht. Das war 1913.

Das ist die Stärke dieses Buches: Die ungeheure Menge an Daten & Fakten ist so fein ausgesucht, gesponnen und verknüpft, dass sich allein aus dem geschickten Mosaik das Bild einer untergehenden Gesellschaft herausschält. Und doch ist alles so lebendig erzählt, dass man beim Lesen das eigene Wissen davon, dass es ja ein böses Ende nehmen wird, zunächst hintanstellt. Man begibt sich mitten hinein in diesen Tanz auf den Vulkan – man weiß zwar inzwischen, dass der Kokoschka seine Windsbraut für die Mahler vergeblich malte, aber währenddessen hat der vor Eifersucht Wahnsinnige unser ganzes Mitgefühl. Zwei ausgesprochene „Lieblinge“ begleitet Illies mit feiner Ironie über das ganze Jahr hinweg: Den ewig zaudernden Kafka beim Versuch eines Heiratsantrages sowie den ewig kränkelnden Rilke, der dennoch Briefe schreibend eine Anzahl von Frauen, mit denen er locker eine Fußballnationalmannschaft stellen könnte, vorzugsweise platonisch, aber auch leibhaftig lenkt.

Die Katastrophe des Weltkriegs vor der Tür

Die heran dräuende Katastrophe wird in diesem Treiben bewusst kaum wahrgenommen. Wie geisterhafte Schatten huschen jedoch schon die Vorboten der zweiten, noch grausameren Katastrophen durch die Seiten – der Postkartenmaler Hitler und Stalin auf der Flucht in Frauenkleidern. Doch noch herrscht auf der Achse Wien-Berlin-Paris das Leben.

In manchen Feuilletons wurden Bezüge dieses Panoramas zum Jahr 2013 gestellt, Parallelen gezogen, Botschaften und Ermahnungen destilliert. Ich meine, damit wäre dieses Buch überfrachtet und überinterpretiert. Es zeigt das Bild eines besonderen Jahres – klug geschrieben, unterhaltsam zu lesen, fein gemacht. Das allein ist auch einmal ausreichend.


Bibliographische Angaben:

Florian Illies
1913 – Der Sommer des Jahrhunderts
S. Fischer Verlage, 2012
ISBN: 978-3-10-036801-0

Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz

Mit „Berlin Alexanderplatz“ (1929) von Alfred Döblin zieht der Expressionismus im epischen Erzählen ein. Ein Wendepunkt des deutschen Romans.

Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin ist der deutsche Großstadtroman.
Bild von Thomas Wolter auf Pixabay

Von Osten her, Weißensee, Lichtenberg, Friedrichshain, Frankfurter Allee, türmen die gelben Elektrischen auf den Platz durch die Landsberger Straße. Die 65 kommt vom Zentralviehhof, der Große Ring Weddingplatz, Luisenplatz, die 76 Hundekehle über Hubertusallee. An der Ecke Landsberger Straße haben sie Friedrich Hahn, ehemals Kaufhaus, ausverkauft, leergemacht und werden es zu den Vätern versammeln. Da halten die Elektrischen und der Autobus 19 Turmstraße. Wo Jürgens war, das Papiergeschäft, haben sie das Haus abgerissen und dafür einen Bauzaun hingesetzt. Da sitzt ein alter Mann mit einer Papierwaage: Kontrollieren Sie Ihr Gewicht, 5 Pfennig. O liebe Brüder und Schwestern, die ihr über den Alex wimmelt, gönnt euch diesen Augenblick, seht durch die Lücke neben der Arztwaage auf diesen Schuttplatz, wo einmal Jürgens florierte, und da steht noch das Kaufhaus Hahn, leergemacht, ausgeräumt und ausgeweidet, dass nur die roten Fetzen noch an den Schaufenstern kleben. Ein Müllhaufen liegt vor uns. Von Erde bist Du gekommen, zu Erde sollst Du wieder werden, wir haben gebauet ein herrliches Haus, nun geht hier kein Mensch weder rein noch raus. Ninive, Hannibal, Cäsar, alles kaputt, oh, denkt daran. Erstens habe ich dazu zu bemerken, dass man diese Städte jetzt wieder ausgräbt, wie die Abbildungen in der letzten Sonntagsausgabe zeigen, und zweitens haben diese Städte ihren Zweck erfüllt, und man kann nun immer wieder neue Städte bauen. Du jammerst doch nicht über deine alten Hosen, wenn sie morsch und kaputt sind, du kaufst neue, davon lebt die Welt.“

Alfred Döblin, “Berlin Alexanderplatz”, 1929

Atemlos und dabei sprachmächtig, Bilder, Szenen, Eindrücke, die im Cinemascope-Format vorüberrauschen, Gesprächsfetzen, die man im Vorübergehen aufschnappt, Gedanken, die in den Kopf schießen – das ist der Wort- und Bewußtseinsstrom, mit dem Alfred Döblin (1878-1957) den deutschen Roman revolutionierte.

Auch vor Alfred Döblin gab es ein Berlin in der Literatur. Da meist als Fassade, Studiohintergrund, Potemkinsches Dorf, Schauplatz, Verortungspunkt. Aber in „Berlin Alexanderplatz“ ist die Großstadt mehr als das – sie ist nicht nur der Ort, sie ist die Hauptfigur, die Handelnde, der lebendige, aktive und agierende Mittelpunkt, der städtische Mahlstrom, um den das Romangeschehen kreist.

Ein Meilenstein der literarischen Moderne

„Berlin Alexanderplatz“, 1929 erschienen, markiert einen Einschnitt in der deutschen Literatur. Expressionismus und literarische Moderne: Sie hatten nun endlich auch im epischen Erzählen ihren Platz gefunden. Abrupte Brüche im Satzbau, stakkatoartiger Rhythmus, ständige Wechsel der Erzählperspektiven, aber vor allem die Technik der Montage – Zeitungsschlagzeilen, Statistiken, Fahrpläne in den Text gestreut – dies alles macht „Berlin Alexanderplatz“ auch heute noch zu einem Leseabenteuer. Oder auch Leseungeheuer, je nach Perspektive.

Spürbar ist in Döblins Roman der Einfluss des Films, der sich als Kunstform langsam etablierte.

„In den Rayon der Literatur ist das Kino eingedrungen, die Zeitungen sind groß geworden, sind das wichtigste, verbreitetste Schrifterzeugnis, sind das tägliche Brot aller Menschen. Zum Erlebnisbild der heutigen Menschen gehören ferner die Straßen, die sekündlich wechselnden Szenen auf der Straße, die Firmenschilder, der Wagenverkehr. Das Heroische, überhaupt die Wichtigkeit des Isolierten und der Einzelpersonen ist stark zurückgetreten, überschattet von den Faktoren des Staates, der Parteien, der ökonomischen Gebilde. Manches davon war schon früher, aber jetzt ist wirklich ein Mann nicht größer als die Welle, die ihn trägt. In das Bild von heute gehört die Zusammenhanglosigkeit seines Tuns, des Daseins überhaupt, das Flatternde; Rastlose. Der Fabuliersinn und seine Konstruktionen wirken hier naiv. Dies ist der Kernpunkt der Krisis des heutigen Romans. Die Mentalität der Autoren hat sich noch nicht an die Zeit angeschlossen.

Der Schriftsteller nimmt mehrfach Bezug, auch in einer Besprechung zu James Joyces „Ulysees“ im Jahr 1928 („Ulysees“, 1922 und „Manhattan Transfer“, John Dos Passos, 1925 – die beiden weiteren literarischen Großstadtmonumente, die mit „Berlin Alexanderplatz“ genannt werden müssen):

„Damit und soweit ist das Buch charakterisiert im Kern als ein biologisches, wissenschaftliches und exaktes. Der Mensch von heute ist kenntnisreich, wissenschaftlich, exakt; darum gibt der heutige Autor ein Buch, das sich neben die Wissenschaft setzt. Es unterscheidet sich nur dadurch von dem wissenschaftlichen, daß es ja ohne tatsächliches Subjekt ist. Immerhin, der Bloom und seine Frau sind typische Gestalten wie ein Pferd, eine Tanne, und darum ist auch ihre Beschreibung von exaktem Wert. Darum verläuft der ganze Vorgang real, selbst indem er nur »als ob« verläuft. In den sichersten Partien hat dieses literarische Werk völlig wissenschaftliche Haltung. Und dies nicht als Maske.“

Eine der kenntnisreichsten Besprechungen zu „Berlin Alexanderplatz“ erschien schon kurz nach der Veröffentlichung des Romans – 1930 durch Walter Benjamin. Besser kann dieses literarische Experiment kaum beschrieben werden:
http://www.textlog.de/benjamin-kritik-krisis-romans-doeblins-berlin-alexanderplatz.html

Auf den Spuren von Franz Biberkopf

Zweifelhaft und kryptisch ist für mich allein das Ende des Romans. Franz Biberkopf, der einarmige Bandit mit dem goldenen Herzen, der Überangepasste, der Naive, der sich Mitziehen lässt, als skeptischer, aber dennoch sozial integrierter kleiner Angestellter, der beobachtet, wie draußen marschiert wird, die Trommeln schlagen – „weiter ist hier von seinem Leben nichts zu berichten“, schreibt Döblin einen Absatz zuvor. Aber man ahnt es schon: Götterdämmerung über Babylon Berlin, es wird für den Biberkopf wieder kein gutes Ende nehmen.

Heute ist der Alexanderplatz längst schon mehrfach von der Geschichte überrollt, plattgemacht, auf Touristengaudi hochgebürstet, wieder ab- und hochgekommen. Es ist ein anderes Berlin als 1929. Aber immer noch ein Moloch, ein anderer Hexenkessel. 2012 wurde Jonny K. am Alex totgeschlagen. Mag der Alexanderplatz sich verändern. Der Mensch bleibt Mensch, im Guten wie im Schlechten.

Drehen wir noch eine Runde – ein letzter Streifzug um den Alex mit Günter Lamprecht, der den Franz Biberkopf in der Filmserie von Rainer Werner Fassbinder verkörperte:
http://www.deutschlandfunkkultur.de/berlin-alexanderplatz.1076.de.html?dram:article_id=175820

Udo Bayer: Carl Laemmle und die Universal – eine transatlantische Biografie

Eine Biographie über jüdischen Schwaben Carl Laemmle, der in den USA zum Filmmogul aufstieg und Hollywood gründete.

Carl Laemmle gilt als der Gründer von Hollywood. Udo Bayerl hat ihm die erste Biographie gewidmet.
Bild von David Mark auf Pixabay

„Im Gesamtzusammenhang der rekonstruierbaren Fakten lassen sich Laemmles Auswanderungsmotive mit großer Wahrscheinlichkeit so rekonstruieren, dass er einerseits die nur bescheidenen beruflichen Aussichten mit den vermuteten Chancen in Amerika vergleicht, das zudem der Familie nicht ganz fremd ist und zusätzlich noch die Verlockungen einer den Jugendlichen faszinierenden Welt des Abenteuerlichen verspricht. So betrachtet fällt er auch aus der Typisierung heraus, die Hertzberg für die jüdischen Einwanderer Amerikas gibt. „Eine unglückliche europäische Vergangenheit“ Laemmles gibt es nicht, denn hiergegen spricht schon seine spätere Anhänglichkeit an seine Geburtsstadt.“

Dr. Udo Bayer, Carl Laemmle und die Universal – eine transatlantische Biografie

Von dem hier die Rede ist, ist Carl Laemmle, 1867 in der oberschwäbischen Kleinstadt Laupheim geboren – einer, der sich im Alter von 17 Jahren aufmacht, um in Amerika sein Glück zu machen, und wenige Jahre später mit anderen gemeinsam den Grundstein zur „Traumfabrik“ legt: Carl Laemmle, der 1912 die Universal Pictures gründete, 1915 mit der Universal City in Los Angeles das seinerzeit größte Filmstudio der Welt eröffnete – und damit als “Erfinder Hollywoods” galt.

Laemmles Geschichte ist jedoch weit mehr als die einer besonders erfolgreichen Auswanderung. Seine Biographie ist auch ein wesentlicher Teil der Geschichte des Judentums in Baden-Württemberg und Bayern – von der Ansiedlung in den schwäbischen Gemeinden, in denen die jüdischen Familien mit beschränkten Rechten als „Fremdkörper“ ihre Existenz aufbauten (noch heute gibt es in Laemmles Geburtsstadt beim Standort der ehemaligen Synagoge einen „Judenberg“) über die langsame Assimilation, Integration und Emanzipation, bedingt vor allem durch den wirtschaftlichen Erfolg der jüdischen Gemeinden, über die Auswandungsbewegung ab den 1860er Jahren bis hin zum Holocaust.

Auch Laemmle war aus der wirtschaftlichen Not heraus gezwungen, auszuwandern. Aber obwohl er in den USA eine unvergleichliche Karriere hinlegte, blieb er seinem Geburtsort sein Leben lang verbunden. Er besuchte ihm mehrfach und trat finanziell als Mäzen auf: So stiftete er das Volksbad, gründete eine Armenstiftung und half durch zahlreiche Spenden.

Unerwünscht in der Heimat

Bis er zur unerwünschten Person wurde. Den Verunglimpfungen durch die Nationalsozialisten, auch an seinem Heimatort, wo ihm die 1919 anerkannte Ehrenbürgerschaft flugs wieder abgesprochen worden war, begegnete Laemmle auf seine Weise: Er verhalf mehr als 300 Juden mit so genannten Affidavits zur Flucht aus Deutschland während des NS-Regimes. Ein Zeichen setzte er auch in seiner Arbeit: So produzierte er nicht nur Unterhaltungsfilme und Kassenschlager wie „Das Phantom der Oper“ oder den „Glöckner von Notre-Dame“, sondern (bzw. sein Sohn Julius) auch „Im Westen nichts Neues“ nach dem Roman von Erich Maria Remarque. Buch und Film – beides die Anti-Kriegsklassiker per se – wurden im Deutschen Reich verboten.

Lange wurde die Geschichte Laemmles auch in seiner Heimatstadt verschwiegen, bis sich engagierte Bürgerinnen und Bürger der Aufarbeitung des Schicksals der jüdischen Gemeinde, die im württembergischen Laupheim zeitweise eine der größten Gemeinden des Königreichs war, widmeten. Die Gemeinde ging auf einige jüdische Familien aus Illereichen und Buchau zurück, die 1724 durch Reichsfreiherr Anton v. Welden als Schutzjuden in Laupheim „zur Belebung des Laupheimer Markts” angesiedelt wurden.

Udo Bayerl erforschte die Geschichte Laemmles

Auch der Gymnasiallehrer Dr. Udo Bayer widmete sich jahrelang bis zu seinem frühen Tod der Erforschung dieses Aspekts der Lokalgeschichte. Ab 1988 recherchierte er insbesondere zum Leben Carl Laemmles – akribisch und mit hohem Aufwand.  Bayer zeichnete in seiner eingangs zitierten Biographie Aufstieg und Niedergang nach – die Universal Pictures kommen in finanzielle Schwierigkeiten just zu jener Zeit, als Laemmle in der alten Heimat mehr und mehr zur persona non grata wird, als „Filmjude“ gebrandmarkt. Durch die Weltwirtschaftskrise ins Strudeln geraten, muss Laemmle 1936 sein Unternehmen verkaufen. 1939 stirbt er an einem Herzinfarkt in seiner Villa in Beverly Hills – hochgeachtet als Filmpionier und “Erfinder” Hollywoods. Über 2500 Menschen, darunter zahlreiche Regisseure, Stars und Sternchen, geben ihm das letzte Geleit.

Anders dagegen in der alten Heimat, für die er soviel tat:
Der Name Carl Laemmle war aus dem Stadtbewußtsein gelöscht worden: Auch die  erst 1927 so getaufte Carl-Laemmle-Straße wurde 1933 wieder umbenannt – nichts durfte an den früheren Gönner und Wohltäter der Stadt erinnern. Noch in den 90er-Jahren löste der Vorschlag, das örtliche Gymnasium nach dem berühmtesten Sohn der Stadt zu nennen, Debatten aus. Lange hat die Aufarbeitung gedauert, doch sie kam: Heute gibt es in Laupheim ein Museum zur Geschichte von Christen und Juden (ein Zweig des Haus der Geschichte Baden-Württembergs), eine Abteilung ist Carl Laemmle gewidmet: http://museum-laupheim.de/

Unweit davon erinnert ein Gedenkstein an die in der Reichskristallnacht zerstörte Synagoge. Erhalten dagegen und vor allem durch privates Engagement gepflegt ist der Jüdische Friedhof mit seinen über 1200 Grabstellen. An den Grabstätten zeigt sich die enge Verflechtung der jüdischen Familien in Laupheim auch zu den anderen schwäbischen Gemeinden – so sind hier auch Gräber von Verwandten des gebürtigen Ulmers Albert Einstein zu finden. Einstein und Laemmle – zwei Schwaben in Amerika: https://www.youtube.com/watch?v=F9C_1uaaioM

Die Geschichte dreier Grabsteine

Eine der vielen tragischen Geschichten dieser Zeit erzählen auf diesem Friedhof drei Grabsteine, die durch ihre Nähe zueinander auffallen. Es ist die Geschichte der Schwestern Sally, Jette und Therese Kirschbaum. Die hochbetagten Schwestern, die ohne weitere Verwandte in Laupheim verblieben waren, waren nach der Machtübernahme durch die Nazis unter den letzten Überlebenden der einstmals blühenden jüdischen Gemeinde.

Beim Steinheim Institut findet man nur folgende Auskunft: „Die drei betagten Schwestern, Betreiberinnen einer kleinen Gemischtwarenhandlung, wählten an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Freitod, nachdem sie ihres Heimes verwiesen und in Baracken zwangsumgesiedelt wurden. Sie sind unter den Laupheimer Opfern der Nationalsozialisten verzeichnet.“

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 flohen 126 von 235 jüdischen Einwohner ins Ausland, die meisten von ihnen nach der sogenannten Reichspogromnacht im November 1938. In dieser Nacht wurde auch die Laupheimer Synagoge in Brand gesteckt. Im folgenden Jahr wurden die noch verbliebenen jüdischen Bürger innerhalb von Laupheim in das Barackenlager Wendelinsgrube zwangsumgesiedelt und in den Jahren 1941 und 1942 schließlich in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nach dem letzten von vier Transporten am 19. August 1942 hörte die jüdische Gemeinde in Laupheim auf zu existieren.

Informationen zum Buch:

Udo Bayer
Carl Laemmle und die Universal
Verlag Königshausen & Neumann, 2013
ISBN: 978-3-8260-5120-3

Charles Portis: True Grit

„True Grit“ von Charles Portis (1968), mehrfach verfilmt, hat ein Mädchen zur Hauptfigur – das ist der neue Westernroman. Stark & unkonventionell.

Die mutige Mattie steigt tapfer in den Sattel, um das Unrecht ihres Vaters zu rächen. Eine ungewöhnliche Hauptfigur im Western "True Grit" von Charles Portis.
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„Heutzutage glaubt kein Mensch mehr, dass ein vierzehnjähriges Mädchen mitten im Winter sein Elternhaus verlassen könnte, um den Mord an seinem Vater zu rächen; aber damals erschien einem das nicht so seltsam – wenn ich auch sagen muss, dass es sicher nicht alle Tage vorkommt.“

Charles Portis, „True Grit“


Jeder Mann, der einen Liebesroman geschrieben hat, muss anschließend etwas Ordentliches tun, meint Alex Capus. Nämlich einen Western schreiben.

Ab und an muss man dann auch als Leser(in) etwas Ordentliches tun. Nämlich einen Western lesen. Als Kind habe ich – wie viele Kinder auch – diese Geschichten geliebt. In eine chaotische Welt brachten sie Gesetz und Ordnung. Wichtiger aber war vor allem: Man wusste einfach, wo man dran war, mit den Menschen. Ein Mann, ein Wort, ein Colt, ein Tomahawk. Der Wunsch nach Eindeutigkeit verliert sich mit den Jahren. Helden stürzen von ihrem Sockel. Die Bedürfnisse sind nicht mehr naiv, von Geschichten wird nicht mehr die Erfüllung dieser Bedürfnisse erwartet.

Mit Ecken und Kanten

Doch, siehe da: Auch der Western ist erwachsen geworden. Aufgefallen ist mir dies zunächst über das Kino – Lone Ranger, Django Unchained, The Good, The Bad, The Weird, Die Ermordung des Jesse James: Man spricht von einer Wildwest-Renaissance. Mit den stereotypen Klischees wird nebenbei gründlich aufgeräumt – der tapfere Held, der edle Wilde, der zynische Kopfgeldjäger, deren Zeiten sind vorbei. Helden haben Ecken und Kanten. Oder sind 14 Jahre alt und ein Mädchen.

Der Roman „True Grit“, veröffentlicht 1968, bereits 1969 unter dem Titel „Die mutige Mattie“ in deutscher Übersetzung erschienen, erzählt die Geschichte dieses Mädchen, das mit einem versoffenen Marshall und einem trottelig erscheinenden Texas-Ranger auszieht, den Mörder seines Vaters zu finden. Niemand ist in diesem Roman so, wie er nach gängigen Konventionen sein sollte, und auch die „Gerechtigkeit“ ist nicht mehr das, was sie einmal war: Mattie erreicht ihr Ziel, verliert dabei jedoch einen Arm und jede Menge Illusionen. Nur glaubensfest, das bleibt die redegewandte, altkluge, manchmal äußerst nervige Göre bis ins hohe Alter.

Verfilmung durch die Coen-Brüder

Mattie hat echten Schneid (true grit). Die trockene, lakonische Ausdrucksweise, schwarzer Humor und herrliche Dialoge – ein Lesegenuss für einen literarischen nachmittäglichen Rachefeldzug. Bereits 1969 wurde das Buch, das zunächst in der Saturday Evening Post erschien, mit John Wayne verfilmt. Für seine Rolle als „The Marshall“ erhielt er dann endlich den ersehnten Oscar. Zur Abrundung der Lektüre ist jedoch die 2010-er Verfilmung der Coen-Brüder eher zu empfehlen. Jeff Bridges einmal mehr in einem Coen-Film – den verlotterten Marshall gibt er ebenso lässig-verspult wie seinerzeit den großen Lebowski. Für die Coens war dies erst die zweite Literaturverfilmung nach „No country for old men“, der 2007 ins Kino kam. Auch dieser Film eine hervorragende Adaption des Romans von Cormac McCarthy – auch ein Autor, der den neuen, den anderen wilden Western schreibt.

Star des Buchs, Star des Films ist jedoch die redselige, halsstarrige Mattie, Sturkopf bis zur letzten Seite, Jahre später nach dem Geschehen:

„Ich hätte mich nicht sonderlich anstrengen müssen, um mich zu verheiraten. Es geht aber keinen Menschen etwas an, ob ich geheiratet habe oder nicht. Ich kümmere mich nicht um das Gerede. Wenn ich wollte, könnte ich einen alten Pavian heiraten – und ihn zum Kassierer machen! Ich hatte ganz einfach nie Zeit für solche Spielereien. Eine Frau, die Grips im Kopf hat und kein Blatt vor den Mund nimmt, ist da vielleicht ein bisschen im Nachteil; besonders wenn sie einen Ärmel hochgesteckt trägt und eine kranke Mutter zu versorgen hat.“

Klaus Wagenbach: Die Freiheit des Verlegers

„Die Freiheit des Verlegers“ : Ein Konvolut von autobiographischen Texten von Klaus Wagenbach, Verleger, Schriftsteller und politischer Kopf. Wagenbach Verlag

Klaus Wagenbach fing das Verlegen an, als Manuskripte noch auf der Schreibmaschine entstanden.
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„Wer handelt, macht Fehler; der Bürostuhl wird es nie begreifen.“

Klaus Wagenbach, “Die Freiheit des Verlegers”


Unabhängige Büchermacher müssen wohl Überzeugungstäter sein. Vor allem  dann, wenn sie gegen den Strich bürsten, dem Mainstream aus dem Weg gehen, wenn ihr Programm dem Zeitgeist und politischer Opportunität entgegensteht. Hierzulande steht dafür Klaus Wagenbach. Als ich mit dem bewussten Lesen begann, also über die Buchclub-Auswahl im Schrank der Eltern und der Jugendbuchecke der städtischen Bücherei herausgewachsen war, wanderten mir die ersten Quarthefte zu. Diese schwarzen dünnen Bände wecken heute noch Unmengen an Erinnerungen. Und sie waren der Einstieg in die Auseinandersetzung mit Lyrik – das erste Quartheft, das ich bekam, waren Gedichte von Erich Fried. Heute noch, 30 Jahre später, kann ich mich SCHWARZ darüber ärgern, dass ich es in einem Anfall juveniler Schwärmerei einem Angebeteten verehrt habe. Der hat es nicht verdient – so tief sitzen literarische Verluste.

Markenzeichen: Quarthefte und Salto-Bücher

Inzwischen reihen sich an die schwarzen Quarthefte die roten Salto-Bücher – Wagenbach ist optisch kenntlich, inhaltlich ebenso. Der Verlag gestaltet ein Programm, das auch eine bestimmte Haltung zur Welt, zur Politik, zur Gesellschaft umreißt. Was diese Haltung ausmacht, woher sie kommt, welche Wurzeln sie hat – dazu gibt es einen Schlüssel. In Buchform selbstverständlich: 2010 erschien zum 80. Geburtstag des Verlegers ein schöner Sammelband in bibliophiler Aufmachung – kenntlich am Rot der SALTO-Bücher, aber weitaus großformatiger. Die „Erinnerungen, Festreden, Seitenhiebe“ – alle aus der Feder des bekennenden Linken, Träger roter Socken und Begründer der Toskana-Fraktion (letzteres sei ihm verziehen, trotz all der Konsequenzen: unter anderem der unendlichen Reihe von Ausstellungen mit Pinienbildern und Selbstgetöpfertem in Schulsälen und Behörden) – sind nicht nur Autobiographie, sondern schreiben auch die Geschichte einer Demokratie und deren Schwierigkeiten im Umgang mit Andersdenkenden und Andershandelnden.

Verleger mit Vorstrafen

Wagenbach ist der deutsche Verleger, der von sich behaupten kann, der Vertreter seines Standes mit den meisten Vorstrafen zu sein, der aus politischen Gründen vor Gericht stand und der von Otto Schily, in dieser Zeit als RAF-Anwalt bekannt, vertreten wurde. Er zeigt mit diesem Buch auch, wer er ist und warum er die Bücher gemacht hat, die er macht. „Die Freiheit des Verlegers“ ist ein Konvolut an autobiographischen Texten über Familie und Herkunft (an denen deutlich wird, dass Wagenbach auch ein sehr guter Schriftsteller ist), an festgehaltenen Erinnerung zum Einstieg in das Verlagswesen, an Aufsätzen, Interviews, Essays und Reden. Die Texte spiegeln die „deutschen Verhältnisse“ und die „Intimsphäre der Bundesrepublik“, als sie noch jung und ungefestigt und die Verhältnisse demzufolge auch ungestüm waren, wieder.

„Die Folgen von Büchern sind schwer abschätzbar. Wenn wir hier einmal die Folgen der Verbreitung der Bibel erörtern würden – was kämen denn da alles für Folgen heraus?“

Diese Frage stellt Wagenbach 1971 in einem Interview in der ZDF-Sendung „Aspekte“.
Und weiter:

„Das andere ist: Man kann sich als Verleger keine Zensur einbauen, schon gar keine, die sich nach den momentanen Vorstellungen einer Gesellschaft richtet. Nehmen wir ein Beispiel, das auch alle Zuschauer kennen: die Titelbilder der Illustrierten stern. Wenn die schönen Nackten, die heute die Titelseiten des stern zieren, an derselben Stelle vor zehn  Jahren erschienen wären, wäre der stern damals beschlagnahmt worden. Das Gesetz hat sich in dieser Zeit nicht geändert, was sich geändert hat, das ist die Auslegung.“

Auch unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Erinnerungen Wagenbachs mit großem Interesse lesen – um zu prüfen, inwieweit von dort bis zum heutigen Stand der Dinge Weiterentwicklung oder Rückschritt geschehen ist.

Die wilden Jahre

Die Texte aus fünf Jahrzehnten zeugen von den „wilden Jahren“ eines linken Verlages. Sie geben einen spannenden Rückblick auf die Umbruchjahre der jungen Republik und deren politische Verhältnisse. Nicht alles mag den Nachgeborenen noch verständlich sein, von manchem distanzierte sich Wagenbach selbst in späteren Jahren oder veränderte seinen Blick darauf – so beispielsweise auch von Inhalten der Grabrede auf Ulrike Meinhof, die dennoch abgedruckt ist in diesem Buch. Zugleich klingt aus diesen Essays nach wie vor die Aufbruchstimmung dieser jungen Generation, der Wille zur Veränderung heraus, der Kampf gegen die Restauration von mentalen Verhältnissen, die Deutschland bereits mehrfach mit in den Abgrund geführt hatten. Wenn die Republik und Politik heute bunter sind als in den grauen 60er Jahren – dann haben auch die schwarzen und roten Wagenbach-Bücher daran ihren Anteil.

Der Hausverlag von Erich Fried

Ein großer Bereich des Bandes dreht sich selbstverständlich jedoch vor allem um die Liebe zum Büchermachen, die Liebe zum Buch an sich, um Autoren und Verleger. Die Texte sind ein Streifzug durch das literarische Leben, teils von amüsanter Bissigkeit, teils mit großer Wärme und Liebe zu „seinen“ Autoren geschrieben – erinnert wird an ganz Große wie Stephan Hermlin, Johannes Bobrowski, Paul Celan, Ingeborg Bachmann und vor allem an Erich Fried, dessen Hausverlag Wagenbach war.

„Frei und listig“ muss ein Verleger sein, meint Wagenbach. Das ist er: Frei, listig und lustig.
Zum Weiterlesen sei ein Blick auf die Internetseite des Verlags empfohlen – vorangestellt ist der Verlagsgeschichte dieses Zitat von Kurt Wolff:

»Man verlegt entweder Bücher, von denen man meint, die Leute sollen sie lesen, oder Bücher, von denen man meint, die Leute wollen sie lesen. Verleger der zweiten Kategorie, das heißt Verleger, die dem Publikumgeschmack dienerisch nachlaufen, zählen für uns nicht – nicht wahr?«

Warum so verlegen?

“Der Verlag ist unabhängig und macht davon Gebrauch, seine Meinungen vertritt er auf eigene Kosten. Er ist nicht groß, aber erkennbar. Seine Arbeit dient nicht dem Profit, sondern folgt inhaltlichen Absichten:

Wir veröffentlichen Bücher aus Überzeugung und Vergnügen, mit Sorgfalt und Ernsthaftigkeit. Wir wollen unbekannte Autoren entdecken, an Klassiker der Moderne erinnern und unabhängigen Köpfen Raum für neue Gedanken geben. Es erscheinen Literatur, Geschichte, Kunst- und Kulturgeschichte, Politik aus den uns geläufigen Sprachen: Italienisch, Spanisch, Englisch, Französisch und natürlich Deutsch. Und unsere Bücher sollen schön sein, aus Zuneigung zum Leser und zum Autor und als Zeichen gegen die Wegwerfmentalität.”


Susanne Schüssler (Hrsg.), Klaus Wagenbach
Die Freiheit des Verlegers
Erinnerungen, Festreden, Seitenhiebe
Verlag Klaus Wagenbach, 2010
Sachbuch, 352 Seiten. Gebunden mit Schildchen
ISBN 978-3-8031-3632-9