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Alice Grünfelder: Jahrhundertsommer

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman. Alice Grünfelder schreibt über eine Familie auf der Schwäbischen Alb, die sich gegen Armut, soziale Ächtung und das Schicksal an sich stemmt.

„Und so schön war es den ganzen Sommer über und auch im Herbst, als auf der Schwäbischen Alb die Wälder in gelbem und feuerrotem Licht schwammen.“

Alice Grünfelder, „Jahrhundertsommer“


Es währt nicht lang, das kleine Glück von Magda: Nur einen heißen Jahrhundertsommer lang, der abends die Alb glühen lässt, spürt sie diese Wärme „wie ein Strohfeuer“ in ihr, ist sie verliebt, beinahe wie ein Teenager. Doch dann verschwindet John, der amerikanische Soldat, wort- und spurlos Richtung Vietnam, lässt die 40jährige mit einem „Dergel“, einem „Balg“ zurück. In ihrem Dorf ist Magda damit doppelt gebrandmarkt: Als „Geschiedene“, die sich von einem „Ami“ ein Kind anhängen ließ.

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Die Enge der schwäbischen Dörfer

Scharlachrote Buchstaben gab es in dieser urschwäbischen Gegend zwar noch nie. Aber „gschwätzt“ wird noch immer, in dieser Enge der Dörfer, wo jeder jeden kennt, über jene, die nicht in die gängigen Vorstellungen passen. Es ist auch ein Stück meiner Kindheit und Jugend, in die die Schriftstellerin Alice Grünfelder mit ihrem neuen Roman „Jahrhundertsommer“ entführt. Nur wenige Sätze genügen, um mich in die 70er- und 80er zurückzuführen:

„Jetzt also hatten sie endlich ein eigenes Haus in der neuen Siedlung, gleich neben dem Libellenrain, wo die Reichen lebten. Ihre Neubausiedlung grenzte aber nicht direkt an den Wald, sondern ging über in weite Wiesen und Äcker. Manchmal versprühten Bauern ihren Dung, das roch dann in der ganzen Siedlung.“

Der Traum der Eltern von Leuten meiner Generation vom eigenen Häusle, die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit immer noch im Nacken, als die Großmütter selbst noch Socken stopften, die mehr Löcher hatten als Wolle, dieses Credo vom „Schaffa, schaffa, Häusle baua ond net nach de Mädla schaua.“ Der Wunsch, am Wirtschaftswunder teilzuhaben. Und wem das nicht gelang, dem hing der Ruf nach, selbst schuld zu sein. Am Gymnasium meiner oberschwäbischen Kleinstadt-Heimat kursierte zudem ein besonderer Spruch: „Malaria, Cholera, von dr Alb ra“. Die Schwäbische Alb galt als besonders rückständig. Das Karstgebirge ist eine der wasserärmsten Regionen Deutschlands, das Leben für die Landwirte war hart. Eine raue Landschaft, die einen rauen Menschenschlag hervorbrachte. Lebensgewohnheiten, geprägt von harter Arbeit, den engen Grenzen der Kirche und zugleich von den Sagen und Mythen der Ahnen – all das schwingt in „Jahrhundertsommer“ mit.

Von Armut und Widerstandskraft

Alice Grünfelder erzählt die Geschichte einer kleinen Familie, die immer außen vor bleibt, die kämpfen muss, selbst um das Notwendigste, sie erzählt von gescheiterten Lebensplänen und misslungenen Fluchten, aber auch von einer zähen Widerstandskraft, die schwäbisch-stoisch die größten Schläge einstecken lässt. Die Geschichte setzt ein mit Magda in den 60er-Jahren, die von ihrem „Alten“, wie sie ihn dann nur noch abschätzig-zornig nennt, wegen einer jüngeren Frau sitzengelassen wird. Es ist jedoch nicht der untreue Mann, dem die Dorfgemeinschaft etwas anhängt, Magda selbst werde schon ihren Anteil daran haben, wird gemunkelt. Und wird als „Geschiedene“ fortan gemieden. Tochter Ursula flüchtet sich schnell selbst in den Ehehafen, wird schwanger, muss von Thomas geheiratet werden:

„Jetzt bringst du uns noch die Geschiedene ins Haus“, hatten seine Eltern gezetert.
„Nur eine Evangelische wäre noch schlimmer gewesen, dann hätten sie mich verstoßen, das haben sie uns von klein an eingetrichtert“, hatte Thomas Ursula erzählt.

Ursula, die lange mit der Mutter hadert, widerfährt schließlich das gleiche Geschick, auch bei ihr währt das Familienglück im eigenen Haus (in der nach Dung riechenden Siedlung) nicht lange, auch sie wird gegen ein jüngeres Modell eingetauscht. Ihre Halbschwester Ellen, Abkömmling der einzigen Liebe Magdas, scheint es klüger anzustellen: Sie spart eisern ihr Geld, das sie mit Babysitting verdient, um nach Paris zu gehen. Am Ende, als Magda bereits 80 Jahre alt ist, kommt Ellen nach dem Unfalltod ihres Partners mit einem kleinen Kind, aus Not nach zu ihrer Mutter zurück:

Sie schrieb Julia, wie die Leute in Beissweng die Straßenseite wechselten, hinter vorgehaltener Hand tuschelten, so wie immer, so wie früher. Denn ihr Kind hatte dunklere Haut, schwarze Kraushaare, schwarze Kugelaugen.
„Von wem hat sie das Balg?“
„Dass die sich überhaupt traut, zurückzukommen!“

Alice Grünfelder erzählt abwechselnd aus der Perspektive dieser drei Frauen aus drei Generationen über Frauenleben, unerfüllten Wünschen, Hoffnungslosigkeit, die im Falle Magdas bis zum Suizidversuch führt, aber auch vom Überleben in einer feindlichen Umgebung. Man zieht beim Lesen innerlich den Hut vor diesen Frauen, die sich durchbeißen, sei es mit dem Bemalen von Spielfiguren in Heimarbeit, als Marktfrau mit Gemüse aus dem eigenen Garten, als Avon-Beraterin und unterbezahlte Fußpflegerin im Altenheim oder als ausgebeutetes Au Pair-Mädchen in Frankreich.

Drei Frauen und ein Mann

Mit Viktor, Magdas Enkel, Ursulas Sohn, bringt Alice Grünfelder noch eine männliche Perspektive ins Spiel: Auch er ein „Looser“, der schon in jungen Jahren im Alkoholentzug landet, aber auch er einer, der sich immer wieder aufrappelt. Und einer, der am Ende, auf beinahe schon skurrile Weise, die Frauen seiner Familie kurz aus der schwäbischen Armut reißt: Als an Magdas Haus schon die Eternit-Platten abfallen, als in seinem „Elektrofachgeschäft“ die Kunden ausbleiben und Ellen ohne Geld in Frankreich sitzt, kommt Viktor die rettende Idee: „Grün ist die Hoffnung“ lautet das letzte Kapitel, grün ist der Hanf, den er mit Hilfe „seiner“ Frauen in einer Lagerhalle anbaut und gewinnbringend vertickt. Natürlich, und das scheint typisch für diese Familie, geht auch dieses Geschäft irgendwann daneben, fliegt alles auf.

Doch im letzten Kapitel steht Magda, wie zu Beginn des Romans, vor einem Spiegel – nur dass sie sich diesmal nicht überlegt, was sie beim Ausflug auf ein Dorffest mit ihrer Putzkolonne anziehen soll, sondern welche Kleidung für das Gefängnis taugt. Doch Magda ist eine andere geworden, in diesem harten Leben:

„Da muss sie also erst achtzig werden, um gefragt zu werden, ob sie Probleme habe. Die können sie alle mal, dachte sie (…). Es klingelte. Sie ging hinaus. Zwei Jahre Urlaub auf Staatskosten. In Gotteszell.“

Es ist eine Stärke dieses Romans, dass er Figuren nahebringt, die zu Menschen werden: Magda, Ursula, Ellen und Viktor. Man muss sie nicht mögen, sie haben ihre Schwächen, ihre dunklen Seiten, Viktor, der Typ, der sich einfach hängen lässt, Ursula, die sich in Glückserwartung an den jeweils greifbaren Mann hängt, Magda, die ihre Schroffheit an Ellen auslebt. Doch sie werden von Alice Grünfelder so nah- und greifbar geschildert, dass sie förmlich aus dem Buch heraustreten.

Die Sprache transportiert die Mentalität der Gegend

Das bewirkt auch Grünfelders Sprache: Nicht literarisch überhöht, direkt, mit leisem Humor, viel Mutterwitz und dezent eingestreuten Mundart-Sprengseln, die die Handlung, die auch in anderen Landstrichen stattfinden könnte (auch wegen der geschilderten Mutlangen-Proteste wurde ich ab und an beim Lesen an den „Dorfroman“ von Christoph Peters erinnert, ähnliches Milieu, andere Gegend), ins Schwäbische verortet. Die Sprache transportiert die Mentalität einer Gegend, die trotz – oder gerade wegen ihrer Rauheit – eine ganz eigene Anziehungskraft hat.

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman, der durch die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen auch verschiedene gesellschaftliche Themen anspricht, ohne überfrachtet zu wirken: Alleine Magda führt uns vor Augen, was Armut, gerade auch Altersarmut bedeutet – und dass sie, sowohl in der Literatur als auch im „echten Leben“ nicht wegzuleugnen ist.


Bibliographische Angaben:

Alice Grünfelder
Jahrhundertsommer
dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28345-8

Homepage der Autorin: https://www.literaturfelder.com/

Anita Brookner: Seht mich an

1983 veröffentlichte Anita Brookner den Roman “Seht mich an”, der nun in deutscher Erstübersetzung beim Eisele Verlag erschien. Ein berührend melancholisches Buch über ein gesellschaftliches Phänomen: Einsamkeit.

„Als Nancy die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, wie sie es üblicherweise tat, wenn ich ihr nicht sagte, dass ich noch einmal ausgehen wollte, roch ich die dumpfe, eingeschlossene Luft dieser Wohnung und rüstete mich, das rituelle Mahl auf dem rituellen Tablett tapfer durchzustehen. Ich wusste, wie unerträglich dies alles war, und ich ertrug es nur, weil mir ein flüchtiger Blick in die Welt draußen vergönnt gewesen war. Ich wollte nur sehen, wie die anderen, die freien Menschen, ihr Leben führten, und dann konnte ich mein eigenes beginnen.“

Anita Brookner, „Seht mich an“


Wer bewusst, oder weil es das Leben so mit sich brachte, als Single lebt, der lernt im Laufe der Zeit vor allem eines: Das eigene Leben in die Hand zu nehmen, zu wissen, dass es bereits da ist, dieses Leben, und seine Grundzüge von anderen allenfalls minimal beeinflusst werden können. Die Hoffnung auf die eine lebensverändernde Begegnung, sie trügt und täuscht. Verändern kann man sein eigenes Leben nur selbst. Eine Lektion, die Frances Hinton, die Hauptfigur in Anita Brookners drittem Roman, auf eine sehr schmerzhafte Weise erfährt.

Geprägt von einer eleganten Melancholie

Der Inhalt dieses Romans, der von einer eleganten Melancholie durchzogen ist, ist in wenigen Sätzen umrissen. London, die 1980er-Jahre. Frances Hinton lebt nach dem Tod ihrer Mutter allein mit dem alten irischen Hausmädchen Nancy in einer etwas skurrilen Wohnung, arbeitet in der Bibliothek eines medizinischen Forschungsinstituts und ist im Privatleben vor allem von alten Menschen umgeben, den Bibliotheksbesuchern, Kolleginnen im Ruhestand, dem ehemaligen Arzt ihrer Mutter. Erst als sie sich mit dem jungen Wissenschaftler Nick und dessen Frau Alix anfreundet, mit ihnen „klassische Bohemeabende“ verbringt, scheint sich in diesem eintönigen Alltag etwas zu verändern:

„Ich sprach mit niemanden über diesen Wandel in mir, über das Gefühl, das ich hatte, das Leben habe sich mir geöffnet, und zwar nicht nur zur Besichtigung, sondern, was mehr bedeutete, damit ich aktiv daran teilnahm.“

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Der Rausch der Leichtigkeit, er hält nicht lange an: Zwar geht Frances zu James, einem Wissenschaftler an ihrem Institut (und in ihrem reduzierten Leben der einzig verfügbare Single-Mann) eine Art kindlicher Freundschaft ein. Im Grunde ein Flirt, der vor allem aus ausgedehnten Spaziergängen durch das immer verregnete London besteht und recht zaghaft vor sich hindümpelt. Erst als Frances mehr und mehr gewahr wird, dass sie bei dieser kleinen Clique immer eine außenstehende Beobachterin bleiben wird, dass James vielleicht ihre letzte Chance ist auf ein klassisches Lebensmodell, das den Menschen als Paar definiert, startet sie einen fast schon verzweifelt anmutenden Verführungsversuch. Der demütigend für sie endet: „Nicht mit dir, Frances. Nicht mit dir.“

Regression zum kindlichen Ich

Nach einem letzten Zusammentreffen mit den sogenannten „Freunden“ im Restaurant, kehrt sie in ihre Wohnung und zu Nancy zurück, bricht innerlich zusammen und mutiert dabei beinahe zum Kind, das von der Haushälterin umsorgt und gepflegt werden muss.

„Aus tiefem ungetrübten Schlaf tauchte ich immer wieder auf – vielleicht war nur eine Viertelstunde vergangen -, in einen Zustand totaler Regression, als wäre ich, liebevoll umsorgt, in den Ferien, und vor mir läge ein Tag voller Überraschungen und Freude. Ich finde, dass dies einer der übelsten Streiche ist, die wir uns selbst spielen: diese Unfähigkeit, uns freizumachen von der frühen, kindlichen Erwartungshaltung.“

Gerade dieses Zitat zeigt die Tragik dieses Romans: Frances, die so klar und hellsichtig ihren eigenen Charakter analysiert, die einen durchaus kritischen Blick auf ihre Freunde, insbesondere die egozentrische, verwöhnte, „raubtierhafte“ Alix hat, jene Frances also, die weiß, dass ihre Lebens- und Moralvorstellungen anders geprägt sind, will sich dennoch dem gesellschaftlichen Diktum unterwerfen. Das da, bis in unsere heutigen Tage hinein, lautet: Es ist nicht gut, dass der Mensch (und insbesondere die Frau) allein bleibt. Es macht einem beim Lesen beinahe wütend, ja es schmerzt, zu lesen, wie sehr sie sich zwischenzeitlich verbiegen will, um den Erwartungen an eine Frau auf dem Heiratsmarkt zu entsprechen:

„…ich durfte dabei nicht störrisch oder schwierig sein. Weihnachten stand vor der Tür, und wir hatten es gemeinsam zu feiern. Ich musste also ganz unbeschwert sein.“

Daniel Schreiber über das Lebensmodell “Single”

Wer könnte geeigneter sein, ein Nachwort zu diesem Roman zu schreiben, als der Autor von „Allein“, Daniel Schreiber? Brookner habe in diesem und ihren anderen Romanen immer wieder deutlich gemacht, „was auf dem Spiel stand, wenn man allein lebte, und wie begrenzt die Möglichkeiten für alleinstehende Frauen in einer Gesellschaft waren, die dieses Lebensmodell nicht für beschützenswert, respektabel oder auch nur akzeptabel hielt, sondern bestenfalls für bemitleidenswert.“

„Seht mich an“ (eine Formel, die im Roman immer wieder, einmal fordernd, einmal flehend, wiederholt wird) macht noch einmal bewusst: „Alleinsein“ und „Einsamkeit“ sind unterschiedliche Dinge. Doch wo die Entscheidung zum „Alleinsein“ gesellschaftlich nicht anerkannt ist, wird der Mensch, der sich bewusst oder unbewusst dafür entscheidet – und dies tut Frances, die bei all ihren Anpassungsbemühungen doch immer auch ahnt, dass sie sich bei der Annäherung an Alix & Co. auf einem für sie „falschen“ Weg befindet – auch ein Stück weit in die Einsamkeit getrieben. Das Thema des Romans ist hochaktuell: Immer mehr Menschen leben als Singles und Einsamkeit ist beinahe ein gesellschaftliches Phänomen.

Betrachtet man Anita Brookners Leben, so liegt es nahe, dem Roman autofiktionale Züge zuzuschreiben: Wie ihre Hauptfigur lebte Brookner alleine, arbeitete als Kunsthistorikerin, kannte dieses Singleleben mit seinen Schattenseiten – den scheinbar anteilnehmenden Fragen, warum es denn nie geklappt habe, den Katzentisch im Restaurant, den langen Stunden an den Feiertagen – aus eigenem Erleben. Daniel Schreiber führt in seinem Nachwort aus, Brookner habe später bedauert, „Seht mich an“, das 1983 in England erschien, geschrieben zu haben – der Roman sei verantwortlich für ihren Ruf einer alten Jungfer, die über alte Jungfern schreibt. Dementsprechend wenig wurde ihr literarisches Werk wahrgenommen: „Alte Jungfern“ – wieviel Missachtung schon in diesem Ausdruck liegt! – interessierten in den Feuilletons wenig, galten als langweilig.

Übersehen wurde dabei, mit welcher Eleganz und Präzision Anita Brookner schrieb, mit wieviel Feingefühl für innere Vorgänge und Schwingungen, ohne je ins Sentimentale abzugleiten. Es ist an der Zeit, Anita Brookner zu sehen.


Bibliographische Angaben:

Anita Brookner
Seht mich an
Übersetzt von Herbert Schlüter
Eisele Verlag, 2023
ISBN978-3-96161-153-9

Joy Williams: Stories

In den USA ist Joy Williams lange schon eine literarische Größe, bewundert von Lauren Groff, Don DeLillo, Raymond Carver und anderen. Auf dem deutschen Buchmarkt wird das Werk der fast 80-jährigen Autorin erst jetzt entdeckt. Höchste Zeit!

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„Dann, eines Nachmittags, kam Walter von der Arbeit in der Autowerkstatt nach Hause, und es schien, als wäre er aus einem seltsamen Schlaf erwacht. Sein Erwachen schien ihn nicht zu erschrecken. Seine kummervollen Tage und Nächte endeten mit einer Wucht, die nicht größer war als das Auflaufen eines Bootskiels am Ufer eines Flusses.“

Aus der Erzählung „Letzte Generation“
Joy Williams, „Stories“


Es sind diese beinahe beiläufigen Bilder, sacht wie das Auflaufen eines Bootskiels, die Joy Williams zu einer Meisterin des Untergründigen machen. In den USA ist die 1944 in Chelmsford, eine Kleinstadt in Massachusetts geborene Schriftstellerin, lange schon eine literarische Referenz: Bewundernde Noten von Don DeLillo, Bret Easton Ellis, Lauren Groff und Raymond Carver sind auf der Rückseite der deutschen Buchausgabe ihrer „Stories“ zu lesen.

In ihrer Heimat vielfach ausgezeichnet, hierzulande bislang noch völlig unbeachtet: Zwei übersetzte Bände erschienen vor über drei Jahrzehnten, danach las man nichts mehr über die Erzählerin. Umso erfreulicher, dass der Band „Stories“ nun von der ganzen Bandbreite des Feuilletons besprochen wurde. Zu Recht: So grandios taucht kaum eine in das menschliche Herz der Finsternis ein. „Stories“ versammelt eine kluge Auswahl aus dem Werk von Joy Williams, sozusagen ein „best of“ von den 1970er-Jahren bis 2014, die die Bandbreite dieser Schriftstellerin zeigen.

Mit einer bissigen Lust an der Entlarvung ihrer Figuren

Mit kurzen, pointierten Sätzen nimmt sie ihren Figuren die Masken vom Gesicht, entlarvt sie mit einer gewissen bissigen Lust. Über Jack, einen egozentrischen forensischen Anthropologen, der sich bei einem Jagdunfall mit einem Pfeil durchs Auge selbst das Gehirn wegschießt, lässt sie dessen frustrierte Lebensgefährtin Miriam sagen:

„Aus der Reha kam er mit einem Gesicht nach Hause, das so ausdruckslos war wie ein glasierter Kuchen.“

Miriam begibt sich in der Erzählung „Kongress“ schließlich mit Jack und dessen Studenten Carl, dessen Besitzansprüche an den behinderten Forscher immer massiver werden, auf einen Roadtrip, beginnt mit einer Lampe mit Tierfüßen zu sprechen und übernimmt am Ende die Stelle eines Präparators in einem Naturkundemuseum mitten in der Pampa. Frank Schäfer kritisierte in seiner Rezension in der “taz” diese Story als einzige, die zu sehr in eine Traumlogik abgleite, andere erkennen in solchen Erzählungen die Nähe zu George Saunders.

„Auch Williams betrachtet die Realität so lange, bis sie einem irgendwann ganz fremd erscheint“, meint Frank Schäfer. „Kongress“ aber zeigt in meinen Augen: Ebenso beherrscht Williams die Kunst, das Irreale ganz normal, ganz real erscheinen zu lassen. Warum nicht öfter mit einer Lampe sprechen?

Ein Abbild amerikanischer Tristesse

Tatsächlich fällt „Kongress“ unter den insgesamt 13 Erzählungen in „Stories“ etwas aus dem Rahmen. Gemeinsam haben sie jedoch alle eines: Sie sind Skizzen dieser speziellen amerikanischen Tristesse, die man auch aus Werken anderer US-Schriftsteller – neben Williams‘ Studienkollegen Raymond Carver sowie Lucia Berlin wären da auch die etwas älteren Richard Yates und John Cheever zu nennen – kennengelernt hat.

Doch neben der Genauigkeit des Beobachtens und der feinen Zeichnung ihrer Figuren (meist Verzweifelte, Abgehängte, Ausgebrannte), der Kunst der feinen psychologischen Skizzierung, die Charaktere in wenigen Bildern greifbar macht und untergründigen Melancholie, die diese Autor*innen gemeinsam haben, sind die Stories von Joy Williams in einem Wesenszug einzigartig: Sie verströmen eine Aura des Unheimlichen, Abgründigen, die einen immer wieder erschauern lässt. Es wundert nicht, dass Bret Easton Ellis „der Mut fehlt, die Geschichten ein zweites Mal zu lesen“.

In „Liebe“ erblickt ein kleines Mädchen bei einer winterlichen Autofahrt einen „Schneeschuhhasen“:

„Der Hase ist prächtig! Und so schnell! Er gleitet um unsichtbare Hindernisse, wie ein Wesen aus einem freundlichen Traum, fliegt über den Graben, die Pfoten wie Paddel, leicht gelblich, von der Farbe rohen Holzes.“

Sekunden später ist der Hase tot und „stürzt, wie eine Kugel, Pfoten und Kopf eng an den Körper gepresst.“

Immer nah am Kipppunkt zur Tragödie

Urplötzlich kommt in diesen Erzählungen der Kipppunkt, in denen die Normalität zur großen Tragödie wird. Oder zumindest schleicht sich die Ahnung ein, dass das Ganze böse enden könnte, sei es nun in „Lu-Lu“, als eine junge Frau die Boa Constrictor ihrer alten Nachbarn entführt oder in der Erzählung „Rost“: Der weitaus ältere Ehemann von Lucy, Dwight, entflammt für einen rostigen Ford Thunderbird, dem keine Autowerkstatt noch eine Chance gibt. Schließlich landet das Auto im Wohnzimmer und das ungleiche Paar im Auto, aus der Fensterscheibe starrend. Das unspektakuläre Ende ist ganz groß. Man kann nur das Schlimmste fürchten:

„Ein leichter Regen fiel, ein warmer Frühlingsregen. Während sie hinsah, fiel er rascher. Er war silbrig, doch je rascher er fiel, desto weniger wirkte er wie Regen, und sie konnte es fast klirren hören, als er auf die Straße traf.“

Warum Joy Williams erst jetzt im deutschsprachigen Raum als große Entdeckung gefeiert wird, mag vor allem darin liegen, dass die Form der Erzählung es auf dem deutschen Buchmarkt allgemein schwer hat. Was die Gründe dafür sind, ist mir ein Rätsel: Für mich ist es große Kunst, eine ganze Welt und ein ganzes Leben, dichte Atmosphäre und funkelnde Sätze auf wenige Seiten zu packen, ohne alles erzählen. Die Kunst der Andeutung – diese beherrscht Joy Williams meisterhaft.


Informationen zum Buch:

Joy Williams
Stories
Übersetzt von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz
Dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28321-2

C. A. Davids: Hoffnung & Revolution

“Hoffnung & Revolution” ist der zweite Roman der südafrikanischen Autorin C. A. Davids. Er erzählt von gescheiterten politischen Hoffnungen und dem Streben nach Gerechtigkeit.

„Nachdem sie tot war, gab es keinen Gedanken mehr an Normalität, sollte diese überhaupt je existiert haben. Die Traurigkeit ließ nie nach. Sie lauerte unter meinen Lidern, beobachtete mich, wenn ich in der Schule war, wenn ich sprach. Atmete für mich. Manchmal … besonders in den Tagen danach … war es einfacher, daheimzubleiben und an die Decke zu starren.“

C. A. Davids, „Hoffnung & Revolution“, Verlag Das Wunderhorn


Es sind zwei beschädigte Seelen, die das Schicksal in der Millionenmetropole Shanghai zusammenführt: Beth, eine südafrikanische Konsulatsangestellte, die 1989 den Mord an ihrer besten Freundin Kay erleben musste. Und Zhao, der 1958 einen ähnlichen Lebenseinschnitt erlitt – die Auslöschung praktisch seines ganzen chinesischen Heimatdorfes während einer großen Hungersnot, das ungeklärte Verschwinden seiner Mutter.

Bild von Barend Lotter auf Pixabay

Beide, die Diplomatin im Dienst eines immer korrupter werdenden Staates, und der linientreue Journalist in einer Diktatur, deren Überwachungsnetze immer enger gezogen werden, haben sich irgendwie mit ihrem Leben, ihrem status quo arrangiert. Doch beide wissen auch, dass dieses Arrangement, das Einrichten eines Lebens in einem Lügengespinst, seinen Preis hat.

„Wenn sparsam mit Erzählungen, mit Kritik, mit Geschichte, dann nicht, weil ich nicht sehe, nicht fühle. Beschütze nur. Dieses Leben …“, sagte er schließlich.
„Ja“, sagte ich. Ich verstand.
Zhaos Schweigen bedeutete auch, dass meine Vergangenheit mehr oder weniger in Ruhe gelassen wurde.

Der Preis des Schweigens ist Einsamkeit und Isolation, wie die südafrikanische Schriftstellerin C. A. Davids in ihrem zweiten Roman, der 2022 unter dem Titel „How to be a revolutionary“ erschien, verdeutlicht. Übersetzt von Susann Urban kam die deutsche Ausgabe „Hoffnung & Revolution“ nun in der Reihe „AfrikAWunderhorn“ im Verlag Das Wunderhorn heraus. Von Hoffnung ist zunächst bei den beiden hauptsächlichen Protagonisten wenig zu spüren: Beth und Zhao, die beide in einem Wohnblock leben, lernen sich kennen, weil Zhao ein Synonym für „traurig“ sucht. Sie einigen sich schließlich auf „Melancholie“.

Von Cape Town bis Shanghai

Eine Melancholie, die diesen Roman beinahe bis zum Ende durchzieht. Immer wieder wechselt die Autorin die Zeit- und Erzählebenen, verschränkt die beiden Lebensgeschichten, um die Vergangenheit, den Weg beider bis nach Shanghai nachzuvollziehen. Von Cape Town und der chinesischen Provinz bis Shanghai: Auch ein Weg gescheiterter politischer Hoffnungen, nicht eingetretener Utopien, falscher Glaubenssätze.

„Erst als der Vorsitzende starb, ließ das Blutvergießen ein wenig nach. Ich kann ruhig zugeben, dass ich gemeinsam mit Millionen, vielleicht Hunderten Millionen, aufrichtig weinte. Da ich keinen Vater gehabt hatte …“

Die Depression kommt am Platz des Himmlischen Friedens

Für Zhao, der das spurlose Verschwinden seiner Mutter nie überwand, wird schließlich dieses Datum, das in China nicht genannt werden darf, zu einem inneren Wendepunkt: Der 4. Juni 1989, der Tag des Massakers am Tian’anmen-Platz. Mit diesem Tag beginnt für ihn der Weg in eine innere Emigration, die erst aufbricht, als er Beth kennenlernt.

Und für Beth ist die Begegnung mit Zhao der Schlüssel, um das, was die in Südafrika eingesetzte “Wahrheits- und Versöhnungskommission” ihr nicht bieten konnte – Gerechtigkeit für ihre ermordete Jugendfreundin Kay – zu überwinden. Zu sehr hatte sie sich an ein Leben mit Kompromissen gewöhnt. Die kritischen Worte ihres Mannes, denen sie sich mit ihrer Versetzung nach Shanghai entzieht, schärfen ihren Blick, ihr Vorgesetzter formuliert es deutlich:

„Sie sind eine Beamtin, die alle Ideologie hinter sich gelassen hat und mit sich ins Reine zu kommen versucht, nachdem sie jahrelang die zunehmende Unfähigkeit und Korruption ignorierte.“

Als Zhao, der vermutlich bereits von der chinesischen Regierung überwacht wird, eines Tages sang- und klanglos verschwindet, hinterlässt er Beth ein gefährliches Geschenk: Ein Manuskript, das unverblümt von der Hungersnot erzählt, den Gräueltaten, als Kinder ihre Eltern aßen, um zu überleben, als korrupte Beamte Nahrungsmittel für sich und die ihren beiseite schafften bis hin zu den Umtrieben der Viererbande und dem Massaker am Himmlischen Platz des Friedens. Beth gelingt es, obwohl auch bereits ihre Wohnung überwacht wird, sie ihren Arbeitsplatz verliert, schließlich einem Verhör unterzogen wird und aus Shanghai verwiesen wird, das Manuskript außer Landes zu schaffen. Und aus der Resignation und Apathie wird schließlich wieder Hoffnung:

„In den Tagen und Nächten, die folgten, füllte Beth, wie eine Gegenstimme zum Meeresrauschen, die Stille mit Worten, die ihr anfangs nicht leichtfielen.
Aber hier standen sie. Wahr. Fakt. Eine Aufzeichnung. Ein Zeugnis. Seins, ihr eigenes und natürlich der Freundschaft.“

In einer ausführlichen Rezension zu diesem Buch schreibt Hilary Lynd in der „Los Angeles Review of Books“:

„Being a confident young revolutionary is part of a collective experience. Being a confused older revolutionary, most of the time, is awfully lonely.“

Man ist versucht, beim Lesen immer wieder leise die „Internationale“ anzustimmen: „Proletariar (respektive Revolutionäre) aller Länder, vereinigt euch!“ Denn „Hoffnung & Revolution“ ist ein Roman, der ebenso von der Einsamkeit als auch vom Wert der Freundschaft und Solidarität erzählt. Und nicht zuletzt davon, dass Menschen bereit sind, für den Kampf gegen Ungerechtigkeit vieles auf sich zu nehmen – und dazu bereit sein können, wenn einige, und seien es auch nur wenige, sie unterstützen.

Fiktive Briefe von Langston Hughes

Kunstvoll gelingt es C. A. Davids, diesen Subtext ihres Buches durch eine dritte Ebene zu verstärken: Immer wieder eingeflochten sind in den Text fiktive Briefe des afroamerikanischen Schriftstellers Langston Hughes (1902 – 1967) an einen südafrikanischen Kollegen. Hughes ist die perfekte Projektionsfläche: Hughes, Vertreter der Harlem Renaissance, kämpft gegen Diskriminierung, sieht den Sozialismus, vor allem nach einer Reise in die Sowjetunion, als mögliche, gerechte Staatsform, muss in der McCarthy-Ära vor den berüchtigten Ausschuss und gerät, auch weil er sich von manchen seiner früheren Aussagen distanziert, zwischen alle Stühle und mehr und mehr in die Isolation. Die Korrespondenz mit gleichgesinnten Schriftstellern, die Arbeit an einer Anthologie, das ist es, was Hughes wieder Mut & Leben gibt.

Davids schildert dies alles unspektakulär und dennoch abwechslungsreich – so bekommt jeder Handlungsort, sei es Shanghai, sei es Kapstadt, eine „eigene Sprache“ und Färbung, beispielsweise durch eingestreute Slangwörter. Auf eine falsche Fährte könnte die Ankündigung des Buchs als Politthriller auf der Verlagsseite Leser*innen bringen: Für einen Thriller fehlt etwas der Spannungsbogen. Vielmehr ist „Hoffnung & Revolution“ ein lesenswerter Roman über Kraft (aber auch Ohnmacht) des geschriebenen Wortes. Und ein politischer Roman von hoher Aktualität: Irgendwo steht die Welt immer in Flammen. Und irgendwo braucht es auch immer mutige Einzelne, die dagegen ihre Stimme erheben.


Weitere Informationen:

C. A. Davids
Hoffnung & Revolution
Übersetzt von Susann Urban
Verlag Das Wunderhorn, 2023
Hardcover, 320 Seiten
ISBN 978-3-88423-686-4

Mehr zum Buch und zur Autorin auf der Homepage des Verlags, dem ich für das Rezensionsexemplar danke.


Südafrika auf diesem Blog:

Imraan Coovadia: Vermessenes Land
James McClure: “The Steam Pig” und “The Song Dog”

Buchmesse Leipzig: Messe lebt, Buch ist tot?

Die Leipziger Buchmesse überraschte mit einem Besucheransturm. Das stärkt hoffentlich vor allem den unabhängigen Verlagen den Rücken: Denn die Zeiten sind schwierig für die kleinen, engagierten Buchmacher.

Vor vielen Jahren, als ich das erste Mal vor dem Presseeingang zur Leipziger Buchmesse in der Schlange stand, gestand ich meinem Nachbarn in der Reihe, wie sehr ich mich auf die vielen Lesungen freuen würde. Jung und dumm, wie ich da noch war. Er, ein bereits etablierter Protagonist in diesem Zirkus, schaute mich irritiert an, die High-brow wurde noch etwas higher und meinte nur knapp: “Profis gehen hier doch nicht auf Lesungen.”

Jetzt, Jahre später, musste ich wieder an Mr. High-brow denken – er ist nicht mehr aktiv, aber andere dieser Art wachsen nach. Und dennoch: Ich mag mir die Lust speziell an der Leipziger Buchmesse, die Vorfreude und auch die Energie, die die Begegnungen dort auslösen, nicht nehmen lassen. Und dieses Mal, nach langer Pause und insbesondere nach den Schwanengesängen im vergangenen Jahr, als manch einer begann, den Sinn zweier deutscher Buchmessen im Jahr in Frage zu stellen, war die Euphorie besonders groß. Nicht nur bei mir, glaube ich. Das war – ganz besonders in der Halle 5, wo viele unabhängige Verlage zu finden sind – einfach greifbar.

Buchmesse meldet überraschend hohe Besucherzahlen

Die Messe, so meldet es die Tagesschau, ging mit weitaus mehr Besuchern zu Ende, als erwartet wurde: Das lässt hoffen! Die Messe meldet 274.000 Besucher. Insbesondere für das ganze Spektrum der Indieverlage ist die Leipziger Buchmesse enorm wichtig – hier, bei dieser Publikumsmesse, erhalten sie Sichtbarkeit, kommen in Kontakt mit ihren Leserinnen und Lesern, können ihre Progamme und Programmatik erläutern und nicht zuletzt wandern auch etliche Bücher über den “Ladentisch”. Und in diesen Zeiten, in denen die kleinen Verlage vor enormen Herausforderungen stehen, die Produktionskosten für Bücher sich beinah verdoppelt haben, ist dieser Kontakt ganz besonders wichtig.

“Das ist einfach großartig hier, wie viele Menschen interessiert an den Stand kommen”, zeigte sich Andrea Richter bei der Edition Faust begeistert von der speziellen Leipziger Atmosphäre – der Verlag war einer von mehreren, die ich auch in der Pressearbeit betreue, die nun erstmals bei dieser Frühjahrsmesse dabei waren.

Leipziger Buchmesse 2023 aufgenommen am Donnerstag (27. April 2023) in Leipzig. Foto: Leipziger Messe/Jens Schlueter

Netzwerk Schöne Bücher mit origineller Aktion

Mr. Highbrow seufzte seinerzeit leidvoll, weil man auch als Pressemensch nicht umhin kam, mit den Besucher*innen der Manga-Comic-Con in Berührung zu kommen. Und auch heuer gab es wieder die eine oder andere Stimme, die bemäkelte, dass man in Halle 1 jede Menge Gimmicks, aber kein Buch zu sehen bekäme … zugleich aber wird beklagt, “dass die Jugend” nicht mehr liest. Nur: Im Elfenbeinturm, so ganz unter sich, bei gepflegten Diskussionen, löst man keine Krise, gewinnt kein neues Publikum. Offensiv und pfiffig ging beispielsweise das Netzwerk Schöne Bücher die ganze Geschichte an: Interessierte bekamen ein Stickeralbum und konnten bei den beteiligten unabhängigen Verlagen die jeweiligen Sticker einsammeln, fleißige Sammler bekamen eine Überraschung. “Dadurch kamen durchaus auch Leute an den Stand und interessierten sich für die Bücher, die wir sonst nicht erreichen würden”, erzählte Annette Stroux von der STROUX edition, auch erstmals dabei.

Literaturblogs und Literaturvermittler

Vielleicht sind auch dies neue Wege, die jüngere Menschen wieder zum Lesen und zum Medium Buch bringen könnten. Die von manchen verschmähte “Eventisierung” der Literatur. Anders, als mit Offenheit und Offensiven geht es jedenfalls nicht – und was daraus entstehen kann, das zeigt sich gerade auch an den vor zehn Jahren im Feuilleton noch häufig belächelten “Blogs mit Kaffeetassen”: Nicht wenige dieser Literaturvermittler haben auf ihren Social Media-Kanälen inzwischen eine Reichweite, die staunen lässt. Es braucht alles: Die fundierte, kenntnisreiche Kritik und die Begeisterung und Leidenschaft von buchaffinen Quereinsteigern, es braucht die literarische Auseinandersetzung mit einem Werk ebenso wie die literarische Aktion.

Unstrittig ist dennoch, dass die Leser*innenzahlen zurückgehen, viele kleine Verlage nur auf Messers Schneide existieren und zugleich die Möglichkeiten der Sichtbarkeit immer weiter zurückgehen – viele der öffentlich-rechtlichen Sender haben die Plätze für Literatur gekappt und gekürzt und das Feuilleton der Printmedien, traditionell bei vielen Zeitungsverlegern nicht so beliebt wie der publikumsträchtigere Sport, schwächelt. Der schwindende Platz für Literaturkritik wirkt sich vor allem negativ auf die kleinen Verlage aus – kein Feuilleton kann oder will es sich leisten, einen Stuckrad-Barre nicht zu besprechen, anderes fällt hinten durch.

Wege aus der Krise

All die Entwicklungen und auch die Klagen darüber sind nichts Neues, nun aber verschärft durch die Pandemie, Lockdowns, gebrochene Lieferketten, Energiekrise usw. Doch schon vor den Krisenjahren führten unter anderem das “Tübinger Memorandum” und ähnliche Vorstöße immerhin zur Einführung des deutschen Verlagspreises, um für die lebendige Szene der deutschen Kleinverlage zumindest einen Weg staatlicher Förderung zu eröffnen. Obwohl die Vergabepraxis nicht unumstritten blieb, scheint der Ruf nach mehr staatlicher Förderung derzeit zumindest öffentlich nicht sehr virulent – vielleicht gibt es aber einfach auch der Krisen zu vieler. Dennoch: Ein Blick auf Länder wie Österreich (#meaoiswiamia) und die Schweiz zeigen – die Pflege des Kulturguts Buch wäre durchaus noch ausbaufähig.

Dinçer Güçyeter und mikrotext: Hoffnungsträger

Es war daher nicht nur der literarische Gehalt von “Unser Deutschlandmärchen”, der bei der Preisverleihung des Leipziger Buchpreises zu einem Gänsehautmoment, Standing ovations und sogar zu fließenden Tränen im Publikum führte – diese Emotionalität habe ich bislang noch bei keiner Preisverleihung so erlebt. Mir schien das beinahe wie der Befreiungsschrei einer “Branche in der Branche” (die unabhängigen Kleinverlage folgen eben doch ganz anderen Gesetzen als die Großkonzerne), die für einen Moment all die Sorgen vergessen konnte: Da haben es zwei – Autor wie Verlegerin – geschafft, die für all das stehen, was auch viele andere unabhängige Verlage ausmacht: Leidenschaft für gute Texte, Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit, aber vor allem auch Offenheit, Offenheit gegenüber neuen Wegen im Vertrieb und Marketing, Offenheit gegenüber Menschen – die anderen Nominierten auf die Bühne zu holen, den Preis als gemeinsamen Preis aller zu feiern: Das ist es, was die Indie-Szene prägt.