Rainer Maria Rilke – Ich ließ meinen Engel lange nicht los

Bild: Birgit Böllinger

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…

Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.

Rainer Maria Rilke, Engellieder aus dem Band “Dir zur Feier” (1897/1898).

Als ich dieser Tage diesen Schnappschuss dieser Flügelwesen im Regen machte, kam mir der Halbsatz “Wenn Engel weinen…” in den Sinn. Und wenn ich schon in sentimentaler Stimmung bin, dann ist meist auch Rilke nicht weit. Manche nennen seine Gedichte Kitsch, ich dagegen staune immer wieder, wie man soviel Gefühl gepaart mit Verstand in sprachliche Musik umwandeln kann. Den Gedichtband “Dir zur Feier” widmete er seiner großen Liebe Lou Andreas-Salomé, die “Engellieder” sind im Kapitel “Mir zur Feier” zu finden. “Ich ließ meinen Engel lange nicht los”: Im Grunde eine ganz unsentimentale Bestandsaufnahme einer komplizierten Paarbeziehung.

3 Gedanken zu „Rainer Maria Rilke – Ich ließ meinen Engel lange nicht los

  1. Ich finde gar nichts falsch an Kitsch und Rührseligem, solange es mir den Moment verschönert und mir die Freude bringt, offen der Welt zu begegnen. Schönes Gedicht. Ich kannte es nicht, oder habe es vergessen. Viele Grüße!

  2. Ein Engel ist eine geistige Vorstellung von einem Ideal-Ich, welches durch Erziehung, Kultur Autoritäten sich in uns gebildet hat. Dem gerecht zu werden ist einfach nicht möglich. Also gilt es diesen Engel loszulassen, um das zu leben in dieser Welt, was ich wirklich bin. Der Engel wird frei und ich werde frei, indem ich erkenne, wer ich wirklich bin und so anzunehmen wie ich bin, mit allen Stärken und Schwächen. Nur so entsteht nachhaltige Zufriedenheit und Glück mit sich selbst und damit der Welt.

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