Deutschland in den Nachkriegsjahren: Ein »entnazifiziertes« Volk müht sich, das zu vergessen, was es verschwieg – seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Tatsächlich wurden im Westen vor allem Verwaltung, Justiz und Industrie mit Hilfe tief ins Nazi-System verstrickter Männer und Mörder aufgebaut. In der DDR gab es einige wenige Todesurteile für entlarvte Täter, ansonsten galt die Unterstützung des neuen Unrechtssystems als Freibrief.
All das, so kann eingewendet werden, ist nicht neu. Und dennoch entfaltet die Essay-Sammlung von Helmut Ortner durch die Ballung von Fakten in erzählerischer Form – durch die Schilderung von Geschehnissen in Bezug auf einzelne Biographien – ungeheure Wirkung.
So wird die Karriere des Scharfrichters Johann Reichhart nachgezeichnet. Nach dem Krieg nutzten die Amerikaner die Fertigkeiten des »damned murderer«, der den amerikanischen Kollegen Hazel Woods in seine Galgenkunst einweist, damit dieser sie an den in Nürnberg Verurteilten perfekt praktizieren konnte.

Oder der Fall des Arnold Strippel, der als eifriger SS-Mann in verschiedenen KZs arbeitete und unter anderem 20 jüdische Kinder ermordete. Prozess, Inhaftierung, Wiederaufnahme des Verfahrens und eine mildere Verurteilung bescheren ihm eine Haftentschädigung von 120.000 Mark, sieben Mal so viel wie die KZ-Häftlinge bekommen hätten, wenn sie ihm entronnen wären. Damit kaufte er eine Wohnung in Kalbach und stritt mit Nachbarn wegen Bäumen, die seinen Balkon beschatteten.
Das Hauptaugenmerk lenkt Ortner auf die penible Untersuchung der Justiz. „Die personelle Kontinuität nach 1945 ist ein zweifelhaftes Lehrstück politischen Verhaltens zwischen Strafe und Reintegration, Kontrolle und Unterwanderung, Reform und Restauration“, so der Autor. Mit der Folge, dass so lange keine Anklagen gegen Massenmörder und Kriegsverbrecher erhoben wurden, bis sie starben. Der erste Prozess gegen einen KZ-Aufseher, einen Polen, fand erst 2016 statt. Sogar die Juristen der Nachfolgegenerationen waren bis 2021 blind gegenüber den Namen, die auf den beiden wichtigsten Kommentar-Sammlungen zum Grundgesetz und zum Bürgerlichen Gesetzbuch sowie auf der Loseblatt-Gesetzsammlung standen: Palandt, Maunz und Schönfelder. Alle drei hatten als einflussreiche Juristen den Nazis nach Kräften juristische Legitimität verschafft.
Zum Autor:
Helmut Ortner hat bislang mehr als zwanzig Bücher – überwiegend politische
Sachbücher – veröffentlicht, u.a. Der Hinrichter. Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter. Georg Elser und Fremde Feinde. Der Justizfall Sacco & Vanzetti. Zuletzt erschienen Gnadenlos deutsch (2016), Dumme Wut, kluger Zorn (2018), EXIT. Warum wir weniger Religion brauchen (2019) sowie Ohne Gnade. Eine Geschichte der Todesstrafe (2020). Seine Bücher wurden bereits in 14 Sprachen übersetzt.
https://www.helmutortner.de/
Informationen zum Buch:
Helmut Ortner
Volk im Wahn
Hitlers Deutsche oder
Die Gegenwart der Vergangenheit
Dreizehn Erkundungen
Edition Faust, Frankfurt am Main, März 2022
296 Seiten, Klappenbroschur, 22,00 €
ISBN 978-3-949774-04-1
Stimmen zum Buch:
“Man muss ganz nach oben greifen, bis man etwa mit Sebastian Haffner vergleichbar aufrüttelnde und zugleich gut recherchierte Reportagen findet.” – Oliver Steinke auf der Seite “Das politische Buch” in “Die Rheinpfalz”, 26. 4. 2023
Vorabdruck in der Frankfurter Rundschau: https://www.fr.de/panorama/helmut-ortner-kann-vergangenheit-verjaehren-91443557.html
Helmut Ortner im Interview bei Faust Kultur
“Helmut Ortners Sammlung (…) ist (…) immer wieder erschütternd. Die Zusammenschau der Ungerechtigkeiten und Kontinuitäten zeigt ein katastrophales Bild der deutschen Geschichte und insbesondere der deutschen Rechtsprechung.” – Koreander – der Bücherblog
Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag.
Die furchtbaren Juristen, die du aufzählst kenne ich noch aus meinem Studium. Im Keller des Juristischen Seminars in Heidelberg gab es einen „Giftschrank“. Da bewahrte man die Kommentare zu den Rassegesetzen und so ein Zeug auf. Ich finde es schade, dass der Autor keine Täterinnen mit aufgenommen hat. Die gab‘s ja auch.
Lieber Rolf, natürlich gab es auch Täterinnen, diese werden auch im Buch erwähnt. Aber warum Männer das immer so dezidiert erwähnen müssen, ist mir irgendwie ein Rätsel (Ironie)
Danke Birgit,
das war, ist und liest sich bitter,
zumal in dieser bitteren Zeit.
Gute Wünsche und
herzliche Grüße
Bernd
Lieber Bernd, ja, dieses viel zitierte “Nie wieder” hat – die ukrainischen Politiker sprechen dies zu Recht kritisch an – auch in dieser Hinsicht einen fahlen Beigeschmack… Viele Grüße Birgit