Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand

„Die Dame mit der bemalten Hand“ ist ein wunderbar feinsinniges Buch über die Begegnung zweier Menschen, zweier Kulturen und über die Kraft des Erzählens.

Wunnicke
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Niebuhr blickte die Sterne an. Er spreizte die Finger der Rechten und blickte auch diese an und dann Meister Musa. Seine Gereiztheit schien verflogen. Etwas wie Kummer schlich sich in seine Miene. Er ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Dann formulierte er mit Sorgfalt: »Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder.«

Christine Wunnicke, »Die Dame mit der bemalten Hand«


Es muss wohl schon eine gehörige Portion norddeutscher Hartnäckig- und Dickköpfigkeit dazu gehören, um als einziger Teilnehmer eine lange, gefährliche Expedition zu überstehen. 1761 begibt sich der Mathematiker Carsten Niebuhr mit fünf weiteren Forschern im Auftrag des dänischen Königs auf eine Arabienreise, er wird sechs Jahre später als Einziger zurückkehren, das Gepäck voller Karten und Aufzeichnungen, den Kopf voll mit Eindrücken und einem anderen, respektvolleren Blick auf den Orient, als es zu jener Zeit üblich war.

Doch erzählt die Münchner Schriftstellerin mit Hang zu historischen Stoffen keine Heldengeschichte: Der Leser lernt Niebuhr als schüchternen, bäuerischen Studenten in Göttingen kennen und als sterbenskranken Forschungsreisenden, der auf einer Insel gestrandet ist:

»Carsten Niebuhr wollte nicht auf Elephanta sterben. Der Irrwitz seines Lebens sollte nicht mit einem Sterbeort gekrönt sein, der noch irrwitziger war als alles zuvor. Er wollte nicht, dass eine Insel namens Elephanta, worauf noch nie ein Elefant seinen Fuß gesetzt hatte, bei dem Kreuz hinter seinem Namen verzeichnet würde, nicht in den dänischen Akten und nicht in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen.«

Soweit kommt es nicht, dank der Anwesenheit eines anderen Mathematikers und Astronomen, der ebenfalls auf dieser seltsamen Insel gelandet ist: Ustad Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasin ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri, kurz Musa genannt. Der Perser, der eigentlich nach Mekka wollte, pflegt den jüngeren Mann, der an Sumpffieber leidet, hält ihn mit Nahrung und wie in Tausendundeiner Nacht mit Geschichten am Leben.  Der Leser bleibt dabei wie Carsten Niebuhr im Ungewissen: Was ist Dichtung, was ist Wahrheit, wann lügt Musa »wie gestempelt«?

Die Macht der Phantasie

Musa, der temperamentvollere Ältere, weiß um die Kraft von Geschichten, weiß um die Macht der Phantasie, die erklären kann, was nicht erklärbar ist – und ein wenig von dieser Offenheit nimmt der spröde Niebuhr, der jede Erzählung seines Gegenübers zunächst nach ihrem Wahrheitsgehalt abklopft, am Ende vielleicht von der Insel mit und der „fusselige, hellbraune“ Europäer wirkt in Musas und unseren Augen etwas weniger streng. Die beiden Männer werden am Ende von einigen britischen Seeleuten aus ihrer misslichen Lage befreit. Hier entfaltet Christine Wunnicke ihren leisen, trockenen Humor noch vollends, beispielsweise darin, wie sie die scheinbare koloniale Überlegenheit, die die Briten gegenüber dem weitaus gebildeteren Musa zeigen, entblättert und in ihr Gegenteil verkehrt.

»Die Forscher, der junge Deutsche und der alte Inder, werden durch ihre Begeisterung für Sternenbilder, für Mathematik, für das Messen und Rechnen, durch ihren Entdeckergeist miteinander verbunden und entwickeln sich zu geistig ebenbürtigen Partnern. Erst der Blick der Engländer, die auf die Insel kommen, lässt die unterschiedlichen Verhaltensweisen und Zugehörigkeiten der beiden Männer transparent werden. In dem Moment wird der Leser mit dem kolonialen Blick auf die Fremde konfrontiert und merkt, wie eingeschränkt und wenig ergiebig dieser ist. Im Medium der Literatur werden der Gesellschaft am Beispiel von Erzählungen differente Deutungen des Vergangenen zur Diskussion gestellt. Die Geschichte westlicher Dominanz dekonstruiert sich in diesem Blick selbst, so benötigt die Autorin keine Anklage oder Buße mehr«, bemerkt dazu Monika Wolting in ihrer Besprechung bei literaturkritik.de.

„Die Dame mit der bemalten Hand“ ist ein wunderbar feinsinniges Buch über die Begegnung zweier Menschen, zweier Kulturen und über die Kraft des Erzählens. Und bei einem bin ich mir sicher: Würde Haddschi Musa al-Lahuri »Die Dame mit der bemalten Hand« lesen, wäre sein Urteil sicher nicht: »Und dies ist das dümmste Buch von allen«.


Informationen zum Buch:

Christine Wunnicke
Die Dame mit der bemalten Hand
Berenberg Verlag, 2020
168 Seiten, Halbleinen, fadengeheftet, auch als E-Book erhältlich, 22,00 Euro
ISBN 978-3-946334-76-7

Weitere Blogbesprechungen bei Hauke Harder vom Leseschatz und Marius Müller von der Buch-Haltung.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

7 Gedanken zu „Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand“

    1. Liebe Maren, ja, für Dich könnte das was sein. Vielleicht führt Dich nach Covid ja auch einmal eine Reise zur Insel Elephanta …Liebe Grüße, Birgit

      1. Da sagst du was, liebe Birgit. Das Reisen fehlt mir schon sehr. Zumal ich verletzungsbedingt bereits im vergangenen Jahr nur „kleine Brötchen gebacken“ habe. Nun, es kommen auch wieder andere Zeiten… Herzliche Grüße nach Augsburg!

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