Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde

Veronika Eckl bewundert die Kunstfertigkeit von Jhumpa Lahiri und begleitet deren Protagonistin bei ihren Streifzügen durch Rom.

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Bild von Tasos Lekkas auf Pixabay

EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Wenige Schriftsteller schlagen in ihrem Leben solch geographische Kapriolen. Jhumpa Lahiris Weg ging so: Geboren in London als Tochter bengalischer Immigranten, aufgewachsen in Rhode Island, Creative Writing-Studium in Boston. Dann aber, als späte Folge einer prägenden, frühen Reise nach Florenz: Umzug mit Mann und Kindern nach Rom. Als ob ihr Indien und die USA, das Bengalische und das Englische, nicht genügt hätten. Ausschlaggebend für den Beginn eines neuen Leben in Italien waren allerdings nicht Kunstschätze, Mittelmeer und Cappuccino, sondern, so hat es Jhumpa Lahiri oft und gern erklärt, ein colpo di fulmine, eine Art Liebe auf den ersten Blick, und zwar die zur italienischen Sprache. So groß ist diese Liebe, dass Lahiri nach nur vier Jahren in Rom auch gleich einen Roman auf Italienisch schrieb, der nun wiederum ins Deutsche übersetzt wurde: Dove mi trovo, Wo ich mich finde, eine Doppeldeutigkeit ist hier sicher gewollt, denn man könnte auch übersetzen: Wo ich mich befinde.

Trägerin des Pulitzer-Preises

Das alles ist umso erstaunlicher, als Lahiri Pulitzer-Preisträgerin ist, deren Erzählungen und Romane sich bisher hauptsächlich um indische Einwanderer in den USA drehten: Melancholie der Ankunft war der Titel ihres Debüts, einer Sammlung Kurzgeschichten mit einem ganz eigenen, starken Sog. Romane wie Der Namensvetter und Tiefland folgten. Nun aber geht es auf die Straßen und Piazze einer namenlos bleibenden Stadt, die jedoch unschwer als Rom zu erkennen ist. Und die Heldin ist eine Römerin Mitte Vierzig, die an der Uni arbeitet und ohne Mann und Kinder ihrer Wege geht. Mehr Abkehr von Lahiris Familiensagas könnte nicht sein.

Die Autorin bürdet ihrer Protagonistin eine schwere Bürde auf: Die Tatsache, dass diese Frau alleinstehend ist, scheint ihr ganzes Leben zu bestimmen. Während die anderen mit überquellenden Einkaufswägen durch die Supermärkte hasten, ihre mehr oder weniger anstrengenden Kinder bespaßen und zum Geburtstag der Schwiegermutter eilen, streift sie als Beobachterin durch die Stadt, eine Flaneurin mit Blick für die Details. Sie geht ins Museum, ins Schwimmbad, in die Trattoria, in die Buchhandlung. Sieht sich die Menschen, denen sie begegnet, gut an und denkt über sie und ihre Schicksale nach. Nimmt wahr, wie unterschiedlich die Stadt zu verschiedenen Jahreszeiten ist. Und: Sie ist eine Chronistin der Veränderungen, die diese erleiden muss. Mit Hingabe und Präzision beschreibt Lahiri etwa einen alten, von einer Familie geführten Schreibwarenladen, der eines Tages einem Geschäft mit billigen Koffern für Touristen weichen muss. Besser kann man nicht zeigen, was sich in vielen europäischen Metropolen derzeit abspielt.

Einzelgängertum als Lebensweise

Allerdings lässt Lahiri ihre Protagonistin diese Freiheit, zu gehen und zu schauen, nicht genießen. Obwohl die Römerin sich offensichtlich nie eine Familie gewünscht hat und selbstbestimmt lebt, liegt ein Schatten über ihren Wegen, nicht nur dann, wenn sie ihre alte Mutter besucht: „Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden. Es ist eine eigene Disziplin. Ich versuche, mich in ihr zu perfektionieren, und doch leide ich darunter“, erklärt sie freimütig. Immer scheint das Leben der Anderen irgendwie spannender zu sein: Sie sind ständig auf Achse, spielen mit ihren Kindern im Meer, haben im Zug den besseren Proviant dabei und die interessanten Männer – die sich dann doch oft als gar nicht so interessant entpuppen – sind sowieso immer verheiratet. Irgendwann möchte man die Signora, die doch feinfühlig, empathisch, an allem interessiert und offenbar auch bei anderen beliebt ist, geradezu schütteln und ihr zurufen, sie solle einfach mal leben, statt sich über Sandwiches ohne Geschmack und verunglückte Mäuse im Landhaus der Freundin zu grämen. Immerhin wird ihr am Ende noch eine Veränderung gegönnt, doch den Leser beschleicht das Gefühl, dass sich in diesem Leben trotzdem nicht mehr viel wenden wird.

Bei aller Achtung für die Beobachtungsgabe dieser Autorin, für die Kunstfertigkeit, mit der diese kleinen Kapitel verfasst sind, für diese ungemeine Leistung, in einer anderen Sprache als der Muttersprache, in einem anspruchsvollen Italienisch einen Roman zu schreiben, sich in einem anderen Idiom neu zu erfinden – ein bisschen bedauerlich ist es trotzdem, dass nicht einmal Frauen anno 2020 anderen Frauen die Möglichkeit zugestehen, alleine zu leben und dabei mehr als nur einigermaßen zufrieden zu sein.

Informationen zum Buch:

Jhumpa Lahiri
Wo ich mich finde
Aus dem Italienischen von Margit Knapp
Rowohlt Verlag, 2020
ISBN 978-3-498-00110-0

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

8 Gedanken zu „Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde“

  1. Das klingt sehr spannend für mich, weil ich nicht nur Rom, sondern vor allem einsame lange Stadtspaziergänge liebe. Und unterschiedliche Lebensperspektiven tun doch auch immer gut. Toll, was Du alles findest!

  2. Mir war etwas langweilig mit dieser Frau durch Rom zu streifen….habs nicht beendet aber weitergegeben ….liebe Grüße

  3. Ich habe ‚Interpreter of Maladies‘ zufällig in 2006 einem kleinen Buchladen in Indien auf Englisch gefunden und hatte damals noch keinerlei Ahnung wer diese Autorin ist. Doch nun kenne ich sie schon seit Jahren und liebe ihre Art zu Erzählen. Ein sehr schöner Beitrag.
    Vielleicht treffen sich ja unsere Geschmäcker, ich blogge ebenso wöchentlich zu Büchern und Filmen..
    Alles Gute!

  4. Wie gut, dass ich mich von diesem merkwürdigen letzten Satz nicht habe abschrecken lassen. Denn ich bin gänzlich anderer Meinung. Die wunderbare Protagonistin leidet keineswegs. Sie reflektiert und lässt Trauer und ihre Melancholie zu. Meiner Meinung nach ist das genau etwas, was sie auch für ihr Schreiben nutzt. Sie ist nah an sich selbst und damit nah an der Quelle.

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