Ulrich Becher: New Yorker Novellen

In Österreich gilt der Berliner, der in Basel starb, als Klassiker, in Deutschland behielt er viel zu lange den Status des „Geheimtipps“. Ulrich Becher, ein Autor mit einem besonderen Blick auf die Kapriolen der Zeit.

Bild von David Mark auf Pixabay

„Doch er war frei von jedwedem Gruppenhaß. Indes ein Deutscher. Und akkurat dieser auf der Altleutebank hockende Deutsche, fürchtete der Doktor dumpf in schlafarmen Nächten, werde vor das Tribunal gezogen werden wegen der namenlosen Untaten der deutschen Schreckensherrscher …
Ja, er hatte heimliche Sorgen, der erfolgreiche Seelenwart der Park Avenue. Nicht war er ohne Liebe. Doch konnte sie nicht als Triebkraft seines Daseins gelten. Diese Triebkraft, die ihn hatte vom Schlachtfeld des Ersten Kriegs in die Schweiz fliehen, zum Pazifisten werden, aus dem Dritten Reich fliehen, zum Hitlergegner werden lassen, dieser Motor, der ihm nimmer erlahmte, trag einen knapperen Namen:
Angst.“

Ulrich Becher, „New Yorker Novellen“

Alle paar Jahre wird sein Magnum Opus, der 1969 erschienene Roman „Murmeljagd“, wiederentdeckt und gefeiert (verdientermaßen), als sei diese literarische tour de force durch die Schweizer Berge ein aufsehenerregendes Debüt. Dabei wäre es mehr als überfällig, Ulrich Becher (1910 – 1990) gleichrangig mit anderen Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu nennen und den Blick auf sein gesamtes Werk zu öffnen.

Wie Markus Bauer 2012 in „Der Tagesspiegel“ erwähnte, war der Berliner zu Lebzeiten in Österreich bereits ein Klassiker:

„Nach der Flucht von dem havarierenden Kontinent Europa nach Brasilien hatte der Exilant in den USA mit dem Piscator-Schauspieler Peter Preses das Stück „Der Bockerer“ über die Wurzeln des Faschismus in Österreich geschrieben, ein unübertroffenes, vielleicht nur noch vom „Herrn Karl“ seines engen Freundes Helmut Qualtinger sekundiertes Spiegelbild des Verhaltens der Alpenländler im Faschismus.“

Der Schöffling Verlag hat nun dankeswerterweise nicht nur die „Murmeljagd“ wieder aufgelegt, sondern auch die drei „New Yorker Novellen“, die zwanzig Jahre zuvor erschienen waren. Becher, den die Flucht vor den Nationalsozialisten durch etliche europäische Länder, schließlich nach Brasilien und 1944 an den Big Apple getrieben hatte, konnte diese Impressionen der New Yorker Zeit erst in deutscher Sprache veröffentlichen.

Schwarzhumoriger Humor erinnert an Mentor George Grosz

Drei Novellen, die das Fremdsein und Fremdbleiben, das Unbehauste der Vertriebenen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise beschreiben. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Diesen schwarzhumorigen Unterton, die beinahe groteske Verzerrung mancher Situationen, die nicht von ungefähr an George Grosz erinnern: Ulrich Becher, eine Doppelbegabung als Schreibender und Malender, war Schüler und Freund des großen Künstlers.

Doch trotz der Lust am Sprachwitz und ungeheurer Kapriolen – allein, wie aus dem schmächtigen Flüchtling Hans Heinz Nachtigall der wohlsituierte und erfolgreiche Psychoanalytiker John Henry Nightingale wird, zeugt von der Spielfreude des Autors – sind die Erzählungen auch geprägt von einem düsteren Setting: Der in den USA aufgestiegene Nightingale, der es nicht wagt, seinen betagten Vater in Deutschland, den er allein zurückließ, aufzusuchen, der arme jüdische Exilant, der in der Erzählung „Der schwarze Tod“ von seinen Erinnerungen an das Konzentrationslager Dachau eingeholt wird, der amerikanische Soldat, traumatisiert von den Kriegserlebnissen, der in „Die Frau und der Tod“ durch das nächtliche New York streift, einer ebenso betörenden und verstörten Frau auf der Spur.

Im Deutschland der Nachkriegszeit ein umstrittener Autor

Als diese New Yorker Novellen im Nachkriegsdeutschland erschienen, waren sie nicht unumstritten: Ausgerechnet dem Exilautor, der mit seinem Witz eben niemanden verschonte, soll „antisemitische Propaganda“ unterstellt worden sein, andere hielten ihn für einen unverbesserlichen Kommunisten. Es ist zu hoffen, dass Ulrich Becher, so wie es Moritz Wagner, Herausgeber der „New Yorker Novellen“ es in seinem Nachwort andeutet, auch eine Lebenseinstellung hatte, die er in seinen Werken immer wieder durchblicken lässt: Das Komische als Überlebenshilfe, kein „Lamento-Boy“ sein.

Schon alleine wegen dieser literarischen Herangehensweise, dieser satirisch-grotesken Betrachtung der Welt, aber auch wegen seiner Fabulierlust, den fast schon barocken Sprachspielereien, lohnt es sich, Ulrich Becher immer wieder und wieder zu lesen.

Informationen zum Buch:

Ulrich Becher
New Yorker Novellen
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Moritz Wagner
Schöffling Verlag, 2020
408 Seiten, Gebunden,  Lesebändchen, € 24,00 €[A] 24,70
Auch als E-Book erhältlich
ISBN: 978-3-89561-453-8

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

6 Gedanken zu „Ulrich Becher: New Yorker Novellen“

  1. Liebe Birgit,
    da hast du mir ja wieder mit deiner nachdrücklichen Empfehlung einen Buchwunsch auf die Leseliste gesetzt! Ich habe ja schon im Katalog mit den Novellen geliebäugelt, aber jetzt gibt es ja keine kluge Ausrede mehr.
    Viele Grüße, Claudia

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