Sina Kamala Kaufmann: Helle Materie

Sina Kamala Kaufmann wirft einen kritischen, analytischen Blick auf unsere Gegenwart und spinnt sie weiter: Ironisch, dystopisch, einfach nah-phantastisch.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

„Timo sprach nicht mehr über seine Wut. Grundsätzliche Konsumkritik ist ein Killerthema. Jeder stimmte zu, zumindest mehr oder weniger, und weiter – weiter durfte man nicht denken. Zweifeln brachte die Lebensroutine in Bedrängnis. Solche Themen sparte man in seinem Freundeskreis mittlerweile aus, sprach konstruktiv über Naheliegendes. Lieber weiter so, keiner war mehr jung genug, alle relevanten Lebensentscheidungen waren bereits getroffen. Reflexion führt ins Ungewisse. Lieber blieben sie an der Oberfläche, an derselben Oberfläche, die sie selbst weiterhin so gerne zynisch kommentierten. Das Risiko, zu weit zu denken, die Anschlussfähigkeit zu sich, zur eigenen Timeline zu verlieren, war zu groß. Er hatte sich damit abgefunden, selbst keine Konsequenz leben zu können.“

Sina Kamala Kaufmann, „Helle Materie“


Vielleicht wäre es um unsere Zukunft nicht allzu schlecht bestellt, hätten wir mehr Schriftstellerinnen vom Schlage einer Sina Kamala Kaufmann. Schriftstellerinnen, die politisches Engagement und literarisches Talent verbinden. Und zudem noch die Fähigkeit besitzen, ihren Erzählungen auch einen Unterstrich von Chuzpe und Schalkhaftigkeit zu geben.

Mit ihrem Erzählband „Helle Materie“, betrat die politische Aktivistin, die auch Herausgeberin der deutschen Ausgabe des Extinction-Rebellion-Handbuchs ist, erstmals literarisches Terrain – und erregte damit ordentliches Aufsehen. Tatsächlich sind diese „nahphantastischen“ Stories, fast schon Sittenbilder unserer heutigen Generation, etwas Besonderes und Neues, wenn man auf die sonstigen angesagten literarischen Themen und Trends schaut.

Utopien ohne Haftungsgarantie

Sina Kamala Kaufmann wirft einen kritischen, analytischen Blick auf unsere Gegenwart und unsere Seinszustände und spinnt sie weiter – mal ironisch, mal düster-dystopisch, mal auch mit konkreten Praxisvorschlägen für die kommende Welt. Utopien ohne Haftungsgarantie. Die jedoch dazu anregen, aus der eigenen Komfortzone zu kommen, sich die „Was wäre wenn?“-Frage selbst zu stellen.

Schon die erste Erzählung dieses Debütbandes zeigt die Richtung auf, in die es geht: In „Nochmal, nochmal“ besichtigt eine Besucherin die entleerten Facebook-Hallen, zieht Vergleiche zum Beginn der Industrialisierung.

„Damals. Noch ein wenig Mysterium umgab dieses mächtige Start-up aus der Hippie-Stadt. Das Internet war noch nicht ganz entzaubert.“

Der Zeitrahmen ist somit gesetzt, wir befinden uns in der nahen Zukunft. In einer Zukunft, in der „die Stöckelquote“ eingeführt wird – Männer müssen Frauenkleidung tragen, weil einfach immer noch nicht genügend Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten zu finden sind -, in der bei Studenten der „N-Faktor“ gemessen wird, deren Anfälligkeit für narzisstisches Verhalten also, um zum Wohle ihrer Umgebung entsprechend frühzeitig therapiert zu werden, in denen es Anti-Prokrastinationsgruppen und Urschlamm-Kuren gibt, damit ein jeder sich möglichst selbst optimiere.

Verstörende Zukunftsszenarien

Was in den seltensten Fällen gelingt. Denn da sind die Zweifler wie Timo aus „Eine Kleidergeschichte“ oder Paul aus „Produktivität“:

„Und da war er wieder, hilf- und hoffnungsloser als je zuvor. So leer, wie man nur sein konnte, wenn man berücksichtigte, wo er lebte. Wohlwissend, er sollte glücklich sein, schlicht glücklich, dass er auf der sonnigen Seite der Zivilisation, der Erde geboren worden war. Sein Pass allein war Grund genug, vor Sonnenaufgang mit dem Tanzen zu beginnen und nicht aufzuhören. Er sollte aufhören, sich Sorgen zu machen, diese offensichtliche Dummheit, die Unterdrückungen, Manipulationen, all diese kleinen Details, die schiefliefen zur Zeit und die ihm riesengroß erschienen.“

Dass auch Sina Kamala Kaufmann eine ist, die sich Sorgen macht über die Blauäugigkeit, mit wir uns alle in Konsum- und Verhaltenszwänge begeben, ist offensichtlich (man lese dazu nur die Story „Opt-In Slavery“). Aber im Gegensatz zu manchem Kulturpessimisten wie ein Jonathan Franzen warnt sie weder mit erhobenem Zeigefinger noch bettet sie sich in bequemer kompletter Ablehnung aller neuzeitlichen Entwicklungen ein. Vielmehr spinnt sie mit viel Einfallsreichtum Zukunftsszenarien, die verstören, nachdenklich machen, vor allem aber dazu anregen, die Zukunft mitzugestalten: Future nicht nur für Sonntagsleser.

„Helle Materie“ ist so auch eins: Ein helles Lesevergnügen.


Informationen zum Buch:

Sina Kamala Kaufmann
Helle Materie
Mikrotext Verlag, 2019
Taschenbuch, 176 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-944543-74-1
E-Book, 6,99 Euro
ISBN 978-3-944543-71-0

Weitere Besprechungen:
In Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen Aktuelle Rezensionen auf dem Literaturblog

2 Gedanken zu „Sina Kamala Kaufmann: Helle Materie“

    1. Lieber Bernd,
      den Blick habe ich gerne gelenkt auf die helle Materie, die auch die dunklen Seiten nicht ausspart. Herzliche Grüße, Birgit

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