Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter

Der Struwwelpeter war kaum erschienen, schon war er umstritten. Und während Erwachsene bis heute diskutieren, lesen Kinder es weiterhin.

“Konrad!“ sprach die Frau Mama, „ich geh aus und du bleibst da. Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach Haus ich wieder komm.“

Der Struwwelpeter war kaum erschienen, schon war er umstritten: „Jämmerliches Machwerk“, „Schmutzliteratur“, „albernes Buch“, lauteten die harschen Urteile. Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann jedoch blieb stur. Er hatte das ganze Buch für seinen Sohn getextet und gemalt und bedingte sich bei der Drucklegung aus, dass – obwohl er selbst auch eingestand, dass manches „dilettantisch“ sei – das Buch unverändert blieb.

Erschreckte es bei seinem Erscheinen 1845 vor allem die Schöngeister, die im Buch Stellen des „Gemeinen und Ekelhaften“ zu finden meinten, war es in den 1970er Jahren (und eigentlich noch bis heute) umstritten aufgrund seiner „schwarzen Pädagogik“: Zu schlimmes Unheil drohe hier unwillfährigen Kindern.

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Bildquelle: Wikimedia/Struwwelpeter-Museum Frankfurt

Dies ist die Ebene, auf der Erwachsene über Kinderbücher diskutieren. Welches Kind aber glaubt im Ernst, dass beim Daumenlutschen der Schneider mit der Riesenschere um die Ecke lauert? Oder auf Suppenverweigerung binnen sieben Tagen der Hungertod folgt? Und ging es überhaupt darum, Kinder einzuschüchtern und zu ängstigen mit diesem Buch?

Maria Beig und Bruno Bettelheim über das Kinderbuch

Die Schriftstellerin Maria Beig schildert ihre Leseerfahrung so: Sie war nicht wegen der Grausamkeiten, sondern hauptsächlich deswegen empört, weil die Eltern Paulinchen alleine zuhause ließen und der Suppenkasper nicht einmal ein Butterbrot bekam. Eine Spontanumfrage im Bekanntenkreis ergab: Alle Eltern machen sich Gedanken, ob der „Struwwelpeter“ für ihre Kinder zumutbar ist – und die meisten Kinder wollen ihn trotzdem lesen. Die Eltern sind meist auch gestruwwelpeterisiert – und keiner kann sich an Alpträume erinnern. Es kommt auf die Familie an: Wer das Vertrauen haben kann, dass die Struwweleien in erster Linie Geschichten sind, der kann diese Geschichten auch genießen.

Bruno Bettelheim („Kinder brauchen Märchen“) vertrat sogar die These, dass solche Struwweligkeiten helfen könnten, Kindern ihre schwache Seite zu zeigen: Ihren Jähzorn, ihre Aggressivität, deren Auswirkungen auf andere sie so kennenlernen. Das scheint mir zwar etwas an den pädagogischen Struwwelhaaren herbeigezogen, aber wer weiß – vielleicht können die Erzählungen doch eine Anregung sein, sich über die Voraussetzungen des Miteinanders zu unterhalten.

Die Figuren – Hans-Guck-in-die-Luft und Zappel-Philipp – haben jedenfalls bislang noch jede Zeitkritik überstanden, der Struwwelpeter ist nach wie vor ein Klassiker: Irgendwie scheint er doch mitten in die kindliche Seele zu treffen. Verleger und Schriftsteller Michael Krüger sagt dazu, was Kinder von Büchern wollen:
„Es muss komisch sein. Es muss spannend sein. Und es muss eine ganz tolle Geschichte erzählt werden. Man kann also nicht gerade mit Becketts Romanen Kinder erfreuen“.

Robert Gernhardt und sein fliegender Robert

Auch zum Struwwelpeter hatte Robert Gernhardt, der große Satiriker, eine ganz eigene Sichtweise:
Ich halte übrigens beide Bücher (gemeint ist auch Max und Moritz) für hervorragend, unabhängig von den schrecklichen Ausgängen: Die Verfasser arbeiten mit Witz und Pointen, und möglicherweise haben sie in ihrer gnadenlosen Sichtweise ja sogar recht: Möglicherweise endet jeder Versuch, sich dem System zu widersetzen letal bzw. blutig, doch es sind immer offene Wunden; während jene Wunden, die durch die Anpassung geschlagen werden, unsichtbar sind und bleiben.“

Und manchmal gibt es bei Heinrich Hoffmann ja auch noch ein winziges Türchen für die Subversion – sei es in der Geschichte vom Hasen und Jäger oder vom fliegenden Robert: Einfach Wegschweben ist manchmal die beste Lösung.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

18 Gedanken zu „Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter“

  1. Auch ich bin mit Max und Moritz und dem Struwelpeter aufgewachsen, Birgit. Ich glaube, meine Eltern haben sich nicht die tiefen erzieerischen Gedanken darüber gemacht.
    Über Max und Moritz amüsiere ich mich immernoch und sehe die beiden mit der Angel am Schornstein stehen und die Hühner der Witwe Bolte klauen.
    Bin ich dadurch gechädigt? Ich glaube nicht. Ich glaube, Aschenputtel hat mich mehr geschädigt, wie lange dachte ich, ein Mädchen muß sittsam, still, bescheiden und hübsch und (!) eine gute Putzfrau sein. Ein Glück hat sich in der Hinseit mein Weltbild korrigiert.
    Liebe Grüße von Susanne

    1. Diese Bücher waren bei uns auch zuhaus, wohl noch von den Eltern selbst, und damals hat man nicht so sehr über den Schaden, den sie womöglich anrichten könnten, nachgedacht. Also, ich habe davon auch kein Trauma bekommen – und eher auch von den Grimmschen Märchen viel Schreckliches in Erinnerung (Schneewittchen!) Liebe Grüße Birgit

      1. Ja, Birgit, das stimmt. Ich fand Hänsel und Gretel im nachhinein weniger schlimm als Aschenputtel. Aber ich glaube, dass ist individuell ganz verschieden. Eine Psychologin sagte mir vor einiger Zeit, dass Märchen für Kinder sehr wichtig sind, da es ein richtig Böse und ein richtig Gut gibt.
        Liebe Grüße von Susanne

      2. Liebe Susanne, sicher erfüllen sie einen pädagogischen Zweck, aber bei vielen alten Märchen ist es halt schon sehr mit Schuld und Sühne verbunden und mit dem Gedanken der Bestrafung … da gibt es sicher noch bessere Märchen aus der neueren Zeit. Dennoch wäre ich auch dagegen, die Klassiker jetzt alle politisch korrekt umzuschreiben – man muss sie den Kindern halt entsprechend vermitteln.

  2. Meine Oma schenkte mir als Kind eine Ausgabe des „Struwelpeters“.
    Nach der Betrachtung der Bilder bekam ich furchtbare Albträume und bat meine Mutter dieses Buch zu entfernen.
    Märchen hingegen (Grimm, Andersen & Co) mochte ich stets gerne und diese ängstigten mich nur maßvoll und gelegentlich. Meine Kindheits-Märchenbücher besitze ich noch heute. 🙂

  3. Liebe Birgit,
    ich danke dir für diesen spannenden und informativen Beitrag! Dein Satz „Dies ist die Ebene, auf der Erwachsene über Kinderbücher diskutieren“ bringt diese ewigen Debatten gut auf den Punkt.

    Auch ich bin mit dem Struwwelpeter aufgewachsen, ebenso mit Max und Moritz und den ungeschönten Märchen von den Grimms und Andersen. Mir haben diese Geschichten damals nie Angst gemacht und ich habe sie geliebt. Auch Kinder können zu einem gewissen Grad abstrahieren und erkennen, was real/ realistisch ist. Gerade bei gesprochenen/ gelesenen Geschichten ist das oftmals kein Problem. Schwierig wird es meist erst bei Bewegtbildern, weil hier zusätzlich zum eigentlichen Inhalt auch das Mehr an Reizen fordert und beschäftigt. Und tatsächlich ist das, was Kinder ängstigt, etwas, dass sie tagtäglich mitbekommen: die Nachrichten. Hier gibt es kein Happy End, generell keine Auflösung, die Kinder wissen hier, dass all das wirklich passiert und im Gegensatz zu Büchern oder Filmen sprechen die Eltern oftmals nicht mit ihren Kindern über das, was dort zu sehen/ zu hören war.

    Liebe Grüße
    Kathrin

    1. Liebe Kathrin, herzlichen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Ja, ich denke auch, dass man die Abstraktionsfähigkeit von Kindern nicht unterschätzen sollte. Wenn ich in mich gehe, was mir wirklich als Kind Angst machte, so waren es nicht die Märchen, sondern die Sendungen von Aktenzeichen XY. Weil das eben Realität war.
      Liebe Grüße, Birgit

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