William Melvin Kelley: Ein anderer Takt

Der Debütroman „Ein anderer Takt“ erschien bereits 1962. Die Wiederentdeckung des Buches kommt in einer rassistisch geprägten Trump-Ära zur rechten Zeit.

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Bild von Oberholster Venita auf Pixabay

„Hör zu, Harold“, sagte er und suchte nach Worten, die sogar ihm selbst eigenartig vorkamen. Er wusste nicht genau, warum er sich fühlte, wie er sich fühlte, spürte aber, dass es irgendwie richtig war, diese Gefühle zu haben und seinem Sohn davon zu erzählen. „Eines Tages, wenn du so alt bist wie ich jetzt, ist das Leben vielleicht nicht mehr so, wie es jetzt ist, und darauf musst du vorbereitet sein, verstehst du? Wenn du dann so bist wie einige meiner Freunde, wirst du mit allen möglichen Leuten nicht auskommen können. Verstehst du?“

William Melvin Kelley, „Ein anderer Takt“


Was der gutmütige Farmer Harry seinem Sohn da im Jahr 1957 etwas verklausuliert mitteilen will, ist seine Ahnung davon, dass die von Weißen errichteten Rassenschranken in den Südstaaten der USA nicht in alle Ewigkeit Bestand haben werden. Dass sie, auch das denkt sich Harry, verschweigt es jedoch wohlweislich vor Freunden und Nachbarn, widernatürlich sind. Und es eines Tages selbstverständlich sein wird, dass Freundschaft, Solidarität, auch Liebe keine Rassengrenzen mehr kennt.

Dass die Nachfahren der afrikanischen Sklaven jedoch Menschen zweiter Klasse sind, ohne Rechte und Ansprüche, unter sich lebend, lediglich geduldet ihrer Arbeitskraft wegen, das ist in diesen Tagen in den Südstaaten einfach Gesetz. Da geschieht in einem fiktiven Bundesstaat irgendwo im Süden der USA, den William Melvin Kelley für seinen Debütroman erfand, etwas Ungeheuerliches. Es beginnt mit der scheinbaren Wahnsinnstat des bis dahin unscheinbaren Tucker Caliban. Tucker, Nachfahre eines sagenumwobenen Sklaven (der spektakulär im Widerstand gegen seine Gefangennahme starb), probt den Aufstand auf seine Art: Er versalzt seine Felder, tötet sein Vieh, fackelt seine Hütte ab, packt seine Frau und geht. Geht ganz einfach. Und seinem Beispiel folgt, ruhig, leise, geordnet, die komplette schwarze Bevölkerung des fiktiven Staates. Einem Exodus gleich ziehen sie mit ihren Familien und dem wenigen Hab und Gut innerhalb weniger Tage fort, Richtung Norden.

Aus der Perspektive weißer Männer

In seinem raffiniert konstruierten Roman lässt William Melvin Kelley diese ungeheurere Begebenheit aus den Augen mehrerer Weißer betrachten. Nicht aus den Augen überzeugter Rassisten, diese Falle vermeidet er. Es sind die von Natur aus gutherzigen Menschen wie Harry und sein kleiner Sohn und die Aufgeklärten, wie der kommunistisch angehauchte, im Leben gescheiterte Gutsherrensohn Dewey, die aus ihrer Perspektive erzählen. Gerade durch diesen Kniff, jene zu Erzählern zu erheben, die zwischen den beiden Welten stehen, wird die alltägliche Grausamkeit des systematischen Rassismus umso deutlicher.

Dewey, der Mann mit den gescheiterten Träumen, glaubt in Tucker Caliban gar jemanden gefunden zu haben, der auch ihn befreit und kann in seinen Worten doch nicht verbergen, dass er sich insgeheim überlegen fühlt:

„Sein gestriger Akt der Entsagung war der erste Schlag gegen meine verschwendeten zwanzig Jahre – zwanzig Jahre, die ich mit Selbstmitleid vertan habe. Wer hätte gedacht, dass eine derart schlichte, primitive Tat einen so gebildeten Menschen wie mich etwas lehren kann?
Jeder, jeder kann seine Ketten abstreifen. Der nötige Mut, ganz gleich, wie tief er begraben ist, wartet nur darauf, gerufen zu werden. Es braucht nur die rechte Ermunterung, die richtige ermunternde Stimme, dann springt er hervor, brüllend wie ein Tiger.“

Weißer Mob in rasender Wut

Dass das so einfach nicht ist, das wird Dewey am eigenen Leib erfahren: Als dem weißen Mob des Städtchens bewusst wird, was es bedeutet, wenn von einem Tag auf den anderen da niemand mehr ist, der ihre Äcker pflügt, die Häuser sauber hält, die öffentlichen Gebäude pflegt, kurzum, wenn da niemand mehr ist, der das tägliche Leben in Gang hält, da schlägt die Verblüffung in rasende Wut um. Wut, die sich entladen muss – der Roman schließt mit einer grausamen Tat.

Vielleicht ist dieses Ende auch prophetisch zu interpretieren, vielleicht wollte William Melvin Kelley damit deutlich machen, dass es so einfach mit Gleichberechtigung und Emanzipation der schwarzen Bevölkerung nicht gehen wird. Dass „der weiße Mann“ immer wieder zurückschlagen wird – gerade dies macht das Buch in Zeiten der Trump-Ära bemerkenswert aktuell. Über diesen politischen Aspekt hinaus ist „Ein anderer Takt“ auch in vielerlei anderer Hinsicht eine große Empfehlung: Das Debüt eines Autoren, der es erreicht, in einem ruhigen, beinahe lakonischen Ton (wunderbar übersetzt von Dirk van Gunsteren) von einem eigentlich fantastischem Ereignis zu erzählen und dabei ganz lässig den alltäglichen, in Fleisch und Blut übergegangenen Rassismus seiner Protagonisten zu entblößen.

Ein in Vergessenheit geratener Autor

Einen eigenen Roman wert wäre das Leben und die Wiederentdeckung des Schriftstellers William Melvin Kelly (1937 – 2017). Im Grunde wollte Kelley als junger Mann Anwalt für Bürgerrechte werden, doch eine Leseschwäche, die er nie ablegen konnte, machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Im Nachwort zur deutschsprachigen Erstausgabe seines Debütromans schreibt Jessica Kelley über ihren Vater:

„Kelley, schon damals ein begabter Geschichtenerzähler, ein Talent, das er auf seine Großmutter Jessie Marin Garcia zurückführte, wechselte das Studienfach, belegte Englisch und besuchte Seminare von John Hawkes und Archibald MacLeish (…) Kelley merkte bald, dass ihm das Schreiben wichtiger als alles andere war und brach sein Studium in Harvard sechs Monate vor dem Abschluss ab. Zwei Jahre darauf, 1962, erschien sein erster Roman, A Different Drummer.“

Nach dem Mord an Malcom X. beschließt Kelley, mit seiner jungen Familie die USA zu verlassen. Erst nach Jahren wird er wieder in sein Heimatland zurückkehren. 1970 erscheint sein letzter Roman, danach veröffentlicht er zwar noch Essays und Kurzgeschichten, unterrichtet als Dozent für Kreatives Schreiben, gerät jedoch mehr und mehr in Vergessenheit im manchmal sehr kurzlebigen Literaturbetrieb.

Wiederentdeckung des Buchs bei einem Trödler

Einem Zufall ist es zu verdanken, dass sein Debütroman zunächst nach einer Neuauflage in den USA zu einer literarischen Sensation wurde und seine Romane nun wiederentdeckt werden: Die Journalistin Kathryn Schulz, deren Vorwort auch in der deutschsprachigen Ausgabe zu finden ist, stößt bei einem Trödler auf eine vergilbte Ausgabe des Buchs. Und ist sofort fasziniert von der Originalität der Geschichte und Kelleys Stil.

„Das Ende von „Ein anderer Takt“ ist pessimistisch, nicht so sehr in Bezug auf das Schicksal der Afroamerikaner als vielmehr auf das moralische Potenzial der Weißen. Und doch verdankte Kelley diesem Umstand den mächtig optimistischen Start seiner Karriere. Dies war einer der seltenen Erstlingsromane, denen zwangsläufig weitere vielversprechende Bücher folgen – und tatsächlich veröffentlichte Kelley in weniger als zehn Jahren vier weitere Romane. Doch war ich nicht die Einzige, die noch nie von ihnen gehört hatte. Nach dem furiosen Start seiner Karriere geriet Kelley schon zu Lebzeiten fast in Vergessenheit. Kein seltenes Schicksal für einen Autor. Merkwürdig an dem Kelleys ist aber, dass er heute nicht wegen der Schwächen seiner Bücher, sondern wegen ihrer unheimlichen Stärken kaum noch gelesen wird.“


Mehr Informationen zum Buch:

William Melvin Kelley
 „Ein anderer Takt“
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Hoffmann und Campe, Hamburg 2019
ISBN: 978-3-455-00626-1

Eine weitere Besprechung findet sich bei: Anna von der Buchpost

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

3 Gedanken zu „William Melvin Kelley: Ein anderer Takt“

  1. Liebe Birgit,
    mit Deinem Faible für Wiederentdeckungen legst Du wieder ein Fundstück vor.
    Vom Exodus aus einer unerträglichen, von Menschen gemachten Umgebung, der sich dann fortsetzt im Exil des Autors.
    Kürzlich hörte ich in einem Workshop über die drei Märsche der Bürgerrechtsbewegung zur Wählerregistrierung von Selma nach Montgomery, Alabama im März 1965, wenige Wochen nach dem Attentat auf Malcolm X.
    Zeit für Wiedererinnerungen. VIelen Dank und herzliche Grüße
    Bernd

  2. Liebe Birgit,
    nun lese ich auch deinen Beitrag, den ich erst nach meiner Lektüre und dem Versuch, meine Eindrücke zu ordnen, aufgerufen habe, um hinterher umso gespannter auf deine Eindrücke zu sein. Ein tolles Buch, war ich mir nach ungefähr 3/4 unsicher, ob der Roman doch irgendwie auseinanderbröselt, hat das Ende alles wieder so traumwandlerisch zusammengeführt, dass ich kaum glauben kann, wie jung der Autor war. Steckt doch so viel Menschenkenntnis darin und dazu diese Wahl der Erzählerstimmen.
    LG, Anna

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