Leonora Carrington: Das Hörrohr

Ein surrealer Roman und ein feministisches Manifest: Die Künstlerin und Autorin Leonora Carrington über weibliche Selbstbestimmung im Altersheim.

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Bild von Free-Photos auf Pixabay

„Natürlich handelt es sich dabei um eine Art von Meuterei, und wenn du von der Obrigkeit entdeckt wirst, könnten sie ihre Maschinenpistolen auf dich richten.  Ein gepanzertes Fahrzeug käme unter diesen Umständen sehr gelegen, vielleicht auch ein kleiner Panzer, obwohl es vielleicht einige Beschaffungsschwierigkeiten gäbe. Du müßtest die Armee um Hilfestellung bitten. Ich weiß nicht, ob sie Panzer ausleihen, vielleicht haben sie ein ausrangiertes Exemplar.“

Leonora Carrington, „Das Hörrohr“.

Nein, hier spricht nicht der Vertreter einer revolutionären Truppe, sondern eine feine ältere Dame. Die hochbetagte, ziemliche exzentrische Carmella schmiedet Ausbruchspläne für ihre nicht weniger hochbetagte und nicht weniger exzentrische Freundin Marian Leatherby. Diese ist in einem obskuren Altersheim namens „Bruderschaft zur Quelle des Lichts“ untergebracht, dort abgestellt von ihrem Sohn und dessen Familie. In dem Heim, geleitet von einem fragwürdigen Psychologen samt herrschsüchtiger Gattin, leben noch weitere außergewöhnliche Damen. Und an der Wand prangt das Portrait der Äbtissin Alvarez della Cueva vom Kloster der Heiligen Barbara vom Tartarus. Deren wilde Lebensgeschichte, geprägt von Orgien und schwarzer Magie, wird in die Rahmenhandlung eingebettet. Am Ende kommen solche magischen Kräfte, aber auch Mutter Natur den Damen im Altersheim zur Hilfe: Die ganze Welt erstarrt in einer Art Eiszeit, doch die kleine Truppe rund um die Greisinnen überlebt, gemeinsam mit einem kleinen Gefolge aus Ziegen, Werwölfen und Bienen.

Ein ewiger Geheimtipp

Dieser Roman der englischen Schriftstellerin und Malerin Leonora Carrington (1917 – 2011) gilt immer noch als Geheimtipp. Schade eigentlich, dass dieses wunderbar versponnene, phantasievolle Werk nicht noch mehr Leserinnen und Leser findet – ist es doch, obwohl 1976 erschienen (in deutscher Sprache 1980 in der Übersetzung von Tilman Spengler), trotz seines surrealistischen Anscheins zugleich auch höchst politisch, höchst aktuell und zeitgemäß. Jetzt, da die Welt in den Händen älterer weißer Herrschaften zum Schlechteren zu kippen droht, lohnt es sich, dieses feministische Manifest einmal mehr zu lesen. Zumal „Das Hörrohr“ zugleich auch auf das Beste zu unterhalten vermag, witzig ist und ein wenig irre.

Der Aufstand der alten Damen ist geprägt vom Wunsch weiblicher Selbstbestimmung – etwas, was auch das Leben der Autorin prägte. Eine ihrer Figuren lässt sie dieses zur Heimleiterin sagen:

„Freiheit ist zwar etwas spät in unser Leben gekommen, doch wir haben nicht die Absicht, sie wieder aufzugeben. Viele von uns haben ihr Leben mit herrschsüchtigen und griesgrämigen Ehemännern verbracht. Als wir endlich von ihnen befreit waren, wurden wir von unseren Söhnen und Töchtern herumgestoßen, die uns nicht nur nicht länger liebten, sondern uns als Bürde und als Objekte der Lächerlichkeit und der Schande betrachteten. Können Sie sich in ihren wildesten Träumen vorstellen, daß wir nun, da wir die Freiheit gekostet haben, uns durch Sie und ihren lüsternen Mann herumkommandieren lassen?“

Herumkommandieren ließ sich Leonora Carrington wohl nicht, aber lange stand die begabte Malerin im Schatten eines Mannes: 1937 lernte sie während ihres Kunststudiums in Paris den 30 Jahre älteren Max Ernst kennen, drei Jahre lebten sie als Paar zusammen. Carrington, die ab 1942 in Mexiko lebte, wurde vor allem in Europa kaum als eigenständige Künstlerin wahrgenommen – sie war „die Partnerin von Max Ernst“.

Einblick in eine Welt voller Phantasie

Dabei ist ihr bildnerisches als auch ihr literarisches Schaffen höchst eigenständig und von einer spezifischen weiblichen Sicht auf die Welt geprägt. In ihrem Roman „Das Hörrohr“ gibt sie Einblick in ihre phantastische Welt:

„Das Innere der Arche war wie der Opiumrausch eines Zigeuners. Da gab es mit wundervollen Mustern bestickte Vorhänge, Parfümzerstäuber, die wie exotische Vögel geformt waren, Lampen mit beweglichen Augen wie Gottesanbeterinnen, Samtkissen in der Gestalt riesiger Früchte und Sofas, die aus kostbaren Hölzern und Elfenbein geschnitzten hingestreckten Werwolfweibchen ruhten.“

Carrington vereinte die traumhaft-abstrakten Grundzüge des europäischen Surrealismus mit den Erzählstrukturen des magischen Realismus der Künstler Südamerikas: Das Beste aus beiden Welten, zusammengeführt in einem eigenständigen Werk, dass es zu entdecken und zu genießen gilt. Ein schönes Portrait erschien 2008 in der FAZ (leider finde ich in der Online-Ausgabe den Namen der Autorin, des Autoren nicht), das auf die Bilderwelt der Künstlerin eingeht:

„Seit 1943 lebt Leonora Carrington, mit zwei Unterbrechungen nach dem Massaker an den Studenten 1968 und nach dem schweren Erdbeben von 1985, in Mexiko-Stadt. Als ich vor einigen Jahren ihr Haus in der Colonia Roma umschlich und Leute suchte, die mir über sie etwas erzählen wollten, konnte ich mir keinen Ort vorstellen, der für sie passender gewesen wäre als dieses von Mythen durchwobene Land, in dem die Geschichten der Olmeken, Tolteken, Azteken und Maya sich fortgeschrieben haben bis in die Gegenwart. Carringtons vom irischen Katholizismus der Mutter und keltischen Ammenmärchen geprägte Mythenwelt, die sie schon in den Bildern der Surrealisten wiedererkannt hatte, muss in Mexiko fruchtbaren Boden gefunden haben. In der Distanz zum „koscheren Surrealismus“, wie sie es nennt, entwickelte sie ihre ganz eigene Metaphorik; Tiere sind nicht nur Tiere und Menschen nicht nur Menschen, sondern Mischwesen, Lebende, das eine durchdrungen vom anderen, geheimnisvoll, unheimlich und immer auch komisch.“

Informationen zum Buch:

Leonora Carrington
Das Hörrohr
Übersetzt von Tilman Spengler
Bibliothek Suhrkamp, 2019
ISBN: 978-3-518-24209-4

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

12 Gedanken zu „Leonora Carrington: Das Hörrohr“

    1. Liebe Martina,
      danke dir. Stimmt, das passt zum Frauentag – unbeabsichtigt von mir. Aber im Grunde müsste gerade wieder jeden Tag Frauentag sein – ich habe mir gestern das erste Mal „Wüstenblume“ angesehen und im Anschluss eine Dokumentation zu Frauenrechten. Es ist noch so viel zu tun…

  1. Da schau her, ich wusste gar nicht, dass Leonora Carrington auch Romane geschrieben hat! In Mexiko ist die Gute inzwischen eine Vorzeigekünstlerin, zusammen mit europäischen Surrealisten wie Remedios Varo oder Wolfgang Paalen, und schon fast neben Frida Kahlo und Diego Rivera (obwohl sie mit mexikanischer Kunst gar nichts anfangen konnte). Über die letzten Jahre war eigentlich in jeder größeren Stadt irgendwann einmal eine Freiluftausstellung ihrer beeindruckenden Plastiken zu sehen — ich habe sie erst vor gut zehn Jahren in Mexiko am Paseo de la Reforma gesehen, dann vor acht Jahren in der Innenstadt von Xalapa und zuletzt vor zwei Jahren hier in Querétaro (das war selbst ein bisschen surreal, denn die Figuren standen auf dem Grünstreifen einer viel befahrenen Straße und wenn man sie aus der Nähe sehen wollte, musste man sein Leben aufs Spiel setzen).
    Kennst du die Biografie _Die Frau des Windes_ von Elena Poniatowska? Ist auf Deutsch 2012 bei Insel erschienen. Besonders bewegend fand ich die Geschichte ihrer Flucht aus Spanien und ihr Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in Santander. Zur Frau des Windes habe hier ein paar Zeilen geschrieben: https://ausmexiko.wordpress.com/2016/05/08/ich-habe-nie-eine-melone-gemalt.
    Den Roman werde ich mir mal besorgen, den gibts hier bestimmt noch antiquarisch. (Ist der im Original eigentlich auf Spanisch oder Englisch?)

    1. Lieber Jürgen, ich habe auch den Eindruck, dass sie als Künstlerin in Mexiko weitaus bekannter ist denn in Europa.
      Danke für den Link – ich hab hier noch ein Taschenbuch von ihr liegen, das zwei Texte umfasst, in denen sie über ihre Flucht und die Psychiatrie schrieb, aber leider bin ich noch nicht dazu gekommen. Soweit ich weiß, schrieb sie auch später noch Englisch, aber auch das müsste ich noch überprüfen. Herzliche Grüße, Birgit

  2. Merci! Bei „Mexico“ fiel mir sofort Roberto Bolano ein. Ist aben Mann? Und er reiht in „2666“ Frauenmorde auf. Klar: Realitaet. Aber dazu „Das Amulett“: Frau leisyet Widerstand!

  3. Ich denke, das mit den Werwölfen und den Eiszeiten – zwei ganz verschiedenen Genres entstammend – darf man getrost stehen lassen. Ob in einem Roman oder außerhalb, wer über 90 ist (wenn ich das noch erlebe! vieleicht kann ich mich dann ja noch steigern) kommt schon mal mit den Zeitaltern und Realiäten durcheinander. Was wann in welcher Welt geschah, spielt es noch eine Rolle?
    Und überhaupt, wer braucht schon ein Hörrohr? Und Zähne?
    Mein einziger Zweifel ist an der Stelle, an der sich Portwein und Selbstermächtigung annähern. Ein ungleiches Paar möchte ich meinen, ja, sogar fast behaupten, dass ein Übermaß des einen das andere ausschließt.

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