Sebastian Barry: Tage ohne Ende

Sebastian Barry stellt einen außergewöhnlichen Helden in den Mittelpunkt seines Neo-Westerns: Einen Mann, der sich als Frau fühlt.

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Sprengt die Grenzen des Genres: „Tage ohne Ende“ ist mehr als „nur“ ein Western. Bild von Free-Photos auf Pixabay

„Als ich John Cole begegnete, war ich nichts als ne menschliche Laus; selbst böse Menschen gingen mir aus dem Weg, und die guten hatten keine Verwendung für mich. Das war mein Ausgangspunkt. Gibt Ihnen eine Vorstellung von dem Triumph, den die Begegnung mit John Cole für mich bedeutete. Zum ersten Mal fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Und damit Schluss, sag ich, mehr will ich nicht erzählen. Schweigen.
Ich erzähl`s auch nur deswegen, weil ich glaube, wenn ich`s nicht erzähle, lässt nichts sich richtig verstehen. Dass wir in der Lage waren, Gemetzel mit anzusehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Denn zunächst mal warn wir ja selber nichts.“

Sebastian Barry, „Tage ohne Ende“

Thomas McNulty ist der wohl ungewöhnlichste Held eines Westerns seit dem Mädchen Mattie in „True Grit“. Der junge Ire, der in diesem Roman seine Lebensgeschichte erzählt, flüchtet, nachdem der Hunger auf der grünen Insel seine komplette Familie hingerafft hat, nach Amerika. Doch der „Wilde Westen“ erweist sich als zwiespältiges Paradies: Brutal, grausam, eine Natur, die den Menschen an seine Grenzen bringt und Kriege, in denen über menschliche Grenzen gegangen wird. Kein Leben, wäre da nicht John Cole, den der minderjährige Thomas beim Herumstreunen trifft, ein vagabundierendes Kind wie er.

„Dann John Cole. John Cole war meine Liebe. Meine große Liebe.“

Die beiden Jungen verdingen sich zunächst als Eintänzer in Frauenkleidern in einer Bar, wohl eine gängige Lösung für den notorischen Frauenmangel in den Bergarbeiterstädten. Als sie in die Höhe schießen und die Bärte sprießen, ist es damit jedoch vorbei. Als Ausweg bleibt die Armee, jenes Sammelbecken Tausender verarmter Einwanderer. Thomas zieht zwar auch die Uniform an, doch schlüpft, wenn es die Gelegenheit zulässt, immer wieder in Frauenkleider:

„Ich fühle mich als Frau, mehr als ich mich je als Mann gefühlt habe, trotzdem ich einen Großteil meines Lebens Soldat gewesen bin. (…) Es steckt einfach in dir drin, du kannst es nicht leugnen. (…) Als Frau bin ich entspannt, als Mann bin ich verkrampft. Als Mann sind alle meine Glieder gebrochen, als Frau geheilt.“

Die Auslöschung der indianischen Ureinwohner

Das Besondere an diesem Roman ist: So unaufgeregt, so ruhig, beinahe lakonisch wie der Protagonist von seinem Familienleben erzählt – er und John Cole heiraten und nehmen als Quasi-Adoptivtochter ein Indianermädchen zu sich – so schildert er auch die Katastrophen, in die Cole und er durch ihren Armeedienst geschleudert werden: Sie sind Teil jener Vernichtungsmaschinerie, die die indianischen Ureinwohner niedermetzeln, sie kämpfen im Sezessionskrieg gegen Soldaten der Südstaaten, oftmals ebenso gebürtige Iren wie Thomas (der sich später Thomasina nennt), selbst.

Es ist die Stärke dieses Buches, das es das Übelste, was Menschen anderen Menschen antun können, in einer ganz besonderen Sprache benennt: Nüchtern, ohne Voyeurismus zu wecken, direkt, ohne in eine Abenteuer- und Wildwest-Geschichten abzugleiten, in oft einfachen Worten, die durch ihre Einfachheit erst so richtig berühren. Hans-Christian Oeser hat dafür in seiner Übersetzung die passenden Worte, den richtigen Ton gefunden.

Nachdem Thomas und andere seiner Kompanie – beinahe aus Versehen – alle Frauen und Kinder eines Indianerdorfes niedergemetzelt haben, sagt er:

„Man konnte die versehrten Gesichter sehen und das gegrillte Fleisch riechen, in der Hitze krümmten die Leichen sich seltsam zusammen; von den Wänden nicht länger gehalten, fielen und rollten sie auf das versengte Gras. Noch mehr Funken flogen auf, es war eine vollständige Vision vom Ende und Untergang der Welt, in diesem Augenblick konnte ich nicht mehr denken, mein Kopf war blutleer, gedankenleer, er dröhnte, ich war fassungslos. Soldaten weinten, aber es waren keine mir bekannten Tränen. (…) Wir waren ohne Ort, wir waren nicht vorhanden, wir waren nur noch Gespenster.“

Thomas wird im Laufe der Geschichte zu einem Helden, einer Heldin, die ans Herz wächst: Einer, der trotz der Gräuel, die er erlebt, sich Mitgefühl, Mitmenschlichkeit und Liebe bewahrt.

Am Ende, durch die Zeitläufe geworfen wie ein zweiter Melchior Sternfels von Fuchshaim, kehrt Thomas alias Thomasina zu seinen Liebsten zurück:

„Noch nie hatte ich ein so reines Gefühl, eine so feurige Freude empfunden. Ich bin wie ein Mann, der nicht nur dem Tod entgangen ist, sondern seinem eigenen verwirrten Ich.“

Ein Western, der das Genre sprengt

Ein außergewöhnlicher Held, ein außergewöhnliches Buch, das Genregrenzen sprengt und ähnlich wie „Butcher`s Crossing“ von John Williams weit mehr ist als „nur“ ein Western: Es ist ein Buch, das existentielle Fragen stellt.

Sebastian Barry gilt als einer der besten zeitgenössischen irischen Autoren: Mehrerer seiner Theaterstücke und Romane wurden mit renommierten Preisen ausgezeichnet, darunter auch „Days Without End“, das 2016  im Original erschien und 2018 in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser beim Steidl Verlag.

Informationen zum Buch:

Tage ohne Ende
Sebastian Barry
Steidl Verlag
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
22,00 Euro
256 Seiten, geb. mit Leineneinband
ISBN 978-3-95829-518-6

Eine weitere Rezension findet sich bei Zeichen & Zeiten.

 

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

8 Gedanken zu „Sebastian Barry: Tage ohne Ende“

    1. Liebe Claudia,
      da kann ich jetzt gar nicht einschätzen, ob der Roman dir liegt. Ich kann nur weiter schwärmen: Wirklich ein ganz grandioses Buch!

  1. Ein Roman, der mich tief berührt hat, gerade mit seiner Menschlichkeit inmitten einer Zeit voller Grausamkeit. Ein großes Buch. Ich danke sehr für die Erwähnung und Verlinkung. Viele Grüße

    1. Liebe Constanze,
      Verlinkung sehr gerne geschehen! Wie Du in Deiner Rezension schreibst: Hervorzuheben ist auch der eigenwillige Erzählerton. Ich finde es große Kunst, so etwas stilistisch konsquent durchzuhalten. Und dieser teilweise trockene, schnodderige, aber auch hinterfragende Erzählton trägt nicht zuletzt dazu bei, dass man beim Lesen einerseits das Grauenhafte ertragen kann und doch die Sympathie für die Hauptfigur, die in das Geschehen verstrickt ist, nicht verliert.

    1. Ja, das stimmt, es wird einfach erzählt, auch ganz selbstverständlich über die Eheschließung, das fand ich auch sehr wohltuend normal.

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