Susanne Röckel: Der Vogelgott

Irritierend, irisierend, irrlichternd: Zwischen all der Popkulturpoetik und Realexistenzprosa kann man dieses eigentümliche Buch nicht genug hervorheben.

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Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay

„Jene bittere Not hatte eine unvergängliche Spur hinterlassen, und jenes kriegerische Gemetzel, bei dem die Bewohner des Gyrentals ihre Kinder verloren hatten, war nie vergessen worden. Die Trauer der Überlebenden hatte sich nicht in Ruhe, in Frieden verwandelt, sie war immer wieder angeschwollen und in Wut umgeschlagen, in rasenden Zorn und Gier nach Vergeltung. Was sie erlitten hatten, mussten sie wiederholen. Deshalb beteten sie zu den Engeln, ihren neuen Herren, die hungrig, mit blitzenden Augen über ihren Köpfen kreisten. Sie konnten keine Freude mehr dulden, ihre Freude war für immer ausgelöscht.“

Susanne Röckel, „Der Vogelgott“


Als Konrad Weyde Jahrhunderte später nach dem schrecklichen Ereignis im Gyrtental nach dem Vogelgott greift – um mit dem mystischen Tier, fachkundig ausgestopft und präpariert, vor seinen Ornithologie-Freunden zu prunken – ahnt er kaum, welches Unglück er über die Seinen bringen wird. Seine Kinder Thedor, Dora und Lorenz, sie alle werden in gewisser Weise der Gottheit geopfert, verschwenden ihre Leben, unterliegen dem Wahnsinn. Jeder von ihnen ein moderner Prometheus, der sein Innerstes opfert – doch wartet auf sie weder Begnadigung noch Erlösung, offen bleibt ihr Schicksal in diesem außergewöhnlichen Roman.

Die Autorin und Schriftstellerin Susanne Röckel hat schon einige Werke veröffentlicht: Eigene, darunter Romane und Erzählungen, vor allem aber auch zahlreiche Übersetzungen, so eines meiner liebsten Bücher, „Der Gott der Alpträume“ von Paula Fox. Dennoch wird sie einem breiteren Publikum erst nun, durch diesen mystischen Roman, bekannt geworden sein, stand das Buch doch auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Vielleicht erschien „Der Vogelgott“ der Jury denn doch etwas zu außergewöhnlich, beinahe wie aus der Zeit gefallen in Sprache und Duktus, fast alttestamentarisch – man weiß es nicht. Eine großartiges Leseerlebnis ist der Roman, Preis hin oder her, allemal.

Von der Hybris eines Forschers

Hineinlesen lässt sich in dieses Werk vieles: Einerseits wirkt es durch seine geschickte Konstruktion, die Orte über Jahrhunderte und Kontinente mit einander verbindet, die Lebensläufe raffiniert mit einander verknüpft, fast hermetisch. Aber andererseits beinhaltet es eine Vielzahl an Topoi und damit Deutungsmöglichkeiten: Die Hybris des Forschers, der meint, die Natur bezwingen zu können. Die Dramatik einer Familiengeschichte, drei Kinder, gefangen zwischen einem kalten, strengen Vater und der sanften, viel zu früh verstorbenen Mutter. Der bei allem zivilisatorischen Fortschritt unausrottbare Aberglauben, der jedem Menschen innewohnt. Das Ringen zwischen Moderne und Tradition. Der Fortbestand eines Traumas über Generationen hinweg.

Kunstvoll gewebte Erzählung

Die kunstvoll gewebte Erzählung ist kaum in aller Kürze wiederzugeben, ohne den einen oder anderen wichtigen Faden vernachlässigen zu müssen (deshalb meine dringliche Empfehlung: Selber lesen!), so vielschichtig, auf so vielen Ebenen geordnet ist dieses Werk. Vorangestellt ist dem Buch ein unveröffentlichtes Manuskript des Vaters, der bei einem seiner geliebten Streifzüge ohne Familienanhang in ein unwirtliches Bergdorf gelangt. Einer der wenigen Bewohner, der mit ihm spricht, warnt ihn deutlich: Der Fang eines bestimmten Vogels sei verboten, wer das Verbot nicht achte, habe mit einer Strafe zu rechnen. Aug in Aug mit diesem mysteriösen Vogel überfällt Konrad Weyde eine sonderbare Schwäche:

„Die Vorstellung, im kalten Schatten dieser Felsen unsichtbar zu werden, verloren zu gehen, zu verschwinden, ließ mich nicht mehr los. Ja, ich würde verschwinden – und mit mir meine Kinder und deren Kinder -, vom Licht vergessen, würden unsere Konturen sich auflösen, unsere Körper würden mit dem Schatten der Erde verschwimmen, und die Finsternis des Universums würde uns aufsaugen und verschlucken – dieser Gott aber, dessen Machtbefugnis ich nicht mehr bezweifeln konnte, er würde bleiben…“

Dieser Gott bleibt nicht nur, sondern zeigt sich auch omnipräsent, wie die nachfolgenden drei Kapitel, jeweils aus Sicht eines der erwachsen gewordenen Kinder von Weyde erzählt, erweisen werden: Thedor, der Jüngste, lässt sich als Arzt in ein (fiktives) afrikanisches Land verpflichten und erlebt dort, auf einer einsamen Missionsstation, den gewaltsamen Überfall einer Rebellentruppe, die einem Vogelgott huldigt – in einem grausamen Ritual werden diesem alle Kinder und jungen Mädchen geopfert.

Die Madonna mit den Walderdbeeren

Dora, die Tochter, erforscht das Schicksal eines Malers aus ihrem Heimatdorf, der zur Zeit des 30-jährigen Krieges berühmt wurde, eine Meisterwerkstatt aufbaut, dann jedoch von einem Tag auf den anderen scheinbar seine Kreativität verliert und dem Wahnsinn verfällt. Wie sie anhand der Analyse des Gemäldes von der „Madonna mit Walderdbeeren“ dem Geschehen auf die Spur kommt. Auch hier, man ahnt es schon, werfen die mächtigen Schwingen des Vogelgottes seine Schatten. Das ist nicht nur – obgleich natürlich auch der Maler Johann Wolmuth eine fiktive Figur ist – kunsttheoretisch spannend, sondern zugleich auch aufgrund der besonderen Sprachmacht Susanne Röckels wunderbar zu lesen. Sie erreicht es, ein nichtexistierendes Gemälde so zu beschreiben, dass man es beim Lesen zu sehen glaubt:

„Wolmuths Walderdbeerenstudie ist heute ein beliebtes Postkartenmotiv. Die kleine Staude mit den drei Stängeln wächst aus einem Boden mit welken Blättern und dunkler Erde heraus. Raum ist durch den Hell-Dunkel-Kontrast zwischen vorderen und hinteren Blättern angedeutet. Die dreizähligen gezähnten Blätter am vorderen Stängel sind dunkel schraffiert und sorgfältig gearbeitet, die des hinteren Stängels mit einigen zarten Strichen nur angedeutet. Der Hauptstängel wächst schräg nach oben. Auffällig ist, dass er sowohl Blüten wie Früchte trägt.“

Dem charakterlich am stärksten erscheinenden Sohn ist das schwächste, das letzte Kapitel vorbehalten: Lorenz, freiberuflicher Journalist, kommt seltsamen Experimenten mit Kindern in einer Heilanstalt auf die Spur, allen ist die plötzlich auftretende Angst vor Vögeln und Flugkörpern gemein. Dass die Beschreibung, wie auch Lorenz den Rahmen seiner scheinbar geglückten Existenz mit Familie und Beruf mehr und mehr verliert, gegen Ende etwas abfällt, ist der einzige Mangel dies wuchtigen, sprachgewaltigen Romans.

Schillernd schön, sprachlich elegant und untergründig unheimlich – mit diesen Beschreibungen wurde „Der Vogelgott“ im Feuilleton belegt. Irritierend, irisierend, irrlichternd: Zwischen all der Popkulturpoetik und Realexistenzprosa kann man dieses besondere Buch nicht genug hervorheben.


Bibliographische Angaben:

Der Vogelgott
Susanne Röckel
Jung und Jung Verlag, 2018
ISBN 978-3-99027-214-5

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

16 Gedanken zu „Susanne Röckel: Der Vogelgott“

  1. Ja, wenn eine deutschsprachige Veröffentlichung der letzten Jahre das Zeug hat, von Dauer zu sein, dann diese. Wenn „Die Ferne“ da tatsächlich Ähnlichkeiten aufweist, werde ich mir das auf jeden Falle inmal anschauen. Röckels früher Roman „Palladion“ ist auch noch lesenswert, sowie einige Erzählungen aus „Der Käfig“.

  2. Liebe Birgit, es ist schön nach einer Blogpause sich bei wordpress wieder einzuklicken und einen Beitrag wie diesen zu finden. Eine sehr spannende Rezension, die das Buch noch ganz schnell auf meine Wunschliste setzt. Xeniana

  3. Für mich war „Der Vogelgott“ ein klarer Favorit für den Buchpreis, ich war jedoch nicht sonderlich erstaunt, als es dann doch nicht gewann.

    Ein wunderbare Rezension, die das Wesen des Buches sehr gut vermittelt.

    1. Danke Dir! Ich habe den Buchpreis heuer nicht sehr intensiv mitverfolgt, also fehlen mir noch etwas die Vergleiche – aber ich kenne die Erzählweisen von Biller, Thome und Haratischwili ein wenig. Und von diesen setzt sich der Vogelgott schon ein wenig ab, auch das Thema natürlich sehr ungewöhnlich. Aber wer kann die Wege einer Jury schon immer nachvollziehen 🙂 Für mich war das Buch jedoch ein sehr außergewöhnliches Leseerlebnis, das ich nicht missen möchte!

  4. Ja, ich fand das Buch auch spannend. Als Phantastikleser reiht es sich für mich natürlich in eine ganze Traditionslinie ein und mir hat so ein bisschen die Auflösung des Ganzen gefehlt. Klar es gab diesen Fluch und wir erleben das Verschwinden der Kinder, aber ich denke, dass der Roman mit einer deutlicheren Metaebene hätte größer werden können.
    Aber ich glaube nicht, dass das Buch der Buchpreisjury zu außergewöhnlich war. Stilistisch ist Archipel da doch eine ganz andere Liga. Allerdings hab ich Archipel auch abgebrochen, weil das Buch langweilig war. Ganz im Gegenteil zum Vogelgott.

    1. Ich finde nicht, dass das Buch eine Auflösung braucht. Denn das ist das denn nicht das Kernthema des Buches: Das Logik, Ratio, Vernunft nicht alles sind, dass das Irrationale darüber siegt? Der Vogelgott ist nicht erklärbar, sowenig wie der Schrecken der Welt oder mancher Aberglaube nicht rational erklärbar ist – also mir fehlte diese Metaebene überhaupt nicht.

  5. wow – das klingt sehr gut das Buch. Tolle Rezension, die mich jetzt richtig neugierig gemacht hat. Das wäre wirklich an mir vorbeigegangen. Liebe Grüße 🙂

    1. Florian machte ich im Literaturhaus beim Markt darauf aufmerksam – dieser Besuch hat sich rentiert 🙂 (Hab mir noch zwei der Bücher, die wir gesehen haben, geholt). Schönen Sonntag Dir!

  6. Liebe Birgit,
    ich bin ja ein regelmäßiger Hinterherleser, der Neuerscheinungen erst liest, wenn sich der Puvlerdampf der Messen und Jurys verzogen hat. Umso dankbarer bin ich für diese nachdrückliche Empfehlung.
    Viele Grüße
    Norman

    1. Lieber Norman,
      auch ich habe diesen Roman ja nur wegen der ausdrücklichen Empfehlung Florians gekauft – meistens ist dieses, wenn man Geschmack einer Person gut kennt, besser als jede Juryempfehlung. Nun bin ich sehr gespannt, wie Dir der Vogelgott zusagt.
      Viele Grüße, Birgit

  7. Liebe Birgit,

    Ich lese Deine Rezensionen so gerne. Leider viel zu selten vermag ein Buch mich wirklich zu packen und zu fesseln. Dieses hier jedoch lockt mich bereits vom Inhalt her, außerdem wechselt es die Erzählperspektiven und der Mythos wird zum Phänomen der Massenseele, die nicht hinterfragt sondern folgt und diesen Zwang zu folgen sogar weitervererbt. Es scheint, es steckt eine Aktualität und von Zeit unangetastete Dramatik in dieser Erzählung, in der es um die Keimzelle einer Religion geht und deren mutierte Auswüchse. Ich bin hochgespannt.
    Lieben Dank von der Fee

    1. Bei so netten Kommentaren einer Fee kann ja nichts mehr schiefgehen! Stimmt: Die Anhänger folgen beinahe willenlos dem jeweiligen Kultführer, auch wenn es um unmenschliche Vorhaben geht – das hat auch etwas aktuelles, ist ebenso aber auch zeitlos. Herzliche Grüße von Birgit

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