Uwe Timm: Heißer Sommer

Uwe Timms Debütroman „Heißer Sommer“ erschien 1974. Es gibt viele Gründe, warum sich der Roman im heißen Sommer 2018 wieder zu lesen lohnt.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Ich bin früher gern rausgefahren, gleich nach Schulschluß. Ich hab an einem Waldrand im Gras gelegen und stundenlang in den Himmel gesehen. Ich hab dann an nichts gedacht. Nur manchmal, wenn in der Luft ein Bussard schwebte und plötzlich zur Erde herunterkippte, war das wie ein Stich. Fressen und Gefressenwerden. Ich hab versucht, mir vorzustellen, wie das wäre, eine Welt, in der niemand gequält würde. Ein ruhiges, anhaltendes Glück wie in einem heißen Sommer, wenn man in einer tiefen Wiese liegt und über sich die Wolken ziehen sieht.“

Uwe Timm, „Heißer Sommer“


Es war ein Sommer, in vielem vergleichbar mit dem diesjährigen, von dem Uwe Timm in seinem Debütroman erzählt: Temperaturen auf dem Siedepunkt, die politischen Vorgänge ebenso. Nur drei Jahre nach dem Erscheinen des Buches sollte ein Herbst folgen, der als „Heißer Herbst“ beziehungsweise „Deutscher Herbst“ in den politischen Sprachgebrauch überging, 1977, als der Terror der RAF einen Höhepunkt erreichte. Die Radikalisierung einiger, sie war auch eine Folge der Ereignisse, von denen Timm in seinem durchaus auch autobiographischen Roman erzählt.

„Heißer Sommer“ (1974) war einer der wenigen literarischen Texte über die Außerparlamentarische Opposition und die Studentenbewegung, die zu diesem frühen Zeitpunkt erschienen. Timm hat als Student vieles von den Geschehnissen miterlebt: Er selbst studierte ab 1967 in München, war im Sozialistischen Deutschen Studentenbund aktiv und beteiligte sich an der Besetzung der Münchner Universität. Wie seine Romanfigur Ullrich lebte auch Timm 1968 einige Monate in Hamburg. Dort richteten sich die Studentenproteste vor allem gegen die Springer-Presse und ihr Haupterzeugnis „Bild“.

Aufgeheizte Zeiten

Denn, so kommentierte Thomas Assheuer im Mai 2007 die Ereignisse von 1968 in der „Zeit“: Kaum war der Funke aus Berkeley, der Protest amerikanischer Studenten, nach Deutschland übergesprungen, da eröffnete die Springer-Presse die Jagdsaison. Ob Bild, Welt , Berliner Morgenpost – die Blätter nahmen Aufstellung an der semantischen Bürgerkriegsfront und bezeichneten die Protestierenden wahlweise als »Eiterbeule« oder »immatrikulierten Mob«, als »akademische Gammler« oder »behaarte Affen«. Springers Kommissare verlangten hartes »Durchgreifen«, »Abschieben«, »Ausmerzen«, oder noch wirksamer: »Polizeihiebe auf Krawallköpfe, um den möglicherweise doch vorhandenen Grips lockerzumachen«.

„Der Ostwind ist kalt. Ullrich schwitzt. Die Gesichter neben ihm sind nicht mehr ernst. Er erkennt seine Freude in den Gesichtern der anderen wieder. Eine Freude, die verändert. Er kann, wenn er sich umdreht, das Ende des Zugs nicht ausmachen. Er ist noch nie mit so vielen Menschen zusammen gegangen. Er war herumgelaufen und hatte gesucht. Jetzt war er angekommen. Er hatte die anderen gefunden. (…)
Er hatte sie untergehakt, er konnte lachen und reden mit ihnen, als kennten sie ihn schon lange. Was er fühlt, ist eine Freude, die über ihn hinausgeht, die ihm ein Gefühl der Weite und Stärke gibt. Eine Freude, die vom Haß getragen wird, ein Haß, der verändert. Die neben ihm gehen, waren wie er aus ihren Zimmern gelaufen. Jetzt marschieren sie eingehakt und rufen: Haut dem Springer auf die Finger.“

Es sind der Mord an Benno Ohnesorg 1967 und die Schüsse auf Rudi Dutschke im April 1968, die den Studenten Ullrich allmählich politisieren. Noch wühlt er sich durch die Verse Hölderlins für das Studium in München, plagt sich mit halbwarmen Frauengeschichten ab, versucht sich aus der Eichenholzmöbelgarnitur-Enge des Elternhauses zu befreien, alles ein wenig halbgar, alles gedämpft. Die Hitze steht in den Münchner Straßen, abends geht man ins „Leopold“ zur Nachtvorstellung, oder in eines der Schwabinger Cafés. Tagsüber schuftet man schwarz bei brütender Hitze auf einem offenen Acker, den ein „Schwabinggauner“ in ein Go-Kart-Gelände, der neueste Schrei für die Jugend, umwandeln will.

Sehnsucht nach Freiheit und Veränderung

Erst langsam erwacht Ullrich aus diesem Dämmerdasein, der Mord an Ohnesorg wirkt auch auf ihn wie ein Katalysator. Wie sehr die geistige Frucht des Nationalsozialismus noch die junge Republik prägt, das wird Ullrich nicht nur am Beispiel des Vaters, der sich regelmäßig mit alten „Kampfgefährten“ das „Dritte Reich“ schwadronierend zurücksehnt, bewusst. Auch die Verkrustung im universitären Getriebe, der Alltagsrassismus, der ihm bei seinem Job („lass den Kümmeltürken hacken“) begegnet, die Erzählungen anderer öffnen ihm die Augen und das hitzegedämpfte Hirn. Alles in ihm sehnt sich nach Freiheit und Veränderung – sowohl der persönlichen als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse.

„Die stehen da und glotzen nur, hatte ein Mädchen zu Ullrich gesagt, das im Demonstrationszug neben ihm ging. Ja, hatte Ullrich gesagt, die sind nicht ansprechbar. Das Mädchen, das ein sehr kurzes gelbes Kleid trug, erzählte ihm, daß sie vorhin beim Verteilen der Flugblätter von einem Mann angepöbelt worden sei. Dreckige Schlampe, hatte der gerufen und dann gesagt: Ganz richtig, daß sie einen von euch umgelegt haben.“

Uwe Timm erzählt in diesem Roman eine Entwicklungsgeschichte: Der anfangs noch zaudernde, unbestimmt dahinlebende Student wird sich, geprägt durch private und politische Schlüsselerlebnisse, zu einem politisch bewussten Aktivisten entwickeln. Die zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft erkennt Ullrich als Irrweg – außer einigen Pflastersteinen und einen halbherzigen Brandanschlag auf einen Polizeibus soll es das für ihn gewesen sein. Er merkt, dass das Kaputtmachen dessen, was „uns kaputtmacht“, keine Lösung ist, sondern entscheidet sich für „den organisierten Weg in die Betriebe, in die Schulen, in die Universitäten, in die Wohngebiete“, entschließt sich, sein Studium fortzusetzen und Lehrer zu werden.

Am Ende ist er auch mit Hölderlin wieder eins, erkennt er, geprägt von seinen Erfahrungen, die Fülle dieser Verse:

Die Sonne ließ die Tannen leuchten. In den Gräben schmale weiße Streifen, schmutzige Schneereste. Auf einem Feld ein Traktor mit einer Egge. Die Schraffur der Furchen.

             Wachs und werde zum Wald! eine beseeltere,
                  Vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden
                             Sei die Sprache des Landes,
                                   Ihre Seele der Laut des Volks!

„Heißer Sommer“ ist nicht nur ein Roman, der authentisch vom Zustand der deutschen Gesellschaft 1968 erzählt und aus dem Inneren des studentischen Lebens berichtet, sondern war und ist auch literarisch ein mehr als gelungener Wurf für einen Debütroman: Timm verwebt gekonnt verschiedene Erzähl- und Zeitebenen, variiert sprachlich, mal poetisch, mal ironisch im Ton, schiebt wie in einer Collage prägende Texte der Studentenbewegung, Songzeilen von Dylan und den Beatles, Zitate von Marcuse und Marx in den Erzählfluss ein.

Jetzt, fünf Jahrzehnte später, haben wir wieder einen „heißen Sommer“, in dem nicht nur die Temperaturen stetig steigen, sondern auch gesellschaftliche Kräfte aufeinanderprallen, die grundsätzlich verschiedene Werte vertreten: Auf der einen Seite Restauration und Abschottung bis hin zu einem Ruck nach Rechts und ins Rechtsextreme, andererseits Menschen, die für eine weltoffene Gesellschaft vermehrt auf die Straße geht. Diskussionen über Rassismus und den Umgang mit Flüchtlingen. Und bei alledem eine „Bild“, die zwar – Gott sei Dank – schon lange nicht mehr die Auflagen hat der 1960er-Jahre, aber zum alten, verkommenen Stil zurückgekehrt ist. Dies alles macht „Heißer Sommer“ zu einer passend hitzigen Lektüre dieser Tage. Ein Roman, der sich wieder zu entdecken lohnt.


Bibliographische Angaben:

Uwe Timm
Heißer Sommer
dtv Verlag, 1998
ISBN: 978-3-423-12547-5

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

6 Gedanken zu „Uwe Timm: Heißer Sommer“

  1. Danke für die Erinnerung. Ich bin durch dieses Buch zu Uwe Timm gekommen. Ein Freund, der über Timm seine Examensarbeit geschrieben hatte, hatte mir sein Exemplar gegeben – voll mit farbigen Unterstreichungen und Kommentaren. Der Letzte stand an dem Kapitel, in dem Ullrich sich entschließt in die GEW einzutreten und den langen Marsch durch die Institutionen zu beginnen. Er lautete „Junge, was hättest du dir alles ersparen können, wenn du das gleich gemacht hättest.“ Fand ich nicht. Denn dann wäre ja das ganze wunderbare Buch nicht entstanden. Seitdem habe ich alles von Timm gelesen – außer Rennschwein Rudi Rüssel, das hab ich mir im Kino angeschaut 😉
    Ich wünsch dir ein paar kühle Momente in diesem Heißen Sommer
    Rolf

    1. Eben – es ist ja ein Entwicklungsroman, der, denke ich, auch das nachzeichnet, was viele Leute der Generation prägt. Interessant wäre eine Fortsetzung: Was ist aus den Ullrichs geworden (wir sehen es ja zum Teil an den prominenten Politikern und Journalisten). Uwe Timm habe ich erst spät kennengelernt – und dann natürlich mit der Currywurst. Heißer Sommer war der zweite Roman von ihm, den ich las, und seither geht es mir mit ihm ähnlich wie dir: Ich warte immer auf sein neuestes Werk. Hier kühlt es heute endlich deutlich ab, leider aber Gewitter zur Unzeit, am Augsburger Feiertag. Liebe Grüße Birgit

  2. Danke sehr für diese tolle Buchbesprechung. Sie macht sehr neugierig Ich habe das Buch meiner „to-read“Liste zugefügt
    Die Jahre von Annie Ernaux gehört zu meiner Ferienlektüre, diese „unpersönliche Autobiografie“ führt auch sehr interessant und lesenswert durch die Zeitgeschichte.
    Liebe Sonnenscheingrüße für einen geinen Sonntag

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