Tobias Premper: Mississippi Orangeneis Blues

Versponnene Seelen werden an diesen Miniaturen ihre Freude haben: Immer wieder durchbricht Tobias Tremper Alltägliches mit einem feinen Sinn für das Absurde.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Wenn das Leben nur dies sein könnte: Eine Fahrt mit dir und dem Kleinen auf dem Mississippi, wir füttern uns gegenseitig mit Orangeneis und irgendwer spielt den Blues.“

Tobias Premper, „Mississippi Orangeneis Blues“


Wenn ein Buch nur dies sein kann: Du blätterst es auf, an einer beliebigen Stelle, Bilder entstehen, für Minuten bist du entführt in eine andere Welt. Wer dem derzeit grauen Wetter und seiner ebenso nassen wie bleiernen Wolkendecke entfliehen will und faktisch nicht kann, wer den Mississippi Orangeneis Blues und eine Sehnsucht nach Realitätsflucht in sich trägt, dem empfehle ich die Miniaturen von Tobias Premper.

Doch Obacht: Mit seinen Kürzestgeschichten, die manchmal nur wenige Sätze umfassen, selten mehr als eine halbe Seite einnehmen, entführt Premper keinesfalls in ein vermeintliches Paradies oder heile Welten. Sie erzählen von Sehnsüchten, von kleinen wie großen Träumen, vom Alltag, dem man entfliehen will, von Orten, an denen man nie ankommt.

Schwankend zwischen „ALTE ORDNUNG“:

Find Dein Tor, geh hindurch und bleib dort!

und einer „LIEBESERKLÄRUNG“, die den Wunsch nach Verrücktheiten beinhaltet:

Ich will mit dir nach Usbekistan und den Nomaden heißen Tee über die Turbane schütten. (…) Und im Traum springen wir über wilde Kaninchen und schweben selbst über unseren Verstand hinaus.

Tagträumer und versponnene Seelen werden an diesen Miniaturen ihre Freude haben: Immer wieder durchbricht Tobias Tremper scheinbar alltägliche Szenen mit einem feinen Sinn für das Absurde. Schon der Prolog wirkt wie ein Gemälde von Matisse. Oder meinetwegen auch Dalí. Eine Blume wächst aus einem Zeh. Tote Enten treiben in einem Bassin. Eine Frau und ein Kind auf einem Elefanten. Träumt der namenslose Ich-Erzähler oder ist er schon wach? Nichts ist, wie es scheint, nichts bleibt, wie es war, gebrochene Atmosphäre schon am aufbrechenden Morgen:

MORNING HAS BROKEN

Ich saß in einem Café und frühstückte. Gelobt die Amsel, die draußen vor dem Fenster sang, und die beiden Frauen am Nachbartisch, eine schöner als die andere. Ganz still und unbeweglich saßen sie da, und die Musicbox spielte etwas von Duke Ellington. Plötzlich hakte die Platte, und ein kahlköpfiger Zwerg mit Schnauzbart kam zu meinem Tisch. Er roch nach Schweiß und trug rote Damenschuhe. Der Kleinwüchsige fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe, aber ich sprang auf und lief nach draußen. Hätte ich ein Auto gehabt, ich wäre bis zum Kap Deschnjow gefahren. Ich besaß jedoch nicht einmal ein Fahrrad. Dann begann es, aus heiterem Himmel honigsüße Tropfen zu regnen, und ich dankte dem Herrn.

„Mississippi Orangeneis Blues“ ist kein Buch, das man in einem Stück wegliest – sondern eines, in dem man immer wieder blättert, auch zufällig Seiten aufblättert, um je nach Stimmungslage und Leselust sich auch in die eigenen Weltfluchtgedanken hineinzulesen. Um sich dann an komplizierten Tagen still und leise seufzend zu sagen:

OHNE TITEL #3

Wenn das Leben nur dies sein könnte: Salat aufessen, Liebe machen.

Den poetischen Miniaturen ist anzumerken, dass sie einem Lyriker entsprungen sind: Der Bildende Künstler und Schriftsteller hat einige Gedichtbände und gibt seit 2006 Boxenbücher heraus – in der Auflage limitierte Text- und Bildeditionen, die zum Teil auch Originalzeichnungen beinhalten. „Mississippi Orangeneis Blues“ erschien, wie bereits sein Debütroman „Erst einmal für immer“ und weitere Bücher mit Kürzestgeschichten beziehungsweise Notizen im Steidl Verlag.

Über die Prosa von Tobias Premper zeigte sich David Hugendick begeistert, verweist in einem Artikel auf die Tradition der Vignette bei anderen Großen der Literatur wie Tucholsky, Lichtenberg und Daniil Charms:

„Im besten Fall können solche Vignetten wahre Erkenntnisbomben sein, in denen bisweilen mehr steckt als in 563 Romanseiten voller serienmäßig zartfühlender Gesellen. (…) Premper, in Celle geboren, nach Berlin umgezogen, hat ebenfalls eine Neigung zur fröhlichen Skurrilität, zur in Raum und Zeit unfixierten Momentaufnahme, die man nicht zu einem großem Bild zusammenfügen muss und auch gar nicht soll. Alltag, Märchen, Dialog, eine in Gold gerahmte Flüchtigkeit, deren Moral oder Sinn der Autor bisweilen provokant verweigert. Oder er knüpft ganze Sinngirlanden, um sie am Ende mit Witz zu zerreißen.“

Quelle: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-09/Tobias-Premper-Durch-Baeume-Hindurch

In diesem Sinne: Immer wieder einmal in den Miniaturen geistig Spazierengehen, mit Tobias Premper durch die Straßen flanieren, und dabei über Lakritze schleckende Verlobte, Käferinnen im Rentner oder einfach auch über das „NICHTS“ stolpern, schmunzeln, wehmütig lächeln, träumen, bummeln.


Bibliographische Angaben:

Tobias Premper
Mississippi Orangeneis Blues
Steidl Verlag, 2016
ISBN 978-3-95829-207-9

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

4 Gedanken zu „Tobias Premper: Mississippi Orangeneis Blues“

  1. Das klingt ja gut, auch die Bemerkung „Im besten Fall können solche Vignetten wahre Erkenntnisbomben sein, in denen bisweilen mehr steckt als in 563 Romanseiten“ oder auch die „Neigung zur fröhlichen Skurrilität“ – muss ich mir merken! Liebe Grüße
    Petra

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