Sinclair Lewis: Main Street

Mit „Main Street“ wurde Sinclair Lewis schlagartig berühmt-berüchtigt: Die ironische Schilderung der Provinz brachte ihm den Ruf des Nestbeschmutzers ein.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

«Wie dem auch sei, Gopher Prairie ist nicht etwa besonders schlecht, es ist genauso wie alle Kleinstädte in allen Ländern. Die meisten Orte, die den Geruch der Erde verloren, sich aber noch nicht den Geruch von Patschuli – oder Fabrikqualm – angeeignet haben, sind ebenso misstrauisch und selbstgerecht. Ich frage mich, ob die Kleinstadt an sich, von ein paar reizenden Ausnahmen abgesehen, nicht der Blinddarm der Gesellschaft ist (…)»
Sie fragte impulsiv: «Und Sie, warum bleiben Sie hier?»
«Ich habe den Spießervirus.»
«Klingt gefährlich.»
«O ja. Noch gefährlicher als der Krebs, der mich garantiert mit fünfzig erwischt, wenn ich nicht mit der Raucherei aufhöre. Der Spießervirus ist jener Krankheitserreger, der – und hierin ähnelt er auffällig dem Hakenwurm – ehrgeizige Menschen befällt, die zu lange in der Provinz hängen bleiben.»

Sinclair Lewis, „Main Street“


Als Berufsanfängerin verschlug es mich in ein Provinzstädtchen, ähnlich wie jenes, das Sinclair Lewis (1885 – 1951) in seinem sechsten Roman beschreibt, der ihn schlagartig berühmt (und berüchtigt) machte. 5000 Einwohner, die Redaktion am Marktplatz, man selbst als Zeitungsjournalistin „mitten drin“ – ein Euphemismus für: „unter ständiger Beobachtung.“ Mein älterer Kollege meinte, die Stadt sei auf Valium gebaut und wir Galeerensträflinge in einer Gummistiefelredaktion. Kurzum: Wir haben uns den Redaktionsalltag zwischen dem Redigieren von Schützentabellen und Fotos für „Tiere suchen ein Zuhause“ durch blümerant formulierte Lästereien über die Provinz aufgehübscht. Ja, die Provinz: Selbst wenn man nur aus einer kleinen Großstadt wie Augsburg dorthin gelangt, sie ist ein Kulturschock. Das Leben in Provinzstädten hat seine Regeln: Heute wie gestern, ob im bayerischen Süden oder im Mittleren Westen Amerikas.

Dies bekommt auch die ambitionierte Carol Milford, die nach dem College als Bibliothekarin in Chicago arbeitet, zu spüren. Carol, die Sinclair Lewis dramatisch als einsame Gestalt vor kornblumenblauen Nordhimmel einführt, hat, wie der Provinzler sagen würde, „Flausen im Kopf“. Nicht unsympathisch, aber kaum konsequent, eine Träumerin, die die Welt verändern möchte, durch Kultur verbessern: Mal sieht sie sich als Stadtplanerin, mal schließt sie sich einem Kreis junger Frauen an,

„die, in hauchdünnes Leinen gewandet, im Mondschein Tänze aufführen. Sie wurde auf ein waschechtes Atelierfest eingeladen, eins mit Bier, Zigaretten, Bubikopf und einer russischen Jüdin, die die Internationale sang. Nicht, dass Carol den Bohemiens irgendetwas Erwähnenswertes zu sagen gehabt hätte. Sie war vielmehr gehemmt in ihrer Gegenwart, kam sich ungebildet vor und war gleichzeitig schockiert über die hier zelebrierte Freizügigkeit, nach der sie sich dennoch jahrelang gesehnt hatte. (…) Irgendwann ging sie nach Hause, und das war Anfang und Ende ihres Bohemelebens.“

Ironischer Unterton

Mitten in dieser Findungsphase begegnet die junge Frau dem Tierarzt Dr. Will Kennicott, ein wackerer Bürger des fiktiven Provinzstädtchens Gopher Prairie, „the honest place in Wahkeenyan County“. Sinclair Lewis kommentiert die Entwicklung mit der ihm eigenen trockenen Ironie:

„Von der Liebesromanze zwischen Carol und Will Kennicott gibt es nichts zu erzählen, was man nicht an jedem Sommerabend in jeder schummerigen Gasse belauschen könnte. Was sie zusammenführte, war halb Biologie, halb Mysterium (…)“.

Und viele Versprechen, die man als Verliebter halt so macht:

»Dann komm mit. Komm mit nach Gopher Prairie, und zeig uns, wie`s geht. Mach unsere Stadt … na ja … mach sie kunstsinnig! Mächtig hübsch ist sie schon, aber ich muss gestehen, übermäßig kunstsinnig sind wir nicht gerade. Unser Holzlager ist wahrscheinlich nicht so geschleckt wie diese ganzen griechischen Tempel! Aber mach du dich nur ran! Kremple uns tüchtig um!«

Resignierte Rückkehr

Es kommt, wie es kommen muss: Viele hundert Seiten später ist Gopher Prairie noch das Alte, tüchtig umgekrempelt ist dagegen Carol. Um etliche Erfahrungen im „Kampf“ gegen die Provinzialität reicher und nach einer längeren Ehe-Auszeit, Jahre, die sie in Washington verbringt, kehrt sie leicht resigniert in ihr „Nest“ zurück, fügt sich in ihr Schicksal als Tierarztgattin, Mutter und mustergültiges Mitglied der Gemeinde. Nur ein Rest der alten Träume, Gopher Prairie und damit die Welt zu verändern, bleibt:

«Aber in einem habe ich doch gesiegt – ich habe meine Niederlagen nie entschuldigt, indem ich mich über meine Ambitionen lustig gemacht oder so getan hätte, als wäre ich über sie hinausgewachsen. Ich lasse nicht gelten, dass die Main Street so schön ist, wie sie sein sollte! Ich lasse nicht gelten, dass Gopher Prairie großartiger oder edelmütiger ist als Europa! Ich lasse nicht gelten, dass Geschirrspülen ausreicht, um eine Frau zufriedenzustellen! Ich habe den Kampf für das Gute vielleicht nicht bis zum Ende ausgefochten, aber ich habe mir den Glauben daran bewahrt.»

Der Mann behält das letzte Wort

Der Roman endet in einem Kompromiss, das letzte Wort behält der Mann – und wir wissen nicht, ob Carols Ideale dann irgendwann beim Geschirrspülen doch noch vollends den Abfluss hinuntergehen. Ihr bis dahin geführter „Kampf“ für das Gute besteht aus einer Vielzahl von Projekten und Episoden, die Sinclair Lewis in diesem personenreichen Roman abspielen lässt – es ist keine stringente Handlung, die sich in „Main Street“ vollzieht, sondern vielmehr ein Kaleidoskop von pointierten Anekdoten, die das Provinzleben wiedergeben und die Entwicklung Carols nachvollziehbar machen. Das ist nicht ohne komische Elemente, das ist nicht ohne Tragik und Drama – es ist das Leben in der Provinz. Lewis, der durchaus einen Hang zu epischer Detailliertheit hatte, schildert das Leben in Klassen und Kasten, zwischen Kirchen und Küchen, wie es sich an jeder amerikanischen Main Street oder deutschen Hauptstraße auf dem Lande abspielen könnte. Da treten die Männerbünde auf, die untereinander Vetterleswirtschaft betreiben, die bigotte Nachbarin mit ihrem dumpf-kriminellen Sohn, die „alte Jungfer“, der verschrobene Hagestolz, der sozialistische Reden führende Outlaw, zu dem sich Carol naturgemäß hingezogen fühlt. Das Personal ist individuell charakterisiert und doch so typisch: Typen, wie man sie überall finden kann.

Vielleicht machte „Main Street“ genau diese Wiedererkennbarkeit zu so einem großen und bei Erscheinen auch heftig umstrittenen Bucherfolg – und vielleicht ist es deswegen auch bis heute noch aktuell, wird Sinclair Lewis genau deswegen gerade wieder entdeckt und gewürdigt: Weil er Menschliches, Allzumenschliches so kenntnisreich schilderte. Bei aller Ironie geschieht dies jedoch mit viel Wärme und Nachsicht für die Engstirnigkeit der in der Provinz Sozialisierten. Im Nachwort zur aktuellen Manesse-Ausgabe von „Main Street“ meint dazu Heinrich Steinfest:

„Ich finde, dass man in diesem Roman genau die Paradoxie eines Autors spürt, der diese Uniformität erkennt und mit seiner Heldin darangeht, ihr den Kampf anzusagen, der aber gleichzeitig ein Kind dieser Stadt ist und bei allem Sarkasmus, mit dem er die Bewohner entblößt und beschreibt, eine Detailversessenheit praktiziert, die eben nicht ohne Liebe möglich ist. Das zeichnet übrigens die meisten Nestbeschmutzer aus, ihre Liebe zum Detail und ihre Liebe zum Objekt der Beschmutzung.“

Ein masochistisches Vergnügen

Den Lesern, so Steinfest, verordnet Sinclair Lewis ein „masochistisches Vergnügen“. Es verwundert wenig, dass der Roman 1920 eine heftige Kontroverse auslöste. In der amerikanischen Literatur galt die Provinz bis dahin als positiver Gegenpol zu den verderbten Städten, so Mark Schorer, amerikanischer Literaturwissenschaftler und Autor von „Sinclair Lewis: An American Life“ (1961):

„Allzu betont hatten die gängigen amerikanischen Romane lange Zeit das Leben in der Provinz als beschauliches Idyll und ihre Bewohner als sympathisch, wenn nicht gar bewundernswert beschrieben. (…) In den fünfzig Jahren vor Erscheinen dieses umstrittenen Buches hatte es natürlich auch Ausnahmen gegeben, Romane, die das Leben in der Provinz mit kritischen Augen sahen – aber im allgemeinen begann man doch immer noch an die »brüderliche Dorfgemeinschaft« zu glauben; und diese Illusion war es, die «Main Street» ein für allemal brutal zerstörte.“

Meine eigene Provinzerfahrung im Gedächtnis weiß ich: „Main Street“ ist nach wie vor aktuell. Wer einmal das Leben in der Kleinstadt genoss, der weiß, wie die Uhren und Menschen dort ticken. Sinclair Lewis hat daraus einen wunderbar ironischen Roman, beinahe eine vergnügliche soziologische Studie gemacht, die ihren Bestand hat, solange Menschen in Gruppen so sind, wie sie eben sind.


Bibliographische Angaben:

Sinclair Lewis
Main Street
Übersetzt von Christa E. Seibicke
Manesse Verlag, 2018
ISBN: 978-3-7175-2454-0

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

5 Gedanken zu „Sinclair Lewis: Main Street“

  1. Tolle Rezension, wunderbar beschrieben und macht wirklich Lust auf das Buch! Ich kannte den Autor bisher nur dem Namen nach, aber jetzt habe ich richtig Lust auf das Buch bekommen.

    Liebe Grüße,
    Thomas.

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