Toni Morrison: Die Herkunft der anderen

Seit ihrem ersten Roman schreibt Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison über die Mechanismen des Rassismus. Diese Essays bieten eine Essenz ihres Denkens.

martin-luther-king-1914585_1920
Bild von nbandr auf Pixabay

„Ich erwarte von niemanden, dass er mir auf meinem Weg folgt. Aber ich bin entschlossen, dem billigen Rassismus die Zähne zu ziehen und den allgegenwärtigen, gedankenlosen, wohlfeilen Hautfetischismus zu brandmarken und auszutilgen. Denn er ist nichts anderes als ein Echo der Sklaverei.“

Toni Morrison, „Die Herkunft der Anderen“


2016 war die große Dame der amerikanischen Literatur eingeladen, an der Harvard Universität die Carles Eliot Norton-Vorlesungen zu halten. Sie steht damit in einer langen und ehrenhaften Tradition. Die ursprünglich in Gedenken an den Archäologen Norton eingerichtete Vorlesungsreihe öffnete sich von Beginn an anderen Disziplinen und Wissenschaften, steht für ein Menschenbild, das andere Kulturen, Traditionen und Meinungen zulässt – anders, als es derzeit die amerikanische Politik propagiert.

In einer Reihe mit Calvino und Gordimer

Als namhafte Vertreter der Literatur sprachen dort unter anderem schon Czeslaw Milosz, Italo Calvino und Nadine Gordimer. Dass Toni Morrison ein zutiefst politisches und derzeit äußerst virulentes Thema für die sechs Vorlesungen wählen würde, legt ihr Werk nahe. Denn das Schreiben der Literaturnobel- und Pulitzerpreisträgerin kreist seit ihrem ersten Roman „Sehr blaue Augen“ um den Themenkomplex Rassismus und Ausgrenzung und deren Auswirkungen, insbesondere auf die betroffenen Frauen.

„Was ist „Rasse“ (außer einem genetischen Trugbild), und warum kommt es auf sie an? Welches Verhalten erfordert oder begünstigt sie, sobald ihre Elemente erst erkannt oder definiert sind (soweit das überhaupt möglich ist). „Rasse“ ist die Klassifizierung einer Art, und wir gehören zur „Rasse“ des Homo sapiens, Punkt. Aber was ist dann diese andere Sache – die Feindseligkeit, der gesellschaftliche Rassismus, die Konstruktion von Andersartigen?“

Ob es der Wunsch der jungen Pecola ist, „sehr blaue“ Augen zu haben, die als Symbol für ein besseres Leben stehen (für das eines „weißen“ Kindes), oder ob es zur Gewohnheit wird, stets weiß zu tragen, um die „mitternachtsschwarze“ Hautfarbe zu präsentieren wie eine exotische Trophäe, so wie es Bride in Morrisons jüngstem Roman „Gott, hilf dem Kind“ tut: stets ist der Preis, den insbesondere schwarze Frauen zu zahlen haben, ein sehr hoher. Anpassung schützt vor Gewalt, Mißbrauch, Ausgrenzung nicht – und führt in keinem von Morrisons Büchern zu einem wirklichen Verständnis und einer echten Akzeptanz zwischen den Vertretern der beiden Gruppen. Black and white, unite, unite – in der Literatur wie in der Realität auch exakt 50 Jahre nach Martin Luther Kings Ermordung noch ein ferner Traum.

Die Konstruktion von Andersartigkeit

Denn, dies zeigen auch die Vorträge, die in Buchform 2017 bei der Harvard Press unter dem Titel „The Origin of Others“ erschienen und nun in deutscher Übersetzung durch Morrison-Experte Thomas Piltz bei Rowohlt herauskamen, die Konstruktion der Andersartigkeit, sie dient vor allem der Zementierung gesellschaftlicher Hierarchien, wie es Toni Morrison auf den Punkt bringt:

„Die Zuschreibung von „Rassemerkmalen“ mit daraus folgender Ausgrenzung hat weder mit den Schwarzen begonnen noch mit ihnen geendet. Kulturelle Besonderheiten, körperliche Merkmale oder die Religion waren und sind stets im Fokus, wenn Strategien zur Erringung von Vorherrschaft und Macht entwickelt werden.“

Wie dies funktioniert, macht Toni Morrison an einer Mischung aus eigenen Erfahrungen, historischen und literarischen Quellen (sie nimmt unter anderem auch William Faulkner und Ernest Hemingway unter die Lupe) deutlich. Klug nimmt sie dabei die Mechanismen auseinander, die sich im Laufe der amerikanischen Geschichte entwickelt haben, von der Romantisierung der Sklaverei bis hin zum „Fetisch Farbe“ – der, so macht die Schriftstellerin deutlich, beide Seiten betrifft.

Zugang zum Schreiben und Denken der Autorin

„Die Herkunft der Anderen“ bietet über seine aktuellen gesellschaftspolitischen Aspekte hinaus auch einen sehr guten Zugang in Denken und Schreiben Toni Morrisons, die in ihren Vorträgen einige ihrer eigenen Bücher, insbesondere „Paradies“, „Menschenkind“ sowie die beiden bereits hier auf dem Blog besprochenen Romane „Heimkehr“ und „Gott, hilf dem Kind“ analysiert und dem Publikum ihre Herangehensweise offenlegt.

Bedeutsam ist dieser Vortragsband jedoch in erster Linie wegen seiner politischen Dimension: Denn mag auch die einstmals gesetzlich legitimierte Rassentrennung überwunden sein, der Rassismus besteht in den gesellschaftlichen Strukturen fort (was im Übrigen auch in Sachen Sexismus zu sagen wäre). So haben schwarze Amerikaner weniger Bildungs- und Aufstiegschancen, verdienen in der Regel bei vergleichbaren Tätigkeiten weniger, sind in weitaus höherem Maße von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen und nicht zuletzt auch im höheren Maß von Kriminalisierung.

Auf Sklaverei folgt Gefängnis

„Die Masseninhaftierung ist das nächste Kapitel einer jahrhundertealten Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung“, so der Anwalt und Bürgerrechtler Josh Spickler in einem Interview zum Martin Luther King-Gedenkjahr. Und unter einem Präsidenten, der die gesellschaftlichen Konflikte noch weiter anheizt und auf die Spitze treibt, scheinen die Gräben noch tiefer zu werden.

Zwar erwähnt Toni Morrison Trump in ihren Vorlesungen nicht – vielleicht war es auch für sie 2016 noch undenkbar, so ein „Musterbeispiel“ weißen Amerikanertums könnte auf Obama folgen. Doch trotz ihrer kämpferischen Ansage, dem billigen Rassismus die Zähne zu ziehen und trotz der Hoffnung, die zwischen den Zeilen immer wieder ihren Ausdruck findet, Menschen könnten sich einfach als Menschen begegnen und die Konzepte der Andersartigkeit überbrücken, ist ihr Fazit mit Blick auf die nähere Zukunft eher resignativ:

„Mit ähnlicher Begeisterung begrüßt wie einst die Vorstellung vom amerikanischen Erwähltsein oder der Internationalismus usw., spielt die Globalisierung heute geradezu eine königliche Rolle. Denn bei all ihren Versprechungen von Freiheit und Gleichheit spendet sie ihre Segnungen mit herrscherlicher Willkür. (…) Auch wenn heute erst im Ansatz sichtbar wird, was wir für die Zukunft befürchten, darf das Versprechen der Globalisierung, unser Leben lebenswerter zu machen, als widerlegt betrachtet werden. An seine Stelle muss die ernste Warnung treten vor einem vorzeitigen Tod aller Kultur.“

Was Toni Morrison hier anspricht, ist der Zustand unserer Welt, in der „Globalisierung“ vor allem als Kürzel für die Interessen weltweit agierender Konzerne steht, in der kein Kontinent von Kriegsschauplätzen verschont ist, in der massenhaft Menschen auf der Flucht sind, in der alle humanen Errungenschaften der Nachkriegszeit – Demokratie, Aufhebung der Rassentrennung, Gleichberechtigung, Ächtung von Extremismus und Antisemitismus – zunehmend verteidigt werden müssen.

Vorwort von Ta-Nehisi Coates

Lesenswert ist der schmale Band auch durch das dezidierte Vorwort des Schriftstellers und Journalisten Ta-Nehisi Coates. Coates ist der Sohn des Gründers der „Black Classic Press“, steht also in einer familiären Tradition amerikanischer Bürgerrechtler, und sorgte vor wenigen Jahren für Diskussionen durch seine Forderung nach Reparationszahlungen der USA an ihre schwarze Bevölkerung für die Leiden der Sklaverei. Er gilt als die „schwarze Stimme“ der Gegenwart und deckt kritisch die Formen des modernen Rassismus auf.

In seinem Vorwort zu Toni Morrisons Aufsätzen fasst er diese zu einem harschen, traurigen, aber wohl unwiderlegbaren Urteil zusammen:

„Morrisons Buch steht in einer im Lauf des vergangenen Jahrhunderts angewachsenen Reihe von Arbeiten, die überzeugende Argumente für die These zusammengetragen haben, dass der weiße Rassismus unüberwindlich ist.
(…)
Wenn wir begreifen wollen, warum wir einmal mehr am Anfang stehen, können wir uns an Toni Morrison halten, eine der wichtigsten Schriftstellerinnen und Denkerinnen, die dieses Land hervorgebracht hat. Ihr Werk wurzelt in der Geschichte und vermag noch den groteskesten ihrer Episoden Schönheit abzugewinnen. Doch diese Schönheit ist kein Phantasiegebilde, und so kann es nicht überraschen, dass Toni Morrison zu jenen zählt, die verstanden haben, wie die Geschichte uns in Haftung nimmt. Die „Herkunft der anderen“ lässt uns an ihren Erkenntnissen teilhaben und wenn dieses Buch auch keinen schnellen Ausweg aus dem Klammergriff der Geschichte weisen kann, so ist es doch eine willkommene Hilfe zum Verständnis, wie wir in unsere heutige Situation geraten konnten.“

Und für den Leser kann es eine willkommene Hilfe sein um zu überprüfen, wie frei man tatsächlich selbst vom Denken in Klassifizierungen und eigenem Rassismus ist.


Bibliographische Angaben:

Toni Morrison
Die Herkunft der anderen
Übersetzt von Thomas Piltz
Rowohlt Verlag, 2018
ISBN: 978-3-498-04543-2

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

16 Gedanken zu „Toni Morrison: Die Herkunft der anderen“

  1. Ja, sehr interessanter Beitrag, liebe Birgit. Und erschreckend, was noch für ein Weg vor uns liegt, auf dem es immer auch wieder mächtige Rückschritte gibt.
    Viele Grüße, Claudia

    1. Liebe Claudia, schaut man auf den Machtpoker im Orient oder über den großen Teich und das Waffengerassel, so habe ich eher Angst, dass es gerade sehr schnell dazu kommt, dass sich die Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts wiederholen. Die Politik stimmt einen derzeit wenig hoffnungsfroh.

      1. Ja, gerade sind wir mehr in einer deutlichen Rückschrittsphase. Und es ist ja wirklich nicht so, als hätte es nicht schon vor hundert Jahren ähnliche Konflikteskalationen gehabt. Sehr beunruhigend.

  2. Danke für den tollen Tipp. Ich wollte immer schon mal was von Toni Morrison lesen, hab es aber immer wieder auf später vertagt, aber jetzt habe ich mir das Buch gleich runtergeladen, da das Thema schon so alt und leider immer noch so aktuell ist.

    1. Ja, leider scheint auch bei dieser Problematik die Zeit eher rückwärts zu schreiten … wenn Du noch mehr von Toni Morrison lesen willst, dann lege ich Dir sehr „Menschenkind“ ans Herz!

    1. Es ist leider zu lange her, dass ich „Jazz“ gelesen habe – ich kann mich erinnern, dass mir der Zugang auch nicht leicht fiel, aber ich habe es im Langzeitgedächtnis nicht richtig abgespeichert. Danke für den Link, die kritische Besprechung gibt den Impuls, evt. bald eine Re-Lektüre einzuschieben.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.