Anthony McCarten: Jack

Mit „Jack“ setzt Anthony McCarten seinem literarischen Vorbild Jack Kerouac ein kleines Denkmal. Vor allem aber spielt er lustvoll mit Identitäten.

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Bild von nextvoyage auf Pixabay

„Ich finde, es könnte immer noch etwas daraus werden, wenn ich seine Geschichte schreibe. Das Thema: das Spiel der Identitäten, dessen Opfer und die gesellschaftlichen Folgen davon. Auch Staaten spielen solche Identitätsspiele. Nimm doch nur Amerika, schizoid, wie es ist – der puritanische Despot, der sexbesessene Priester, der freiheitsliebende Kriegsverbrecher, die beiden Gesichter der Nation. Entwürfe habe ich schon. Warum soll nicht ich das sein, die eine Geschichte über einen Mann schreibt, der auseinanderfällt in einer Gesellschaft, die auseinanderfällt, und warum soll ich nicht auch die Namen der Opfer solcher Spiele nennen?“

Anthony McCarten, „Jack“


Im Grunde handelt ja jede Literatur von den großen Fragen des Seins: Geburt, Liebe, Einsamkeit, Tod, Schmerz und vom Sinn des Lebens. Und über alle dem schwebt die Frage: Was habe ich damit zu schaffen? Wer bin ich, warum und wie viele? Manche verlieren ihre Persönlichkeit in übergroßer Anpassung, andere jedoch brauchen die Abgrenzung, das Ausbrechen, das Anderssein, um sich zu finden. Oder auch nicht. Und verlieren sich am Ende auch.

Vor allem dies war ein Kennzeichen der „Beat Generation“: Das Leben, ein Rausch. Bedingungslose Freiheit, um sich selbst auszuloten und die Grenzen des Lebbaren. Die Suche nach dem Ich. Nur: Die meisten verloren sich dabei – die Beat Generation, auch eine Lost Generation. Insbesondere ihr „Star“ Jack Kerouac, der mit „On the road“ – ein in einem dreiwöchigen Schreibrausch in die Maschine gehämmerter Text – den Bestseller der Bewegung schrieb.

Jack Kerouac: ein Popstar seiner Generation

Kerouac, intelligent und gutaussehend, wurde nach Erscheinen seines Buches (1957) zum Popstar seiner Generation – von den Fans verehrt, von der Kritik und den Medien verachtet. Und er zahlte für sein exzessives Leben einen hohen Preis: Er starb, von Drogen gezeichnet, vom Alkohol aufgeschwemmt, viel zu früh, wurde nur 47 Jahre alt. Doch in dieser kurzen Zeitspanne führte er mehr Leben als die meisten anderen Menschen, spielte mehr Rollen, als jedes abendfüllendes Drama es zu bieten hat:

„Das perfekte Chamäleon. Die multiple Persönlichkeit. Der Verwandlungskünstler. Wenn ich doch bloß mein Tonbandgerät dabeigehabt hätte. Im Geiste machte ich rasch eine Liste mit nur einigen der widersprüchlichen Identitäten, die er im Laufe seines Lebens angenommen hatte: Weltenbummler / Einsiedler, psychisch Kranker / Stimme der Vernunft, Pin-up-Boy / verdreckter Landstreicher, Gefängnisinsasse / freier Vagabund, Macho-Footballstar / sensibler Künstler, Drogensüchtiger / Puritaner, revolutionärer Bohemien / Spießbürger, Frauenliebhaber / Frauenhasser, Schürzenjäger / Empfänger von homosexuellen Blowjobs, Katholike / Buddhist, erwachsener Mann / ewiges Muttersöhnchen, loyaler Freund / Judas. Die Liste war unvollständig. Sie konnte leicht dreimal so lang werden.“

Es sei gleich von vorherein gesagt: Auch wenn sich der neuseeländische Schriftsteller Anthony McCarten intensiv mit der Biographie von Jack Kerouac befasst hat, kann selbstverständlich dieses Buch die Frage „Wer war Jack Kerouac“ nicht beantworten – und will es auch gar nicht. Auch wird „Jack“ keineswegs literarisch so bahnbrechend werden wie „On the Road“: Es ist gut zu lesen, routiniert geschrieben, nicht ohne Anspruch, unterhaltsam und bewegend, aber eben alles andere als experimentell – ein Roman, der Leser vielleicht auf die Straße zu den Beatniks führen wird, aber an Tempo und Härte mit den echten Werken der Beat Generation nicht mithalten kann.

Spielerische Hommage an den Autor der Beat Generation

Dafür aber ist „Jack“, diese fiktive, spielerische Hommage McCartens an sein literarisches Vorbild, ein lustvolles Spiel mit Identitäten, mit Spannungsmomenten, mit viel Wärme und Humor, dem vor allem eines gelingt: Ein vielschichtiges Bild von Kerouac zu zeichnen, das auch dem gefallenen Helden der Beat Generation in all seinem elenden Niedergang seinen Respekt zollt, seine Würde lässt. Für McCarten war der Schriftsteller ein bahnbrechendes Idol:

„Von Kerouac lernte ich zu schreiben. Seine Engel und Dämonen waren meine eigenen. Er ist der Held meines Buches über die Frage, wer wir wirklich sind.“

Und dieser Frage geht McCarten mit großer Lust am Spiel nach – im Zentrum dabei steht jedoch weniger der mittlerweile abgewrackte alte Autor, der am Ende seiner Tage gemeinsam mit der dritten Ehefrau, die eigentlich seine Pflegerin ist sowie der alten, herrschsüchtigen Mutter in einem heruntergekommenen Haus in einem Kaff in Florida lebt. Sondern es ist eine junge Literaturstudentin die im Laufe des Buches mehrere Wandlungen ihrer Identität und Persönlichkeit erlebt – von der Biographin bis zur leiblichen Tochter des verehrten Schriftstellers und … nun, der Clou am Ende des Buchs soll hier nicht verraten werden.

Die Suche nach der Wahrheit

Die beiden, Autor und Biographin, ringen in langen Interviews miteinander, nähern sich gegenseitig an, wollen der Frage nach dem eigentlichen Kern ihrer eigenen Wesen auf den Grund kommen: Ein Vorhaben, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Für den Leser ist diese Suche nach der „Wahrheit“ durchaus spannend zu lesen und wirft einen zudem selbst auf diese Fragen zurück – wo beginnt das „Ich“, wo spielt man Rollen? Wer bin ich?

„Jack“ ist ein klug komponiertes Verwirrspiel und zugleich eine Reflexion über das Dasein als Schriftsteller und die Verantwortung eines Autoren gegenüber seinen Figuren, insbesondere dann, wenn sie ein Vorbild in der Realität haben. Wer ein wenig vertraut ist mit der Biographie von Kerouac, der kennt auch den Namen Neal Cassady: Ein Freund des Schriftstellers, portraitiert in etlichen von dessen Büchern (unter anderem als Dean Moriarty in „On the Road“ und Cody in „Visions of Cody“). Ihm – dessen Sprechweise Kerouacs Schreibstil wesentlich prägte – brachte der literarische Ruhm der „Beat Generation“ ebenfalls wenig Glück, auch er starb früh, von Drogen und Alkohol gekennzeichnet.

In „Jack“ konfrontiert die Biographin Kerouac mit dessen Vergangenheit, gräbt in den Dokumenten, will den Ursachen nach zerbrochenen Freundschaften und gescheiterten Lieben auf den Grund kommen. Ja, eigentlich fragt sie den Schriftsteller, der nur noch Briefe schreibt, der keinen mehr an sich heranlässt, der mit dem Vorsatz lebt, sein „Ich“ umzubringen, sich dabei zu Tode säuft und Meister Eckhart zitiert, nach der Ursache seines  gescheiterten Lebens. Ob fiktiv oder real: Man weiß, wie schwer es ist, sich solchen Fragen zu stellen. Und aus der Spannung, ob darauf vielleicht doch noch eine Antwort kommt, lebt ein Stück weit auch dieser Roman.

Einige Vorkenntnisse über die „Beat Generation“ schaden bei der Lektüre nicht, zugleich kann das flüssig zu lesende Buch aber auch ein Einstieg sein, sich mit dieser literarischen Epoche und ihren Helden ein wenig mehr zu beschäftigen.


Bibliographische Angaben:

Anthony McCarten
Jack
Übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Diogenes Verlag, 2018
ISBN: 978-3-257-06856-6

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

26 Gedanken zu „Anthony McCarten: Jack“

    1. Danke, Clemens – aber beachte auch meine einschränkenden Worte im Beitrag zum Buch: Der Rhythmus des Jazz, den Kerouac ja auch in seinen Stil integrierte, der ist bei McCarten leider nicht zu spüren – ich bin mir nicht ganz sicher, ob es Dir zusagt.

      1. Na. Diogenes habe ich viele Bücher, und die ich habe, sind prima! Zweitens erwarte ich bei McCarten weniger Jazz sondern Jack. Die Auseinandersetzung mit dem Idol, und das auf eigenem Trip. Als ich Kerouac gelesen habe damals, konnte ich gerade mal Clapton buchstabieren, da war mir Jazz noch fremd. Und glaube mal nicht, dass bei mir alles Jazz sein muss. Nein, nochmal. Deine Rezension hat so einen Appetit gemacht, da darf es dann auch nach BitterLemon schmecken. Wenn Du so darüber schreibst, kann ich mir nicht vorstellen, dass es bei mir nicht ankommt. Knapp dreihundert Seiten werde ich schaffen, ohne Charlie Parker zu vermissen. Nochmal Danke. Wenn es schließlich gar nicht aufgehen will, können wir ja nochmal drüber sprechen. Liebe Grüße! Clemens

  1. Als ich jung war, habe ich Kerouac verehrt, seine Bücher verschlungen. Ich weiss noch nicht, ob ich das Buch von McCarten lesen werde. Vielleicht bin ich zu wenig nostalgisch… Aber danke für die spannende Buchrezension.
    LG Franz

    1. Lieber Franz, danke für den Kommentar. Ich glaube auch, das Buch ist eher was für Einsteiger – eingefleischte Kerouac-Verehrer werden es wohl eher nicht so mögen. Und die Lektüre seiner Bücher sind, das geht mir auch so, mit bestimmten Lebensphasen, einem Lebensgefühl verbunden, das kann man nicht so einfach wieder hervorzaubern…Herzliche Grüße, Birgit

    1. Du magst es ja eher etwas düster, von daher ….? Aber ich bring mein Leseexemplar am Mittwoch mit, dann kannst du auf jeden Fall mal einen Eindruck gewinnen. Freue mich schon! Gruß, Birgit

      1. Zuwenig düster, meinst? Hmmm. Sonne schadet ab und an auch nicht. Mal sehen. Freu mich jedenfalls auch schon auf Mittwoch, Jack hin oder her… ;-))
        Viele Grüße,
        Gerhard

      2. Im Gegenteil – lieber Sonne und arschkalt als grauer Nebel und nur nasskalt. Meinst Du, die bringen meinen Satz heute in der Wettervorhersage der Tagesschau? Ja, freue mich auch, wird mal wieder höchste Zeit!!!

      3. Ich würd ihn in der Tagesschau bringen, aber ich bin ja nicht die blonde Märchen-Tante, die die täglichen Katastrophen von der Wetter- und anderweitigen Fronten verkündet. – Yo, höchste Zeit 🙂

  2. Liebe Birgit, eine tolle Besprechung – ich bin ehrlich: etwas ratlos noch mit dem Buch. Aber auch noch nicht ganz durch, deshalb habe ich Geduld. Aber ich würde vieles eins zu eins unterstreichen, was Du hier wieder gewohnt fundiert, leidenschaftlich und eloquent darstellst. Jetzt wird es mir noch schwerer fallen, meine Besprechung zu schreiben – vielleicht aber ist das hier wie immer ein Ansporn. DANKE mal wieder und bis bald, Bri

    1. Es gibt ja in letzter Zeit sehr viele Romane über Schriftsteller – ich hab da manchmal so meine Probleme mit dieser Grauzone, wenn ich nicht weiß, ist das nun Fiktion oder tatsächlich eine biograpische Begebenheit. Das hat nun McCarten ganz clever gelöst, ich fands auch spannend, so wieder einiges über Kerouac, die anderen der Beat Generation, aber vor allem über seine Frauen zu lesen – da werde ich mal schauen, ob es gute Sekundärliteratur gibt. Dennoch hat mir eigentlich die Kraft, Energie, die Wildheit gefehlt, die der Beat Generation angemessen wäre.

      1. Wozu mich McCarten schon mit seinem letzten Buch über Edison gebracht hat, ist, mich über das Buch hinaus mit den Personen zu beschäftigen. Also Kerouac, da hab ich zwei Bücher im Regal stehen – gelesen, versteht sich – Unterwegs und Maggie Cassidy. An zweiteres habe ich nur noch ganz vage Erinnerungen, die Kraft, Energie und Ungezügelheit der Beat Generation aber schwingt da stark mit. Was mir nicht bewußt war, ist zum Beispiel, dass eine meiner Lieblingsplatten – Clutching the straw von Marillion, deren Texte ich heute zum Teil noch auswendig mitsingen kann – fast nur von Kerouac und Unterwegs handelt. Das hätte ich ohne diese Lektüre nicht erfahren – ist aber meiner eigenen Neugier geschuldet. Ja, wahrscheinlich ist dieses Fehlen auch Teil meiner immer noch bestehenden leichten Ratlosigkeit 😉 LG

    1. Naja, da würde ich dann doch eher ein Buch von Kerouac lesen anstelle Wikipedia? On the road ist ja in jeder gut sortierten Buchhandlung da oder sofort zu bestellen, so als Einstieg.

      1. 😂 Ich bin sogar Buchhändlerin, also an den Bezugsquellen soll es nicht scheitern… 😉
        Ich habe tatsächlich nur noch nie das Bedürfnis gehabt, „On the Road“ zu lesen, allerdings war eine Kollegin so begeistert von „Jack“, daß ich es mir mitgenommen habe. Vielleicht macht das ja dann doch Lust auf Kerouac, ich frage mich nur, ob Vorwissen nötig wäre.

      2. On the road ist auch vor ein paar Jahren in der „Urfassung“ erschienen – das habe ich mir gerade – auch wegen Jack – aus der Bib geholt 😉 Und wenn schon nicht das Buch, vielleicht dann den Film …

    1. Hallo Marina, gerne – aber ich hätte jetzt gar nicht gedacht, dass dich das (ein Buch über einen Beat-Autoren) thematisch überhaupt interessiert, da bin ich jetzt überrascht :-). Birgit

  3. „Die meisten verloren sich dabei“ – findest Du? Die meisten bekannten Beatniks & Trabanten haben doch ein stolzes Alter erreicht… angesichts der Lebensführung auf den ersten Blick verwunderlich. Allerdings waren es eben doch Bürgerkinder, kamen oft aus und gingen in gesicherte Verhältnisse… übernahmen Dozenturen, gründeten Schulen. Snyder wird diesjahr 88, was beeindruckend wäre, würde Ferlinghetti nicht zwei Monate vorher 99 (!)
    Faszinierend auch welches Team an Anwälten Keseys Libertinage absicherte (nachzulesen bei Tom Wolfe).
    Und Cassidy – ich kenne kein Selbst- noch ein Fremdzeugnis, nachdem der je irgendeinen Schritt bereut hätte… „On the Road“ gestorben, zwar relativ jung, aber verloren?

  4. Liegt hier und will gelesen werden. Danke für die Motivation! Lächeln, Fabian.

  5. Darüber, ob die «Beat Generation» eine «Lost Generation» war – pardon: Ist – haben wir ja bereits gesprochen… Die Frage sei dem geneigten potentiellen Leser aber auch hier noch einmal mit auf den Weg gegeben. Vor allem, wenn «Originaltext» gelesen wird !

  6. Liebe Birgit,
    ohne deinen Hinweis wäre mir wahrscheinlich Anthony McCartens neues Buch entgangen. Ich fand besonders sein Buch Hand aufs Herz eindrucksvoll.
    Bevor ich aber zum Lesen übergehe werde ich heute mit einem neuen Format der Zeichnung beginnen. Mal schauen, ob es klappt.
    Liebe Grüße sendet dir Suanne

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