
„Das Letzte, was sie von ihm sahen, war seine große Gestalt, ungebeugt, aber gedemütigt, als er aus dem Bus ausstieg, und so wie das Sonnenlicht zuvor das junge Eschenlaub umschmeichelt hatte, schabte es jetzt über das metallene Armband, mit dem seine Hände gefesselt waren.
Es war alles so schnell gegangen, so „unspektakulär“, wie sie fanden, dass keiner recht wusste, was er sagen sollte.“
Edna O`Brien, Die kleinen roten Stühle
So unspektakulär wie die Festnahme eines der schlimmsten europäischen Kriegsverbrecher, so scheinbar unspektakulär beginnt dieses Buch. Ein Fremder kommt in eine abgelegene irische Gemeinde Cloonoila. Geheimnisvoll und charismatisch. Und trotz seiner esoterisch angehauchten Therapiepraxis, die er bald eröffnet, gewinnt „Dr. Vlad“ die Sympathien der Dorfleute, des Pfarrers und der anderen Obrigkeiten, der Kneipengänger, vor allem aber auch die Herzen der Frauen und Kinder.
Ganz sacht, ganz sanft führt die großartige irische Erzählerin Edna O`Brien – hier kongenial übersetzt von Kathrin Razum und Nikolaus Stingl – in das Geschehen ein. Und dennoch spürt man, dass unter der idyllischen Oberfläche das Böse lauert, dass es darauf wartet, hervorzubrechen. Es wird die attraktive Fidelma treffen, mit aller Grausamkeit und Gewalt.
Die übersehene Frau und der Mörder
In Fidelmas Wesen liegt es, anders zu sein, auszubrechen aus diesem Soziotop, in dem sie kinderlos, die Reste eines unrentablen Modegeschäfts abwickelnd, an der Seite ihres muffigen Ehemann unausgefüllt verharrt. Der Ausbruch wird anders, grausamer kommen, als sie es sich denkt – und doch vielleicht in ihren Träumen schon vorwegnimmt. In ihren Träumen nimmt Vlad Besitz von ihr, zeugt ihr ein Kind, „unser Kleines, kostbare Frucht unseres Verrats.“
„Es war der Nebel, der mich dazu brachte. Ein weißer Nebel, der wie ein fließender Mousselin hin und wieder unsere Gegend einhüllt. Manchmal kommt er nachts, manchmal in den frühen Morgenstunden. Er setzt sich über Grenzen hinweg, verwebt benachbarte Grafschaften. Ich war darin unsichtbar und mein kleiner hellgrüner Citroën ebenso, ungesehen schwebten wir durch ihn hindurch.“
Gewaltszenen, die an die Grenzen gehen
Tatsächlich wie benebelt erscheint Fidelma, als sie Vlad bedrängt, ihr ein Kind zu zeugen – und der Fremde zeigt bei den intimen Treffen erstmals sein eigentliches, sein wahres Gesicht: Dominant und manipulierend, ohne Empathie. Als durch einen Zufall seine wahre Identität an das Licht kommt, ist es die schwangere Fidelma, die auf unbeschreiblich schreckliche Weise einen Preis für ihren Wunsch zu zahlen hat. Wie ihr das ungeborene Kind genommen wird, das ist eine Szene von unvorstellbarer Grausamkeit, für mich war sie kaum auszuhalten – und dennoch ist sie zugleich notwendig für die weitere Entwicklung dieses Romans. Der Leser wird, buchstäblich mit der Brechstange, mit der Fidelma vergewaltigt wird, von der Fiktion in die Realität getrieben. Was Menschen anderen Menschen antun können, das, so zeigt diese Schlüsselszene vielleicht sogar eindrücklicher, als es die in einem nüchternen Gerichtssaal verlesenen Protokolle vermocht hätten. Diese Grausamkeit, sie entspringt nicht der Phantasie einer Autorin, sondern sie ist in der Welt, sie ist bittere Realität.
Auch Martin Zähringer geht in seiner Buchvorstellung für den NDR auf diese Szene ein:
„Die nun geschilderten Grausamkeiten sind fiktiv, aber sie sind keineswegs nur Schockeffekte einer Romanerzählung. Denn die literarisch in Irland inszenierte Sphäre der Gewalt führt nach und nach zu ihrem Sitz im wirklichen Leben: Das ist die Stadt Sarajewo, die im Bosnienkrieg vom 5. April 1992 bis zum 29. Februar 1996 von bosnischen Serben und Paramilitärs belagert und bombardiert wurde.“
Radovan Karadžić als Vorlage
Dr. Vlad, das ist der Kriegsverbrecher Radovan Karadžić, der 2016 vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ein Psychiater (der unter anderem auch für den FC Barcelona tätig gewesen war) und ein Poet. Und zugleich ein Massenmörder. Unfassbar, unbegreiflich: Wie kann das zusammen gehen? Wie kann ein Mensch überhaupt zu solchen „un“menschlichen Taten fähig sein?
Das ist die Grundfrage, die Fidelma – die aus der Gemeinschaft verstoßen, vom Mann verflucht, ins englische Exil vertrieben, ihr Leben als Reinigungsfrau in London fristet und dort andere Ausgestoßene, Flüchtlinge, Verfolgte und deren traumatische Geschichten kennenlernt – schließlich bis nach Den Haag treibt. Und die Edna O`Brien zu diesem Roman, ihrem großartigen Alterswerk, bewegte.
Die Banalität des Bösen
In einem Interview mit Thomas David in der NZZ äußert sich die 87jährige dazu:
„Wie kann ein Mann für den Tod Tausender Menschen verantwortlich sein und sich zum Abendessen an einen Tisch setzen, ohne zusammenzubrechen? Wie kann man ein Leben als Despot führen, ohne in einem Ozean der Schuld zu versinken? Für meinen Roman bediente ich mich eines Kriegsverbrechers aus jüngerer Zeit, der sich bereits in Den Haag befand, als ich mit der Arbeit an dem Buch begann. Ich sah Radovan Karadžić oft im Fernsehen: diesen Ritter in seiner Rüstung, der mit wehendem Haar einen Berg erklomm. Ich habe seine Eitelkeit gesehen, seinen Eroberungs- und Besitzwillen. Den Gotteskomplex, der Menschen wie ihm eigen ist.“
Doch, so sagt sie im Gespräch weiter, eine Antwort darauf, ob es im Menschen eine Saat des Bösen gibt, die fand sie beim Schreiben und bei der Verfolgung des Prozesses – auch Edna O`Brien war in Den Haag anwesend – so wenig wie ihre Figur Fidelma bei einer letzten Begegnung mit Dr. Vlad Antworten erhält. Auch in der fiktiven Begegnung zeigt sich Vlad so uneinsichtig wie es der tatsächliche Radovan Karadžić im Gerichtssaal war:
„Ich bin Dichter, ich bin Künstler, ich bin Humanist, Herr des Himmels, und werde in diesem stinkenden Universum für Verbrechen eingesperrt, die ich nicht begangen habe.“
Seine zentrale Frage, die nach der Ursprung des Bösen, kann der Roman nicht beantworten. Aber Edna O`Brien gelingt es auf eindrückliche, bewegliche Art und Weise zu zeigen, welche Folgen die Grausaumkeit für die Opfer hat, welche Schmerzen der Fanatismus verursacht, wie viel Leid Unschuldige erdulden müssen. Ein Buch, das Spuren hinterlässt.
PS: Der Titel „Die kleinen roten Stühle“ erinnert an die Gedenkaktion in Sarajewo am 6. April 2012, zwanzig Jahre nach Beginn des Bosnienkrieges. 11 541 rote Stühle an der Hauptstraße standen für Menschen, die während der Belagerung in Sarajewo umgekommen waren, 643 kleine rote Stühle standen für die ermordeten Kinder.
Verlagsinformationen zum Buch:
Edna O’Brien
Die kleinen roten Stühle
Übersetzt durch Kathrin Razum und Nikolaus Stingl
Steidl Verlag, 2017
ISBN 978-3-95829-369-4
Hab es mir in der Bibliothek vormerken lassen. Danke für diese Rezension und das aufmerksam machen auf dieses Buch.
Gerne. Einer der besten Romane, die ich in der vergangenen Zeit gelesen habe.
Auch ich möchte für die sorgfältige Rezension danken, die sich nicht der aus dem Jugoslawienkrieg sattsam bekannten Klischees bedient. Ich kenne nämlich auch die “andere Seite”. Ein paar Jahre lang habe ich über die griechische linke Hilfsorganisalion “Zug der Solidarität” serbische Waisen aus Bosnien finanziell unterstützt. Ungefähr 60 000 waren es, die in diesem Krieg ihre Väter und ihre Heimat verloren und in bitterster Armut überleben mussten und müssen.
Wer hat diesen Krieg angerührt? Die Schuldfrage muss weiträumiger gestellt werden und darf sich nicht auf Einzeltäter beschränken, wenn ähnliches Elend in Zukunft vermieden werden soll.
Am Ende gibt es auf allen Seiten nur verlieren. Aber in diesem Roman geht es nicht darum, die Ursachen für die Balkankriege aufzuschlüsseln, sondern tatsächlich um ein konkretes Einzelbeispiel eines Massenmörders, anhand dessen die Frage gestellt wird, ob das Böse erkennbar ist, wie es in einem Menschen angelegt ist, wie sehr sich einer auch so fanatisieren kann, dass er die Fragen von Schuld und Moral nicht mehr anerkennt. “Vlad” ist ein Beispiel – das könnten auch andere sein, aber an Karadžić wird dies auch im Realen sehr deutlich.
Schön, dass du es auch vorstellst, Birgit! Möge diese starke Buch noch viele Leser finden …
Das hoffe ich auch, ein sehr wichtiges, tiefgründiges Buch.
Klingt ausserordentlich gut.
Ja, das ist es auch: Außerordentlich, außergewöhnlich. Philip Roth bezeichnet es als Meisterwerk.
Danke für die Vorstellung des Buches, ich habe es mir vorgemerkt.
Schön! Weitere Besprechungen findest Du auch auf den Blogs “Literatur leuchtet”, “Zeichen und Zeiten” und “54books”.
Sehr beeindruckend. Man hat sowieso den Eindruck, dass bei diesem Krieg nur notdürftig die Gräben zugeschüttet wurden und man nun hofft, dass Gras über die Sache wächst. Eine Aussöhnung findet nicht statt, Ressentiments werden gepflegt, siehe die Reaktionen in Kroatien auf die letzten Urteile aus Den Haag.
Das ist auch meine Befürchtung: Das ist immer noch ein Brandherd. Die Balkankriege zeigen auf erschütternde Weise, was Kriege auslösen: Weiteren Unfrieden noch über Generationen hinweg.
Habe O´Brians Roman sehr fasziniert und bewegt, manchmal mit verhaltenem Atem gelesen – nein, nicht ,,gefressen”. Es hat mich auch erinnert an um 2013 gehörte und gelesene entsetzlicher Schilderungen bosnischer Emigrant(inn)en, welche u.a. auch den Beschuss Sarajevos erlitten hatten. Da fragt sich, was hatte jenes Gemetzel denn verursacht? Da assoziiere ich auch die Worte, die Tolstoi nachgesagt wurden: ,,Solange es Schlachthäuser gibt, solange wird es auch Kriege geben.” In diesem Buch wird ja wie gaanz normal hingestellt, dass Schlachtprodukte aufgetischt zu werden hätten. Andererseits erreichten mich auch Berichte über einst gegeneinander religiös o.a. verfeindete Serber(innen) und Bosnier(inne)n, die z.B. durch eine Gemeinschaft mit der Lehre Bruno Grönings, auf geistigem Wege ihren Hass abgaben und sich miteinander von Liebe leiten ließen, bzw. noch lassen. Im Buch hier hat mir sehr gefallen, dass dem ,,Dr. Vlad” nur wenig Text gewidmet wurde, mehr aber den sonstigen Leidtragenen, vor allem der in die Irre gegangenen ,,Fidelma”.