Ite Liebenthal: Gedichte

Die Philosophin und Lyrikerin Ite Liebenthal veröffentlichte schon früh eigene Gedichte. Unter den Nationalsozialisten verstummte sie, 1941 wurde sie ermordet.

liebenthal
Bild: (c) Michael Flötotto

Mein Vaterland, du bist vor mir gestorben,
doch wirst du auferstehn und ich mit dir.
Die dich vernichteten und mich verdorben,
sie sind verflucht, und leben werden wir!

Ite Liebenthal (1886 – 1941)


Dass diese ausdrucksstarke Lyrikerin, die von Rilke gefördert wurde, nicht ganz ins Vergessen geriet, ist einigen wenigen zu verdanken: So vor allem dem Literaturprojekt „Poesie schmeckt gut“. Die beiden Herausgeber widmeten ihr einen Band ihrer Lyrikreihe „Versensporn“. Enthalten sind darin nicht nur die frühen Gedichte, die Ite Liebenthal zu Lebzeiten veröffentlichen konnte, sondern auch Texte aus dem Nachlass. Sie stammen von Abschriften, die sich bei den Nachkommen ihrer Ite Liebenthals erhalten hatten: Während ihre Schwester und ihr Bruder nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten emigrierten, entschied sich Ite Liebenthal, in ihrem Geburtsort Berlin zu bleiben, allein, vereinsamt und in ständiger Furcht vor der Verfolgung. Eine fatale Entscheidung: 1941 wurde sie von Berlin nach Riga deportiert, schon wenige Tage später wurde sie – wie alle 1052 Insassen dieses Massentransportes – im Wald von Rumbula ermordet.

Der erste Gedichtband erschien 1906

Das Vaterland, es dankte ihr die Treue schlecht. Mit ihr starb eine weitere kluge, starke Stimme, eine Vertreterin der weiblichen jüdischen Intelligenz. Die junge Ite Liebenthal ist eine begabte Schülerin, ein kreativer Geist: Bereits als 20-jährige veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband „Aus der Dämmerung“, der 1906 erscheint.

Ihre frühen Gedichte sprechen vor allem von der Sehnsucht nach einem Gegenüber, nach einer geistigen und seelischen Verwandtschaft oder gar Verbrüderung:

Nachts gehen alle Uhren lauter,
und jede Stunde schlägt mit Doppelklang.
Doch auch dein Herzschlag ist mir dann vertrauter.
Laß gehn die Zeit. Mir ist nicht bang.

In deiner Seele Brudernähe
beruhigt sich die Angst der Mitternacht.
Und wenn mir morgen bitter Leid geschähe, –
du bist bei mir! du hast mit mir gewacht.

Manches Mal auch etwas pathetisch, elegisch im Ton:

Wüßt ich, daß ich nur zu sterben brauchte
und mein Herz, in Silber dann gefaßt,
einen Talisman für dich bedeute:
Ach, ich tötete mich heute! (…)

Sie schreibt von Hingabe, von der Suche, aber auch von Trennungsschmerz und dem Wissen darum, dass alles endlich ist:

Nur zu Gruß und Lebewohl berührten
wir einander scheu mit kalten Händen.
Und es war, als ob in Feuerbränden
wir mit ölgetränkten Zweigen schürten.

Und wir sehen, wie die Flammen stiegen,
doch verrieten nicht, daß wir es sahen.
Und so fühlten wir das Ende nahen,
lächelten, verließen uns und schwiegen.

Von 1909 bis 1916 studierte sie Philosophie an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Sie hört unter anderem Vorlesungen zu Literatur und Philosophie bei Emile Haguenin, Adolf Lasson, Heinrich Rickert und Karl Jaspers. Die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen schlägt sich auch in ihrer Lyrik nieder, der Ton wird mit der Zeit reifer, das Suchen weniger drängend, in die Gedichte tritt mehr und mehr Ruhe und ein wenig Gelassenheit ein – doch Schwermut bleibt der Grundton.

Still kehr ich heim von langen Wanderfahrten.
Noch decken Nebel meine liebe Küste,
als ob ein Freund mir langsam erst mit zarten
Trosthänden diese Welt enthüllen müsste.

Nimm fort das Tuch! Ich weiß: in weiter Fläche
dehnt sich das Land zur Ferne. Seine Wunder
sind dunkle Wälder, stille, breite Bäche
und Gärten unter Birken und Holunder.

Rilke ist von ihren Werken beeindruckt. Am 18. Januar 1922 schreibt er in einem Brief an Ite Liebenthal:

„Noch diesen Morgen, als ich die ›Gedichte‹ wieder vornahm, fiel mir eine köstliche alte Apotheke ein, die ich vor Jahren einmal in der einstigen Bischofstadt Carpentras, um ihres künstlerischen Werthes willen, zum Kauf angeboten bekam. Ihre Verse, heute, brachtens mit sich, daß ich auf einmal im Dunkel des schönen, offenen, die Wände auffüllenden Geschränkes, die geschlossenen Vasen vor mir sich hinreihen sehe: jede anders im blaublumigen, ausdrucksvollen Ornament, und doch wieder alle gleich; jede ein Gift, eine Gluth oder eine Kühlung einschließend, mit dem vollen großen, ja geschwungenen Namen dieses Inhalts, ihn so offen ansagend ― und doch wieder ihn völlig verhaltend, jede einzelne, in ihrer, die Verschließung so unübertrefflich aussprechenden Gestaltung…“

Sein Bemühen, ihre Gedichte beim Insel Verlag unterzubringen, bleibt jedoch vergeblich. Zwar erscheint 1921 noch ein weiterer Lyrikband zu ihren Lebzeiten, „Gedichte“ im Verlag Erich Lichtenstein in Jena, doch danach wird es leiser um sie, die trotz ihres Studiums ihren Lebensunterhalt als Sekretärin fristen muss. In der Folge erscheinen nur noch einige Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften, was ihr Leben darüber hinaus ausmachte, was ihren Alltag prägte, was ihre Wünsche und Träume waren, davon ist wenig mehr bekannt.

Erhalten blieben ihre Gedichte, die von einer tiefen Sehnsucht sprechen:

Ich hab meine Füße wund gegangen,
weißt du, um wen?
Und konnte doch nicht bis zu dir gelangen.
Ich hab dich nicht einmal von fern gesehn.

Ich hab meine Hände müd gerungen,
weißt du, warum?
Nicht Rufes Hauch ist bis zu dir gedrungen.
Die Welt ist allzuweit, und du bliebst stumm.

Ich hab meine Augen blind geweint,
frage nicht, wann.
Ich weiß schon lang nicht mehr, ob Sonne scheint,
der Tag sich wendete und Nacht begann.


Bibliographische Angaben:

Ite Liebenthal
Versensporn – Heft für lyrische Reize Nr. 10.
Herausgegeben von Bo Osdrowski & Tom Riebe.
Edition Poesie schmeckt gut, Jena 2013.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

23 Gedanken zu „Ite Liebenthal: Gedichte“

    1. Danke für den Hinweis auf den Shortfilm – ja der passt sehr schön zu dieser sacht-melancholischen Dichterin.

  1. …“geht der Wind um dein Haus, fürchte Dich nicht, ich bin im Winde…“

    Erste Verszeilen eines großen Gedichtes…ich habe Ite Liebenthal soeben gesucht, kannte sie nämlich vorher noch nicht, danke liebe Birgit! Wie oft schon hast Du verstummten Stimmen Lebendgehör verschafft. Diese seelsamen Gedichte sind wie eine Musik, eine kraftvolle und den Moden der Zeit übergeordnete. Herzliche Grüße von der Fee, nun noch einmal das perfekte Blumenbeitragsbild bestaunend, so ein überfiligranes Pompösrot…ach….🤗✨

    1. Ich bin immer wieder überrascht und begeistert, dass es noch so viele schöne Dichter und Dichterinnen zu entdecken gibt. Danke für die Vorstellung, ohne Dich ginge vieles unter.

      1. Liebe Gerti,
        ganz herzlichen Dank für Deinen lieben Kommentar! Ja, es gibt so vieles zu entdecken – aber ich bin hier ja nur die Vermittlerin! Dass diese Dichterinnen und Dichter nicht ganz vergessen werden, das liegt ja vor allem an der engagierten Arbeit von Verlagen, Herausgeberinnen und Herausgebern und Forschenden, die da auf Spurensuche gehen. Oft sind es ja die kleinen Projekte, die ich auch erst kennengelernt habe, seit ich blogge. Viele Grüße von Birgit und danke für deinen Besuch hier!

  2. Danke für die Gedichte am Morgen. Und hättest du nicht gesagt, dass sie mit Rilke in Verbindung stand, hätt ich’s mir gedacht. Ähnlicher Rhythmus, aber stärkere Bilder.

    1. Ich weiß nicht … da finde ich jetzt weniger Anklänge an diese Dichterin. Ich meine, sie ist natürlich geprägt auch vom „Sound“ ihrer Zeit, aber schon sehr eigenständig auch.

  3. Ich würde gern ein „Gefällt mir“klicken. Doch leider finde ich diese Funktion nicht mehr. Absicht oder nur bei mir so?
    Besonders das letzte mag ich sehr. Ich kannte Ite Liebenthal vorher gar nicht – deshalb Danke dir!

    1. Nein, keine Absicht, aber auch nicht nur bei Dir so … irgendein Update hat mir alles durcheinandergewirbelt. Aber so kommentieren mehr – und danke Dir, freut mich, dass Dir Ite Liebenthal zusagt!

  4. Liebe Birgit,
    du gibst vielen zu unrecht Ermordeten hier auf deinem Blog eine Stimme und hilfst, gegen das Vergessen anzukämpfen.
    Die Art deiner Beiträge erfüllt mit mit Trauer und Zorn und Unverständnis, wie Menschen sein können. Ich fürchte, das hat sich nicht geändert.
    Liebe Grüße aus dem heute sonnigen Berlin von Susanne

  5. Pingback: Emma Bonn

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