Wolfgang Borchert: Hinter den Fenstern ist Weihnachten.

Diese Weihnachtsgeschichte von Borchert wurde erst 1961 in der Erzählsammlung „Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß“ veröffentlicht.

lichterkette-3834926_1280
Bild von Couleur auf Pixabay

Im Bunker hält man das nicht aus. Und als dein Gesicht von dem Auto hellgemacht wurde, sah ich, daß du blaue Schatten um die Augen hast. Vielleicht ist das eine, bei der man`s leichter hat, dachte ich. Deswegen laufe ich hinter dir her.

Wir beide sind ganz allein in der Stadt. Hinter den Fenstern, da ist Weihnachten. Manchmal sieht man hinter den Gardinen die Kerzen vom Tannenbaum. Im Bunker könnte man das jetzt nicht aushalten, wenn sie singen. Du hast blaue Schatten unter den Augen. Vielleicht bist du eine von denen, die abends unterwegs sind. Die Schatten hast du von der Liebe. Aber jetzt sind sie ganz anders, jetzt singen sie Weihnachtslieder und schämen sich, weil sie weinen müssen. Ich bin weggegangen.

Ob du ein Zimmer hast? Und einen Tannenbaum? Mein Gott, wenn du ein Zimmer hättest? Merkst du, daß ich hinter dir hergehe? Wir sind ganz allein in der Stadt. Und die Laternen stehen Posten. Die Posten haben Zigaretten, weil heute Weihnachten ist, und die glimmen im Finstern: Hörst du, hinter den Fenstern machen sie Weihnachten. Sie sitzen auf weichen Stühlen und essen Bratkartoffeln. Vielleicht haben sie sogar Grünkohl. Aber dann sind sie reich. Aber sie haben ja auch Gardinen, dann haben sie auch Grünkohl. Wer Gardinen hat, ist reich. Nur wir beiden sind draußen. Da hast blaue Schatten an den Augen, das hab ich gesehen, als das Auto vorbeifuhr. Ich möchte, daß du die Schatten von der Liebe hast. Ich weiß sonst nicht, wohin. Im Bunker singen sie. Das hält man nicht aus.

Immer wenn eine Laterne kommt, seh ich deine Beine. Da kann man schon allerhand dran sehen, wie die Beine sind. Die anderen reden auch immer von den Beinen bei ihren Weibern. Sie sagen immer Weiber. Wenn sie abends nach Hause kommen, reden alle von ihren Weibern. Weiber, sagen sie immer. Immer bloß so Weiber. Die ganze Bude ist dann voll davon, wenn sie von den Beinen reden, von ihrer Brust und der rosa Unterwäsche.

Merkst du nicht, daß ich immer hinter dir hergehe? Immer, wenn eine Laterne kommt, hälst du den Kopf weg. Ich bin dir wohl zu klein, wie? Ja, mit einmal ist man wieder zu klein. Für den Krieg war man auch nicht zu klein. Nur für so was, was schön ist. Du brauchst gar nicht so zu rennen, ich lauf dir doch nach. Wenn ich denke, was du noch alles hast außer den Beinen, dann kann man sich schon allerhand ausdenken. Die andern haben das jeden Abend. Unter den Laternen sind deine Knie ganz weiß. Immer wenn ich dich bei einer Laterne überhole, hälst du dein Gesicht weg.

Im Vorbeigehen kann ich dich riechen. Aber du merkst gar nicht, daß ich was von dir will. So schnell wirst du mich nicht los. Ich weiß sowieso nicht, wohin. Bei solchem Nebelwetter ist es im Bunker immer naßkalt. Kann doch sein, daß du ein Zimmer hast. Bloß nicht bei deinen Eltern. Bei Freunden. Dann kannst du mich doch mitnehmen. Dann sitzen wir nebeneinander auf deinem Bett. Und der Nebel und die Kälte stehen vor der Tür. Und dann sind deine hellen Knie ganz dicht neben mir. Und du hast einen Tannenbaum. Und dann teilen wir uns ein Stück Brot. Du hast doch bestimmt Brot. Die andern erzählen immer, daß sie von ihren Weibern was zu essen kriegen. Ihr eßt ja nicht soviel wie wir. Wir haben meistens Hunger. Ich auch, du. Aber du hast vielleicht was. Wenn du bei deinen Eltern wohnst, das ist natürlich Mist. Dann müssen wir unten im Treppenhaus bleiben. Das geht auch. Die andern bleiben auch oft mit ihren Weibern im Treppenhaus. Aber Weihnachten? Mein Gott! Im Treppenhaus.

Du riechst gut. Ich gehe ganz dicht hinter dir und kann dich riechen. Mein Gott, du riechst so nach allerhand. Da kann man sich allerhand bei vorstellen. Wenn das bei uns im Bunker man mal so riechen würde. Aber da riecht es immer nach Tabak und Leder und nassen Klamotten. Du riechst ganz anders, so was hab ich noch nie gerochen. Bei der nächsten Laterne rede ich dich an. Die Straße ist gerade ganz leer. Aber wenn ich dich anrede, ist vielleicht alles vorbei. Du antwortest vielleicht gar nicht. Oder du lachst mich aus, weil ich dir zu jung bin. Älter als zwanzig bist du aber auch noch nicht.

Da kommt die Laterne. Deine Knie sind ganz hell im Dunkeln. Die Laterne kommt. Jetzt muß ich gleich was sagen. Oder doch nicht? Vielleicht ist dann alles aus. Die andern können das alle. Die haben alle ihre Weiber. Da ist die Laterne. Wenn ich jetzt rede, ist vielleicht alles aus. Die Laterne. Nein, ich warte noch ein paar Laternen. Noch nicht. Der Nebel ist gut. Du siehst wenigstens nicht, daß ich noch nicht so alt bin. Aber ich kenn welche, die haben schon eine, und sind auch nicht älter. Ja, jetzt ist man mit einmal wieder zu klein. Fürs Soldatsein war man nicht zu klein. Und jetzt läuft man rum. Im Nebel nachts. Und jeden Abend reden die andern von ihren Weibern. Davon kann man nachher nicht einschlafen. Die Luft im Bunker ist dann ganz voll davon. Von ihren Weibern. Und von dem nassen Nebel nachts. Draußen. Aber du, du riechst gut. Deine Knie sind ganz hell im Dunkeln. Sie müssen ganz warm sein, deine Knie. Wenn die nächste Laterne kommt, rede ich dich an. Vielleicht wird es was. Mensch, du riechst so. Das hab ich noch nie gerochen. Kuck mal, hinter den Gardinen haben sie Weihnachten. Vielleicht auch Grünkohl. Nur wir beide sind draußen. Wir sind ganz allein in der Stadt.-

Wolfgang Borchert

Diese Weihnachtsgeschichte von Wolfgang Borchert (1921 – 1947) wurde erst 1961 in der Erzählsammlung „Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlaß“ veröffentlicht. Sie mag ein wenig ungehobelt, unausgereift wirken – aber dennoch zeugt sie vom großen Talent des jungen Schriftstellers, der viel zu früh starb. Er prägte das Schreiben der jungen Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder zu sich finden musste – und die wußten, wie es ist, nach Krieg, Flucht und Vertreibung „draußen vor der Tür“ zu sein.

Mir scheint diese Geschichte für dieses Weihnachten passend: Soviele Menschen bleiben draußen, haben ihre Heimat verloren und fühlen sich als Fremde in diesem Land. Und in den nächsten Tagen wird ihnen dieses vielleicht noch verstärkt bewußt. Und im Grunde ist ja die ganze Weihnachtsgeschichte die Geschichte von der Unbehaustheit eines Paares, vom Ankommen und neuer Hoffnung.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

18 Gedanken zu „Wolfgang Borchert: Hinter den Fenstern ist Weihnachten.“

  1. Liebe Birgit, danke für diesen Text zu Weihnachten und herzlichen Glückwunsch zum Bloggeburtstag. Ich lese bei dir immer wieder gerne rein und finde immer etwas, was für mich neu ist.
    Frohes Fest wünscht dir
    Rolf

    1. Lieber Rolf,
      das freut mich, dass wir uns hier – und vielleicht mal wieder bei Susanne im echten Leben – begegnen!
      Dir nachträglich einen guten Rutsch und viele interessante Bummeleien auch in 2018!
      Herzliche Grüße Birgit

  2. Liebe Birgit,
    Dankeschön für die Weihnachtsgeschichte von Wolfgang Borchert und deine Betrachtungen dazu.
    Borchert ist mir damals sehr ans Herz gewachsen, als ich vor 30 Jahren im Gefängnis saß und die Ausgabe seines Werkes in der Zelle vorfand. Borchert stand seinerzeit in Nürnberg vor Gericht wegen Wehrkraftzersetzung. Ich hab mich mit ein paar Anderen zur Zeit der Friedensbewegung vor ein Atomwaffenlager gesetzt und durfte später zehn Tage absitzen mit der Lektüre von Borchert. „Draußen vor der Tür“ im Hof des Gefängnisses wuchs die „Hundeblume“ …
    Dir und allen Leserinnen gute Wünsche zu den Weihnachtsfeiertagen und für ein friedliches und gutes neues Jahr.
    Herzliche Grüße von Bernd

    1. Lieber Bernd,
      und wieder lerne ich dank Dir etwas dazu – dass Borchert in Nürnberg vor Gericht war, wußte ich bislang nicht. Und irgendwie ist der Gedanke, dass man – so wie Du – wenn man sich politisch engagiert, bestraft wird mit guter Lektüre auch sehr tröstlich …
      Ich grüße Dich nachträglich zum Neuen Jahr und wünsche Dir das Beste!
      Herzlichst, Birgit

  3. Schönes Foto und eindrucksvoller Text – aber am schönsten finde ich, was Du über Weihnachten sagst.
    Ich freue mich, dass ich erst vor kurzem hier angekommen bin. Ist eigentlich eine Art Weihnachtsgeschenk!
    Danke für die Mühe und Zeit, die Du in den Blog steckst.
    Gemütliche Feiertage und alles Gute fürs neue Jahr!

    1. Liebe Martina,
      und ich freue mich und sage Dank für Deine anregenden Kommentare hier.
      Ich hoffe, Du hattest schöne Feiertage und mein Gruß für das Neue Jahr ist noch nicht zu spät!
      Liebe Grüße Birgit

    1. Thank you very much! I was a longer time offline, but I hope, it is not too late to wish you a Happy New Year also! Thanks a lot for visiting my blog.

  4. Liebe Birgit,
    danke für Borcherts Geschichte. Sie hat mich meinem Vater nahe gebracht, Borchert schreibt über seine Generation, die langsam von der Erde mit ihren traurigen Erinnerungen verschwindet und in unseren Herzen und Gedanken weiterlebt.
    Ich wünsche dir einen schönen zweiten Feiertag, ich sehe dich mit einem Buch in der einen und einer Tasse Kaffee in der anderen Hand vor mir und hoffe, dass wir nächstes Jahr wieder die Gelegenheit finden, uns real zu treffen und zu „schnattern“.
    Liebe Grüße auch von Micha sendet dir Susanne

    1. Liebe Susanne,
      ja, die Zeitzeugen aus dieser dramatischen Epoche, sie werden weniger – und gerade jetzt, angesichts des Rechtsrucks und all der Krisen brauchen wir ihre Stimmen aber ganz dringend.
      Herzlichen Dank sehr nachträglich Deinen Feiertagsgrüßen hier und anderswo – es tut mir leid, dass ich nicht reagiert habe, aber andererseits habe ich mich ganz konsequent in die Stille zurückgezogen. Das tat mir sehr gut. Ich hoffe, ihr hattet einen guten Rutsch (meiner war sehr schön). Dir und Micha die besten Grüße und alles Liebe für das Neue Jahr, Deine Birgit

  5. Liebe Birgit, ein wenig zu spät für das Weihnachtsfest, aber noch nicht zu spät für den Jahreswechsel und ein herzliches DANKE an Dich für all die Wieder- oder Neu- oder einfach nur Entdeckungen, die Du mir immer wieder bescherst. Zwar lassen sie meinen Stapel an ungelesenen Büchern meist anwachsen, aber auch ich habe mir vorgenommen, mich in Zukunft wieder ein bisschen mehr meiner „Backlist“ zuzuwenden und die sprichtwörtliche Neu-Gier zu zügeln. Dank Dir. Danke auch für die immer schönen Projekte, die inspirieren. Bis bald, herzliche Grüße, Bri

    1. Liebe Bri,
      auch Dir nachträglich einen guten Rutsch und nur das Beste für 2018!
      Und herzlichen Dank zurück … Die Neu-Gier (schöne Wortinterpretation) habe ich schon mal gezügelt, indem ich konsequent offline war – und das auch einige Zeit so halten will, auch um im Buchregal, aber vor allem im Leben das Wesentliche aufzuspüren …
      Wir lesen uns!
      Liebe Grüße, Birgit

      1. Liebe Birgit, ja das ist ein guter Vorsatz. In Ansätzen halte ich das auch schon durch, indem ich abends und am Wochenende auch sehr reduziert in Netz unterwegs bin. Aber der Austausch macht mir große Freude … und deshalb werde ich das nicht zu sehr runterfahren können. Das Wesentliche – ja, da hast Du recht. Bei mir ist das zwecks Lütten ja häufig eh absolut präsent, der hält mich im Leben 😉 Wir lesen uns auf jeden Fall und vllt. sehen wir uns ja in Leipzig? Wer weiß … LG Bri

  6. Liebe Birgit,
    das Weihnachtsfest ist nun leider schon etliche Tage vorüber, jedoch habe ich eben erst deinen Blog hier gefunden und möchte mich daher einfach jetzt dafür bedanken, dass du solche fabelhaften Werke wie die von Wolfgang Borchert nicht in Vergessenheit geraten lässt. Von ihm kannte ich bisher nur „Das Brot“, das haben wir damals in der Schule gelesen, aber schon da war ich fasziniert von seinem Talent.
    Schade, dass solche Menschen so früh von uns gehen.

    Ich hoffe, du bist gu in das neue Jahr gerutscht und hast ein paar angenehme Feiertage verbracht!
    xx Isa

    1. Liebe Isa,
      herzlichen Dank für Deinen Besuch und Deinen Kommentar.
      Ja, wer weiß, was Borchert noch geschrieben hätte – andererseits bleibt sein schmales Werk für immer.
      Dir nachträglich ein gutes Neues Jahr und herzlich Willkommen hier!
      Birgit

  7. Liebe Birgit, kein bisschen ungehobelt finde ich diese Geschichte. Sie rührt mich an, wie so vieles von Borchert.
    Hab Dank und einen schönen Tag.
    Liebe Grüße
    Ulli

Schreibe eine Antwort zu IsaAntwort abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.