Franz Hessel: Heimliches Berlin

Eine kleine Geschichte, anmutig und charmant, leicht und schwebend erzählt, mit einer Mischung aus Berliner Schnauze und französischem Quivive.

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Bild von Lenalensen auf Pixabay

„Ich habe keine Zeit, das zu verstehen. Meine Erfahrung ist: Mangel im Alltäglichen, schäbige Kleider, unwürdige Trambahnfahrten, minderwertige Menüs, überhaupt die billigen Qualitäten schädigen meine unsterbliche Seele. Ich will möglichst mühelos von dem heiß servierten Reichtum von heute meinen Tribut haben. Und das will ich auch für Wendelin. In welcher Weise es geschieht, ist ganz gleichgültig, wie es heute gleichgültig ist, womit man handelt. Ein Junge wie Wendelin muss sein Reitpferd haben, ein hübsches pied-à-tierre, den besten Schneider. Und das alles so bequem wie möglich.“

Franz Hessel, „Heimliches Berlin“


Es ist ein ganz ungewöhnliches Stück Literatur für die Weimarer Republik, dieses „heimliche Berlin“: Inmitten all der expressionistischen Großstadt-Literatur, der Weltkriegs-Verarbeitungen und politisch-literarischen Auseinandersetzungen mit Inflation, Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, inmitten all der großartigen sozialrealistischen, pazifistischen oder auch experimentellen Romane wirkt dieses Buch wie ein Solitär, beinahe wie ein Gruß aus einer fernen Zeit, ein Herüberwinken vom Fin de Siècle.

Erstveröffentlichung war 1927

Franz Hessel veröffentlichte den kurzen Roman „Heimliches Berlin“ 1927. Natürlich spielt auch dieser kleine Liebesreigen vor dem ernsten Hintergrund der prekären wirtschaftlichen Situation in jener Zeit: Im Mittelpunkt ein Freundeskreis, die sich in Festivitäten und kleine Fluchten vor ihrer eigenen Halt- und Orientierungslosigkeit retten. Die Erzählung umfasst einen Zeitrahmen von 24 Stunden – zwei Nächte, ein Tag, die durch ärmlich kleine Pensionszimmer, verwohnte Wohnungen, verrauchte Bars und schummrige Salons führen. Wendelin, der verarmte Adelige, ein hübscher, wenn auch etwas oberflächlicher Jüngling, lässt sich kurz den Kopf von der Ehefrau eines älteren Freundes verdrehen – und am Ende stehen die beiden Männer da, nachts in Berlin, bei der Potsdamer Brücke und wissen:

„…wir beide, du und ich, spielen darin einigermaßen lächerliche Rollen.“

Eine kleine Geschichte, aber so anmutig und charmant, leicht und schwebend erzählt, mit einer Mischung aus Berliner Schnauze und französischem Quivive, dass sie sich allein schon aufgrund dieses besonderen Tons ins Lesegedächtnis gräbt. Kaum erschienen, lobte bereits 1927 Leo Greiner im Berliner Börsen-Courier diese kleine literarische Preziose:

„In Heimliches Berlin ragt ein Stück berlinischen neunzehnten Jahrhunderts in die mit ihrem Lärm und tausend gehäuften Primitivitäten erfüllte Gegenwart herein und verschmilzt mit ihr. Hessels schöne, wissende Menschendichtung ist in Romanform ein Stück heimlicher Geschichtsschreibung dieser Stadt. Ein nicht unwichtiger Teil ihres unbekannten Lebens ist bezaubernd darin aufbewahrt.“

Als eine „duftende Köstlichkeit aus appetitlichen Wörtern“ bezeichnet der Autor Manfred Flügge, ein Kenner des Werks von Vater und Sohn Hessel, diesen zauberhaften Roman. Ein wenig erinnerte mich dieses heimliche Berlin an den Wiener Reigen – wenn auch weniger aufgeladen, weniger dunkel denn Schnitzlers seinerzeit skandalträchtiges Drama.

Ein Flaneur und Wanderer zwischen den Welten

Flügge zieht – wie er selbst gesteht, aus Lust an diesem schwebenden Text – Rückschlüsse auf die Biographie des Autors: Eine faszinierende Persönlichkeit, ein Flaneur und Wanderer zwischen den Welten, Übersetzer von Proust und anderen französischen Schriftstellern, ein Flaneur und Bohemien, reales Vorbild für Jules, jenen Protagonisten der Dreiecksgeschichte aus dem gleichnamigen Roman und der Truffaut-Verfilmung und nicht zuletzt auch Vater von Stéphane Hessel. 1880 in Stettin geboren, in Berlin aufgewachsen, zog es ihn immer wieder nach Frankreich – endgültig dann 1938. Wie viele andere deutsche Exilanten auch, wurde er jedoch 1940 interniert und starb 1941 in Sanary-sur-Mer.

„Heimliches Berlin“: Eine wahre Trouvaille für mich, erschienen im Lilienfeld Verlag und wie alle Bücher aus der Reihe „Lilienfeldiana“ wunderschön aufgemacht.


Bibliographische Angaben:

Franz Hessel
Heimliches Berlin
Lilienfeld Verlag, 2017
ISBN 978-3-940357-23-6

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

9 Gedanken zu „Franz Hessel: Heimliches Berlin“

  1. Der Beitrag freut mich, hatte ich doch erst kürzlich Stéphane Hessels Erinnerungen „Tanz mit dem Jahrhundert“ (Arche, Zürich – Hamburg 2011) gelesen, die beeindruckende Autobiografie des französischen Widerständlers, Buchenwald-Überlebenden, Diplomaten und Gedichte-Liebhabers. Seines Vaters „Heimliches Berlin“ erwähnt er zwar nicht, wenn ich mich recht erinnere.
    „… Die Absurdität, die dieser Krieg für ihn bedeutete, kommt in seinem besten Buch, Pariser Romanze, zum Ausdruck, einem Briefwechsel mit seinem französischen Freund Henri-Pierre Roché.“ (S. 14)
    Eine Erinnerung an den Vater:
    „Ich sehe noch sein Arbeitszimmer ganz am Ende des Flures vor mir, wo es immer stark nach Tabak roch. Er kam heraus, um uns Passagen aus seiner Übersetzung der Odyssee vorzulesen. …“ (S. 15)
    Vielen Dank und Grüße, Bernd

    1. Lieber Bernd, danke für die schönen Zitate, die die Erinnerungen ganz nach vorne auf meine Lesewunschliste bringen. Von Stéphane Hessel kenne ich natürlich die berühmten Essays, „Empört euch!“, aber die Autobiografie noch nicht. Und über und von seinem Vater gibt es bei mir auch noch lesend einiges nachzuholen – die Sprache dieses Romans hat mich bezaubert, das Nachwort mir schon eine Ahnung davon eröffnet, dass auch Vater Hessel wohl ein ganz besonderer Mensch war. Herzliche Grüße, Birgit

    1. Hallo ihr zwei, das freut mich sehr, dass ihr den Blog gerne lest und mich sogar nominiert – aber ich bitte um Verzeihung, ich habe jedoch beschlossen, bei keinen Awards mehr mitzumachen. Das waren vor ein paar Jahren sehr viele Anfragen, ich wäre nicht mehr zu meinen eigenen Post gekommen – und so sage ich jetzt, damit das auch nicht „ungerecht“ ist, allen ab. Aber lieben Dank! Birgit

      1. Liebe Birgit,

        das ist gar kein Problem! Ich finde, das Wichtigste ist, dass Du nun weißt, dass Du zwei große Fans hast. 😉 Deine Beiträge sind sehr fundiert und schön zu lesen.

        Einen schönen Donnerstag und herzliche Grüße,
        Krisi

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