Hedwig Lachmann: Gesammelte Gedichte

Hedwig Lachmann (1865 – 1918) war eine anerkannte Übersetzerin, unter anderem von Poe und Oscar Wilde, und Lyrikerin. Heute ist sie beinahe vergessen.

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Bild von Alain Audet auf Pixabay

Spaziergang

Die Sonne steht schon tief. Wir scheiden bald.
Leis sprüht der Regen. Horch! Die Meise klagt.
Wie dunkel und verschwiegen ist der Wald!
Du hast das tiefste Wort mir nicht gesagt. –

Zwei helle Birken an der Waldeswand.
Ein Spinngewebe zwischen beiden, sieh!
Wie ist es zart von Stamm zu Stamm gespannt!
Was uns zu tiefst bewegt, wir sagen’s nie. –

Fühlst du den Hauch? Ein Zittern auf dem Grund
Des Sees. Die glatte Oberfläche bebt.
Wie Schatten weht es auch um unsern Mund –
Wir haben wahrhaft nur im Traum gelebt. –

Hedwig Lachmann (1865-1918)


Prägen Landschaften die Menschen, die in ihnen leben?
Ich meine: In gewisser Weise schon.
Die jüdische Dichterin Hedwig Lachmann wuchs in der unspektakulären Landschaft Mittelschwabens auf, wo sie nach einem wechselvollen Leben auch starb. Das Kleinräumige, das nach Weite schreit, das herbstlich Karge, das sich im Sommer fast schon wieder in das Kitschig-Liebliche wandeln kann, das Bodenständige, das Zurückgenommene  – all das ist in dieser Landschaft. Und es ist in den Gedichten Lachmanns zu spüren, die immer wieder in diese schwäbische Gegend zurückkehrte: Hier war ihre Familie, hier ihre Heimat.

Ebenso sind in den Gedichten auch Sehnsucht nach einem stillen Ort, nach menschlicher Wärme und eine leise Herzensklugheit zu spüren, die jene in den Blick nimmt, die keinen Ort mehr haben:

Winterbild

In meinem Zimmer ein paar frische Blumen,
Die allen Wintermissmut mir vertreiben.
Ein Vöglein pickt vor meinem Fenster Krumen
Und guckt dabei zutraulich durch die Scheiben.

In Stroh und Bast die Bäume eingeschlagen,
Damit der strenge Frost sie nicht berühre,
Die Beete wohl verwahrt vor kalten Tagen –
Und, blossen Haupts, ein Bettler vor der Türe.

Diese Mischung aus leiser Melancholie und Mitgefühl ist ein Kennzeichen dieser Dichterin, die dem Vergessen zum Opfer fiel. Wer nur diese Seite ihrer Lyrik kennenlernt, erhält jedoch ein falsches, einseitiges Bild: Hedwig Lachmann war ebenso eine engagiert politisch denkende Frau, eine, die ihren Weg wählte und ging, jedoch ohne viel Aufhebens darum zu machen. Mir scheint, sie war eine stille Unangepasste – eine, die früh selbständig war, die zum selbständig Denken erzogen worden war und durchaus auch deshalb nicht den einfachsten ihr dargebotenen Weg einschlug.

Hedwig Lachmann kam im August 1865 in Pommern zur Welt. Sie war die Älteste der sechs Kinder des Kantors Isaac Lachmann und dessen Frau Wilhelmine. Die Familie zieht 1873 nach Hürben bei Krumbach um. In diesem  schwäbisch-bayerischen Ort existierte von 1675 bis 1942 eine meist sehr große jüdische Gemeinde, allein um 1840 gehörten zu ihr 652 Mitglieder. Bereits um 1900 war die Gemeinde jedoch auf 123 Personen gesunken. 40 Jahre später überleben nur wenige Hürbener Juden, die rechtzeitig auswandern konnten, den Nationalsozialismus.

Schon mit 17 Gouvernante in England

Als Hedwig Lachmann nach Hürben kommt, ist die jüdische Gemeinde bereits sehr klein, aber noch intakt. Ihr Vater ist dort ebenfalls als Kantor und Lehrer tätig. Sie selbst besucht die Mädchenschule in Krumbach und legt dank ihrer Sprachbegabung bereits mit 15 Jahren ein Lehrerinnen-Examen in Augsburg ab. 1882 – also gerade erst 17 Jahre alt – übernimmt sie ihre erste Stellung als Gouvernante in England, dann folgen Aufenthalte in Dresden, ab 1887 in Budapest, ab 1889 schließlich lebt sie in Berlin.

Schon zu dieser Zeit schrieb Lachmann eigene Gedichte und arbeitete ab und an journalistisch. Ihre ersten Veröffentlichungen umfassen jedoch vor allem noch Nachdichtungen und Übersetzungen, unter anderem “Ungarische Gedichte” von Alexander Petöfi sowie Nachdichtungen der Lyrik Edgar Allan Poes. Gefördert wurde ihr Talent vor allem von Richard Dehmel, mit dem sie ab 1892 einen intensiven Briefwechsel führt. Mit dem Lyriker verbindet sie eine komplizierte Beziehung – er, damals noch verheiratet mit der Märchendichterin Paula Oppenheimer, sehnt sich nach einer Ménage à trois, will die Lachmann nicht nur platonisch lieben. Sie schreckt davor zurück – und entzieht sich der Situation durch ihren Umzug nach Budapest. Die Freundschaft zu Dehmel zerbricht endgültig 1914, als dieser sich, wie so viele andere Intellektuelle, vom Taumel der Kriegsbegeisterung mitreißen ließ. Er ließ sich, so schreibt sie an einen Freund, “von der Sturzwelle der nationalen Leidenschaft fortreißen”, er habe “seinen Beruf verkannt.”

Eine überzeugte Pazifistin

Auch wenn Hedwig Lachmann sich selbst nicht als Anarchistin bezeichnete, politisch Stellung nahm sie gleichwohl. Vor allem für einen unbedingten Pazifismus. Ihr Antikriegsgedicht ist auch als entschiedene Reaktion auf den blinden Nationalismus der Vorkriegsjahre zu verstehen:

Mit den Besiegten

Preist Ihr den Heldenlauf der Sieger, schmückt
Sie mit dem Ruhmeskranz, Euch dran zu weiden –
Ich will indessen, in den Staub gebückt,
Erniedrigung mit den Besiegten leiden.

Geringstes Volk! verpönt, geschmäht, verheert
Und bis zur Knechtschaft in die Knie gezwungen –
Du bist vor jedem stolzeren mir wert,
Als wär’ mit dir ich einem Stamm entsprungen!

Heiß brennt mich Scham, wenn das Triumphgebraus
Dem Feinde Fall und Untergang verkündet,
Wenn über der Zerstörung tost Applaus
Und wilder noch die Machtgier sich entzündet.

Weit lieber doch besiegt sein, als verführt
Von eitlem Glanz – und wenn auch am Verschmachten,
Und ob man gleich den Fuß im Nacken spürt –
Den Sieger und das Siegesglück verachten.

Bei Richard Dehmel lernt Hedwig Lachmann jedoch bereits 1899 Gustav Landauer kennen – es muss, so kitschig das klingt, Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Denn das Paar entscheidet sich unmittelbar nach dem ersten Zusammentreffen für einen gemeinsamen Aufenthalt in England, obwohl Landauer noch verheiratet ist. 1902 kehren sie mit ihrer in England geborenen ersten Tochter nach Berlin zurück, der gemeinsame Freund Erich Mühsam besorgt ihnen dort eine Wohnung. Erst 1903 kann sich Gustav Landauer scheiden lassen und Hedwig Lachmann heiraten, 1906 wird die zweite Tochter Brigitte geboren. Die beiden geben sich zunächst großen Halt, auch wenn sich Landauer in der Zeit ihrer Ehe auch in andere Frauen verliebt.

Aus deiner Liebe …

Aus deiner Liebe kommt mir solch ein Segen,
Sie macht mein Herz so sorglos und so fest,
Ich kann so ruhig mich drin niederlegen,
Wie sich ein Kind dem Schlafe überlässt.

Ich geh dahin von Zuversicht getragen,
Seit neben deiner meine Seele schweift;
So, wie man wohl an schönen Sommertagen
Durch reife Ährenfelder sinnend streift.

Da gleiten sanft die Finger über Blüten
Und Halme hin, wie eine Mutter pflegt,
Und alles Leben möchte man behüten,
Das seine heil’ge Saat zum Lichte trägt.

1902 veröffentlicht Hedwig Lachmann wieder eigene Gedichte – zuvor war sie vor der Außenwelt vor allem durch ihre Übersetzungen von Poe, Oscar Wilde und Balzac hervorgetreten. Einige dieser Übertragungen sind durchaus noch in Gebrauch: So Balzacs „Frau von 30 Jahren“, erschienen als Fischer Klassik Taschenbuch. 1905 folgt eine Oscar-Wilde-Monographie aus ihrer Feder

Zurück an den Ort der Kindheit

1917 ziehen die Landauers wegen der schlechten Ernährungslage zurück nach Bayern – Hedwig kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück. Am 21. Februar 1918 stirbt sie in Krumbach an einer Lungenentzündung. Sie ist dort auf dem jüdischen Friedhof im Orsteil Hürben begraben. Der tieferschütterte Landauer gibt im Jahr nach ihrem Tod ihre “Gesammelten Gedichte” bei Kiepenheuer heraus. Landauer selbst wird 1919, nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik, von Soldaten ermordet.

Hedwig Lachmann hat viele wunderbare Gedichte hinterlassen, die es wieder zu entdecken gilt. Und sie gab ihr Talent trotz des viel zu kurzen Lebens weiter: Ihr Enkel ist Mike Nichols, geboren 1931 in Berlin als Michael Igor Peschkowsky, der als Regisseur unter anderem mit “Die Reifeprüfung”, “Catch 22″ und “Silkwood” für gutes Kino sorgte.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

10 Gedanken zu „Hedwig Lachmann: Gesammelte Gedichte“

  1. Vielen Dank! Das Gedicht …
    „Aus deiner Liebe kommt mir solch ein Segen,
    Sie macht mein Herz so sorglos und so fest,
    Ich kann so ruhig mich drin niederlegen,
    Wie sich ein Kind dem Schlafe überlässt.“

    …strahlt eine tiefe heitere Ruhe und ein seltenes Glück aus, das hilft, das Wissen um das, was noch kommt, irgendwie auszuhalten.

  2. liebe birgit, danke dir für das aufspüren, aufzeichnen dieser lebensspur einer sicherlich gesitig und emotional sehr beweglichen und aber auch vom schicksal (nicht nur sanft) bewegten frau. – herzlichen gruß: pega!

    1. Liebe Pega, aufgespürt hat sie eigentlich ein entfernter Bekannter von mir, der Autor Armin Strohmeyer, der vor vielen Jahren ein Buch über sie schrieb – leider habe ich es nicht mehr. Und natürlich der Heimatverein vor Ort, der sich sehr engagiert auch um das jüdische Andenken kümmert. Sie war bestimmt jemand sehr besonderes – und irgendwie vielleicht auch „gesittigt“ (netter Vertippser), aber auch sehr frei für die damalige Zeit!

  3. Liebe Birgit,
    wieder eine große Neuentdeckung für mich. Ja – ich glaube, dass die Landschaft, die einen umgibt, großen Einfluß auf die eigene Entwicklung nimmt. Gerade, wenn man zwischen Orten pendelt.
    Die Gedichte inspirieren zum Zeichnen, vielleicht habe ich in diesem Leben irgendwann einmal kein Projekt und kann einfach in den Tag hinein zeichnen 🙂
    Einen schönen Wochenbeginn wünscht dir Susanne

      1. Ich mir auch nicht, im Moment ist es besonders schlimm, ich muss dringend irgendwo kürzen, ich habe das Gefühl, ich arbeite durch und fühle mich sehr angespannt.
        Nochmals liebe Grüße aus dem grauen Berlin von Susanne

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