Klaus Caesar Zehrer: Das Genie

Manches Leben hat mehr von einem Roman als mancher Roman Leben hat: Die Biographie von William James Sidis ist großartiger Stoff, der Debütroman etwas zu lang.

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Bild von Jessica Y auf Pixabay

„Trotz seiner vierzehn Jahre war Billy immer noch weit von seinem ersten akademischen Titel entfernt. Das war angesichts der Erwartungen, die seine Leistungen als Kind geweckt hatten, enttäuschend, und gemessen an seinen Möglichkeiten geradezu skandalös. Hätte er auch nur die Hälfte der Leidenschaft seines Vaters und ein Zehntel der Energie seiner Mutter besessen, ihm wäre längst ein Doktorhut sicher gewesen.“

Klaus Cäsar Zehrer, „Das Genie“


 Es ist schon ein Ärgernis für manche Eltern, wenn die Kinder einfach nicht so „funktionieren“, wie man möchte. Und so plagt sich Boris Sidis gehörig mit seinem Sprössling William James herum: Gemessen an der Genialität des Vaters, dem Ehrgeiz der Mutter und den ausgetüftelten Erziehungsmethoden, die beide bereits dem Baby Billy angedeihen lassen, müsste der erwachsene William James rein theoretisch ein überaus erfolgreiches und anerkanntes Leben führen, als intelligentester Mensch Amerikas, wenn nicht gar der ganzen Welt. In der Praxis kommt es jedoch anders, als es Boris sich gedacht hat: William James entzieht sich früh dem Rummel um seine Person, flieht in unbedeutende Jobs und die damit verbundene Anonymität und wird zu Lebzeiten kaum etwas Bahnbrechendes für die Wissenschaft geleistet haben.

Denn Leben ist, was passiert, während die „Tiger-Eltern“ (erinnert sich noch jemand an das Buch von Amy Chua?) Pläne machen. Als William James sich, reichlich spät freilich, endlich verliebt, gesteht er der Angebeteten:

„Im Grunde sei er immer ein Freiheitsaktivist gewesen, erklärte er, während sie um den See spazierten, an dem der Bethseda-Brunnen lag. Früher sei es ihm in erster Linie um die Befreiung der Gesellschaft gegangen; inzwischen sei ihm aber klar geworden, dass die Gesellschaft nur befreien kann, wer selber frei ist. Deshalb sei er nun ein Freiheitsaktivist in eigener Sache, ähnlich wie die modernen Frauen, die sich gerade daran machten, das Korsett ihrer Geschlechterrolle abzulegen und sich eine selbstgestaltete Biographie zu erkämpfen.“ 

Das Tragische ist: Das Wunderkind, das programmierte Genie, kann sich weder von seiner angeborenen Intelligenz noch von seiner fürchterlichen frühkindlichen Konditionierung jemals ganz befreien. Frei fühlt er sich erst im Sterben, beim Hinübergleiten in die n-te Dimension:

„Als n gegen unendlich konvergierte, begann alles ineinander zu verschwimmen, das All und das Licht und die Liebe, und wurde ein Ganzes, eine weiche, warme Hülle, klar und transparent und doch in allen Farben leuchtend, und er wurde ein Teil des Ganzen und schwebte in Helligkeit, und sein Leib war ohne Gewicht und sein Geist ohne Qual und Leiden.

Er war frei.“

Ein genialer Sonderling

Manches Leben hat mehr von einem Roman als mancher Roman Leben hat: Das von William James Sidis (1898 – 1944) bietet jedenfalls großen Stoff für jede Form der literarischen Verarbeitung – tragisch, komisch, spannend, abwechslungsreich. Wer mehr über die Biographie dieses Sonderlings erfahren möchte, findet einen guten Überblick in diesem Kalenderblatt im Deutschlandfunk aus dem Jahre 2009:

http://www.deutschlandfunkkultur.de/der-intelligenteste-mensch-aller-zeiten.932.de.html?dram:article_id=130588

Dieses Kalenderblatt zeugt zugleich davon, wie lange sich schon der Kulturwissenschaftler, Autor und Übersetzer Klaus Cäsar Zehrer mit der Biographie dieses Ausnahmegehirns beschäftigt. Die jahrelange Recherchearbeit mündete in das Romandebüt Zehrers: „Das Genie“, ein fast 650 Seiten umfassender biographischer Roman, der nun mit auf der Shortlist zum Bayerischen Buchpreis steht.

Zehrer kam „dem Genie“, wie er dem Rundfunk in einem Interview verriet, durch eine Bestenliste auf die Spur:

„ …in dem Fall war es eine Liste der angeblich zehn intelligentesten Menschen aller Zeiten und da waren einige Namen drauf, die ich gut kannte, da war Albert Einstein drauf, da war Isaac Newton drauf, da war Leonardo da Vinci drauf, alles wohl bekannte Namen, und auf Platz eins dieser Liste war ein mir vollkommen unbekannter William James Sidis. Und ich wusste nicht, was das sein soll, aber ich ahnte schon, dass das eine interessante Geschichte sein muss.

Wenn es jemanden gibt, der diese alle offenbar in irgendeiner Art und Weise übertrumpft hat, aber man weiß nichts von ihm, muss ja irgendetwas dahinterstehen. Und ich wurde dann neugierig und habe weitergesucht und stieß dann erst mal auf die Formulierung: “das exzentrische Genie William James Sidis”. Und da war ich natürlich sofort neugierig, ein exzentrisches Genie, das muss immer etwas Spannendes sein und so war es dann auch.“

Das Gespräch in voller Länge: http://www.deutschlandfunkkultur.de/autor-klaus-caesar-zehrer-ueber-william-james-sidis-ein.1270.de.html?dram:article_id=396115

Die Begeisterung des Autoren für seinen Stoff, die intensive, sorgfältige Recherche, das ist dem Buch durchaus positiv anzumerken – doch trägt das auch über 650 Seiten, vermag es das Interesse der Leser derart zu fesseln? Und ist das Genie genial genug, um beim Bayerischen Buchpreis neben dem Medusen-Floß und im Justizpalast bestehen zu können?

Eine Überfülle an Fakten

Ich meine: Leider nein. Denn in dieser Überfülle an Wissen und Information, die Zehrer offenbar über Sidis angesammelt hat, liegt für mich das Problem: Er lässt seinen Stoff ausufern, überfrachtet den Roman durch Detailtreue und Genauigkeit. Man weiß am Ende mehr über Straßenbahnfahrtkarten, die William James sammelt (nur eine seiner verschrobenen Angewohnheiten), als man wissen möchte. Man verliert beim nächsten verhaltenskreativen Auftritt des Mr. Sidis zunehmend an Empathie, die man für die Hauptfigur zu Beginn entwickelt hat. Der nächste zwischenmenschliche Fettnapf, das nächste kommunikative Debakel, das das Genie erlebt, ist zwar biographisch wohlbelegt, doch für den Erzählfluss nicht unbedingt hilfreich. Kurzum: Das Tragisch-Komische, das Exzentrische, das zu Beginn des Romans den Erzählmodus trägt, verblasst mehr und mehr mit der allzu detaillierten Beschreibung aller Irrwege des traurigen Mr. James.

So spannend das Leben des William James Sidis auch war – dem Roman selbst fehlt ein Spannungsbogen. Da tröstet auch der flüssige Schreibstil von Klaus Cäsar Zehrer, der auch durch die „Titanic“ und die Zusammenarbeit mit Robert Gernhardt geschult zu sein scheint, leider nicht über eine gewisse Langatmigkeit ab der Mitte des Buches hinweg.


Bibliographische Angaben:

Klaus Cäsar Zehrer
Das Genie
Diogenes Verlag, 2017
ISBN: 978-3-257-06998-3

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen Aktuelle Rezensionen auf dem Literaturblog

12 Gedanken zu „Klaus Caesar Zehrer: Das Genie“

  1. Zu lang, ja, und der Roman steht sich mit seinen wechselnden Intentionen & der gleichzeitig ultratraditionellen Erzählweise selbst im Weg. Schrieb ich anderswo:
    Ohne dass der Erzähler jemals als unzuverlässiger oder auf einzelne Charaktere fokalisierter präsentiert würde, macht er sich bei Gelegenheit gern die Haltung seines Personals komplett zu eigen: etwa die Theorie vom Subwaking Self, besonders, wenn es darum geht politische Ansichten zu präsentieren. Wie sich diese tatsächlich entwickeln wird unterschlagen, man muss sie entweder für richtig halten, weil von „Genies“ geäußert, oder für Unsinn, weil die „Genies“ eben so verrückt dargestellt werden. Nur rund um den Gerichtsprozess zum Schluss wird ein Konflikt tatsächlich einmal erzählerisch entfaltet.
    In dem Sinne: auch zu kurz, nämlich endend, als er Fahrt aufnimmt.

    1. Ja, da decken sich unsere Sichtweisen – man hätte aus dieser Geschichte wirklich sehr viel mehr, vor allem literarisch etwas experimentierfreudigeres machen können.

  2. Ich hatte es 2017 nicht gelesen. aber mittlerweile schon, nachdem ich den Autor bei einer Lesung erlebt habe und unser erstes Enkelkind sich ankündigte. Ja, die Geschichte musste unbedingt erzählt werden, als abschreckendes Beispiel, wie viel Leid kluge und ehrgeizige Erwachsene einem Kind antun können. Am Anfang war ich fasziniert und wollte mir ganz genau einprägen, wie man Babies das Lesen beibringt, doch dann habe ich mir wieder alles aus dem Kopf gestrichen … Und ja, das Buch ist leider zu langatmig geworden, man verliert das Interesse schon im zweiten Drittel, da ist alles schon gesagt. Ich habe es trotzdem fertiggelesen, als abschreckendes Beispiel.

    1. Liebe Ida, danke für deinen Kommentar. Ja, ich fand den Kern der Geschichte – diese unmenschliche und kinderfeindliche Erziehung – auch sehr wichtig, ich musste da auch an die “Tiger Mom” denken. Aber mir ging es eben wie dir – das Buch verliert seinen Schwung, das ist schade. Herzliche Grüße Birgit

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