Jürgen Goldstein: Blau

Jürgen Goldstein verführt zum „absichtslosen Flanieren“ durch seine Wunderkammer: Eine Textsammlung zur Bedeutung der Farbe „Blau“. Ein großes Lesevergnügen.

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Bild von frankspandl auf Pixabay

„Am Anfang war kein Blau. Die Höhlenmalereien unserer Vorfahren, entstanden vor Zehntausenden von Jahren kennen Rottöne, sie schwelgen in Braun und Ocker, für sie wurde Schwarz verwendet – nicht aber Blau. Das ist weder Zufall noch ein reiner Mangel an blauen Farbstoffen: Blau scheint lange Zeit in der Entwicklungsgeschichte des Menschen eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Michel Pastoureau nennt es im Rahmen der europäischen Geschichte die „unauffällige Farbe“ und verzeichnet erst ab dem 12. Jahrhundert einen Bedeutungszuwachs.“

Jürgen Goldstein, „Blau. Die Wunderkammer seiner Bedeutungen“

Am Anfang war kein Blau. Und heute? Alle tragen Blue Jeans. Weit hergeholt, diese Assoziation? Dann sollte man sich von Jürgen Goldstein zum Lesen verführen lassen: Denn „Blau“ ist ein Buch, das seine Leser klug und intelligent auf eine überraschende Reise mit überraschenden Wendungen ins Blaue hinein mitnimmt.

In der Einführung zu seiner wunderbaren Essaysammlung spricht Jürgen Goldstein über das Glück des Flaneurs, „kein Ziel haben zu müssen.“ Die Lebenskunst, eine „souveräne Absichtslosigkeit“ auszuüben, sie kommt in unserem durchgeplanten Alltag oftmals zu kurz. Selbst das Lesen – das eine besondere Art des horizonterweiternden Müßiggangs sein könnte – fällt häufig einem Zwang zur Effizienz zum Opfer: Es soll uns weiterbringen, Wissen erweitern, Anstöße geben und ein Sachbuch sollte möglichst mit neuen Forschungsergebnissen oder zumindest mit innovativen Hypothesen aufwarten.

Ein kulturphilosophischer Text

Dem Zwang zur zielgerichteten Optimierungslektüre nimmt der kluge Autor Goldstein mit seinen kulturphilosophischen Texten von vornherein jede Grundlage, so ganz anders ist dieses „Blau“ angelegt – nämlich als „Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen“.

Der Professor für Philosophie, 2016 für sein Buch über Georg Forster mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, lädt die Leser zum Flanieren ein, zu einem kulturgeschichtlichen Bummel auf den Spuren der Farbe „Blau“. Eine literarische Fahrt ins Blaue im besten Sinne – ohne eindeutiges Ziel, ein Vorbeischlendern, ein Verharren, Pausieren dort, wo es einem gefällt, um am Ende des Tages (Buches) wie Picasso sagen zu können:

„Ich suche nicht – ich finde.“

Refugien des Außergewöhnlichen

Dieses Zitat führt nicht von ungefähr in den Prolog ein: Jürgen Goldstein möchte sein Buch als „Wunderkammer“, wie es sie in der Spätrenaissance und dem Barock gab, verstanden wissen: „Refugien“ des Außergewöhnlichen, die beim Betrachter Staunen, Neugier auf das Fremde und kulturellen Wissensdurst anregen sollten.

Die Wunderkammern fielen dem modernen Systematisierungsdrang der Museen zum Opfer. „Man geht wohl nicht zu weit, wenn man in dem Untergang der Wunderkammern den symbolischen Ausdruck eines bedenklichen Siegeszuges des modernen Ordnungswillens erkennt.“ Eine Entwicklung, die Goldstein für „unseren Umgang mit Kultur“ für „verheerend“ hält, sei doch Kultur „vom Prinzip her auf Vielfalt angelegt“.

Der durchstrukturierten Kulturvermittlung setzt Goldstein nun also eine blaue Wunderkammer entgegen:

„Mit dem eigenwilligen Ordnungsprinzip der Wunderkammer ist nun eine Möglichkeit eröffnet, nicht nur Dinge, sondern auch Bedeutungen von Dingen und Phänomenen so zu gruppieren, dass sie sich gegenseitig in verblüffenden Konstellationen ergänzen.“

Keine durchstrukturierte, chronologisch angeordnete Kulturgeschichte des „Blaus“ also, sondern ein assoziativer Spaziergang ins Blaue – dass Blau als Farbe erst allmählich Bedeutung gewann, dies erfährt man so nebenbei. Wobei dies dem Prinzip des Bandes entspricht – Wissenstropfen, die an geeigneter Stelle fallen gelassen werden, die dazu anregen, weiterzulesen, selbst weiter zu recherchieren, vor allem aber: selber zu denken.

Vom blauen Planeten zu Blue Moon

Und tatsächlich lassen sich zwischen den einzelnen Texten rund um die Farbe Blau, die zunächst so lose nebeneinander stehen, trefflich blaue Seidenfäden spinnen, ergibt das Ganze ein eng verwobenes Blaumuster. Vom unverstellten Jubel der Astronauten der Apollo 8, als sie das erste Mal den blauen Planeten in seiner Pracht sehen, über die Bedeutung des „Blue Moon“ bis hin zu Frida Kahlos blauem Haus, in dem die Künstlerin schmerzensgeplagt auf ihr Ende wartet und hofft, „nie wiederzukehren“, spannt sich der thematische Bogen. Der vor allem zeigt, wie in der Kultur des 20. Jahrhundert die Farbe Blau mit Bedeutungen und Zuschreibungen aufgeladen wurde.

Blaustimmungen: Der Blues transportierte sie, der Jazz, die Rhapsodie in Blue. Das Blau als die Farbe des humorvollen Widerstands bei Yves Klein, der Lebensbejahung über den Tod hinaus bei Paul Klee, als Farbe der unstillbaren Sehnsucht der Romantiker. Goldstein streift durch die Künste, erzählt – immer elegant-schwungvoll – von den „Blue Notes“, den „Blue Jeans“, von „Kind of blue“, verknüpft geschickt Literatur, Musik, Bildende Kunst und Zeitgeschichte. Die Eigenwilligkeit des Autors zeigt sich unter anderem an einer bemerkbaren Leerstelle: „Der blaue Reiter“, den wahrscheinlich jeder kulturell Interessierte in einem Buch wie diesem erwartet, er wird nur ganz am Rande, in Zusammenhang mit Else Lasker-Schülers blauem Klavier erwähnt.

Man vermisst den blauen Reiter nicht zwingend: Die Welt hat so viel mehr an Blautönen zu bieten. Jürgen Goldstein stellt ein Zitat von Uwe Kolbe voran:

„Wer nach dem Blau fragt, der meint das ganze Leben.“

Informationen zum Buch:

Jürgen Goldstein
Blau. Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen
Matthes &Seitz Verlag, 2017
ISBN: 978-3-95757-383-4

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

22 Gedanken zu „Jürgen Goldstein: Blau“

  1. Liebe Birgit, mir scheint, du hast dich selber zum Schlendern durch das Buch verführen lassen – so schön mäandernd dein Text – nicht ohne natürlich am Ende auf den Punkt zu kommen. Danke für die Empfehlung und Grüße von Rolf

  2. Klingt wirklich nach einem sehr einladenden Bummel. Und da, wo in Museen noch Überreste solcher Wunderkammern existieren, ist das allein optisch schon ungemein reizvoll und anregend. Aber in so einem Buch keine Farbfotos, das würde mich schon irritieren… LG, Anna

    1. Ja, in Augsburg beispielsweise lassen sie das Konzept der Wunderkammer ganz originell wieder aufleben – das sind Ausstellungen, die ich sehr mag: http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Die-Wunderkammer-lebt-id31524692.html Zu den Bildern, damit kein falscher Eindruck entsteht – das Buch lebt vom Text, es gibt nur eine Handvoll Abbildungen. Darunter etliche Photographien der genannten Künstler, die evt. eh nur in sw vorliegen. So war es wohl eine Kostenabwägung, alle Abbildungen nur schwarzweiß zu bringen – bei einem ausgesprochenen Bildband fände ich das unmöglich, bei diesem Buch kann man damit leben.

      1. Habe gerade meinem Mann mitgeteilt, dass wir eine der nächsten Städtetouren mal nach Augsburg machen 😎 und dann werde ich all die Depotstücke bewundern – toller Tipp. Danke!

  3. Hach, wenn das mal keine fein bummelnde Rezi zu einem offenbar ganz besonderen Schatz ist! Den Umweg über die Leseliste lasse ich für dieses Mal aus und steuere direkt den Buchhändler meines Vertrauens an. Und dann: „souverän absichtslos“ hinein ins Blaue (Wunder)!

    1. Liebe Maren, ich hoffe, ich schwärme nicht an Deinem Lesegeschmack vorbei, so dass Du mit dem Buch weder ein blaues Wunder erlebst noch die schwarz ärgerst oder gar rot siehst 🙂 Ich finde es sehr schön, sehr lesenswert, anspruchsvoll, nicht zu akademisch, aber auch nicht platt und vor allem nicht zäh (das rutscht mir jetzt raus, da ich bei einem der weiteren Sachbücher auf der Shortlist einfach nicht über die Einleitung hinauskomme). Und es macht einfach Lust, zu stöbern in den Wunderkammern, die man zuhause hat 🙂

  4. Vielen Dank für diese schöne und verheißungsvolle Rezension, zu der mich Maren hingeleitet hat, als wir uns über eine „blaue Bibliothek“ unterhalten haben.
    Ich freue mich sehr darauf, das Buch von Jürgen Goldstein zu lesen. Ein bisschen mehr Blau kann niemals schaden …
    Blau ist für mich auch die Farbe der freien Assoziation, der Gedankenreise – vielleicht gefällt dir auch mein jüngster Beitrag über eine „blaue“ Erinnerung (https://elisabethlindaublog.wordpress.com/2017/10/24/helden-23-oktober-2017/).
    Und Blau ist auch die Farbe des Bayerischen Buchpreises, wie ich hier sehe ! Sehr schön.
    Wünsche weiterhin viel Freude beim Lesen und freue mich auf die nächsten Besprechungen.
    Beste Grüße
    Elisabeth

    1. In Bayern sind wir sowieso sehr blau 🙂 Scherz beiseite – herzlichen Dank für Deinen Besuch: Das finde ich das schöne am Bloggen, das ist auch immer wieder eine Reise ins Blaue, bei der man neue Blogs entdeckt (wie in einer Wunderkammer). So ich nun den Deinen. Und werde mal auf die Spur Eurer blauen Bibliothek gehen – das hört sich ja spannend an. Da kann ich sogar noch was sehr schönes beisteuern: Die Welt ist blau! https://saetzeundschaetze.com/2017/07/29/victoria-wolff-die-welt-ist-blau-1933/ herzliche Grüße, Birgit

      1. Oh, vielen herzlichen Dank ! Das habe ich mir gleich angeschaut, und ich finde, d eine Besprechung klingt äußerst vielversprechend. Ein „Muss“ für die blaue Bibliothek, ganz wunderbar.
        Vielen Dank für dein Interesse an meinem Blog, liebe Birgit! Ich freue mich sehr darüber.
        Beste Grüße
        Elisabeth

  5. Durch die Digitalierung geht schon viel verloren: Auf was bin ich nicht alles in den Zettelkästen der Bibliotheken gestoßen…Lauter interessante Titel, die mich auf Umwege und Abwege gebracht haben. Aber heute ist alles so zielgerichtet. Eingabe und voilà: fertig!

    1. Der Vergleich ist sehr treffend – auch dieses Buch empfand ich wie einen Zettelkasten, lauter Fundstücke, die mich auf Ab- und Nebenwege gebracht haben, die mich verleitet haben, dann doch mal wieder etwas über Paul Klee zu lesen, oder Miles Davis zu hören, also völlig unstrukturiert, aber desto lustvoller einfach zu schmökern…

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