Wilhelm Genazino: Tarzan am Main

Wilhelm Genazino hat sich Frankfurt als Wahlheimat ausgesucht. Frankfurt, ausgerechnet! Eine Hassliebe, die er immer wieder gekonnt literarisch aufarbeitet.

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Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

„Wer in einem Flugzeug sitzt und sich langsam der Stadt Frankfurt am Main nähert, wird Opfer einer harmlosen Blendung. Etwa fünfzehn Minuten dauert der Sinkflug, und er spielt sich über schier endlosen Häusermeeren ab. In der Mitte des Panoramas erhebt sich machtvoll eine Wand von Hochhäusern, die zusammengewachsen scheinen. Wer die Geographie nicht kennt, hält den riesigen Teppich für Teile von Frankfurt, das seit langer Zeit damit leben muss, dass sie für die amerikanischste Stadt Deutschlands gehalten wird.“

Wilhelm Genazino, „Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands“

Über den Wolken scheint nicht nur die Freiheit grenzenlos zu sein. Eine Täuschung. Denn im Grunde, so macht es Wilhelm Genazino seinen Lesern deutlich, ist Frankfurt ein provinzielles Dorf, dessen Stadtkern in 20 Minuten durchquert werden kann (wenn einem nicht ständig die Massen an überwiegend asiatischen Touristen im Weg stünden).

Zu gern wäre ich mit dem mittlerweile über 70jährigen Schriftsteller, dessen Romanhelden durch die Bank exzellente Flaneure sind, durch „Mainhattan“ oder auch „Painfurt“, wie ich es nenne, gebummelt. Hab` mich aber nicht getraut, bei ihm zu klingeln. Stattdessen habe ich seinen „Tarzan am Main“ als Begleitung dabei.

„Zum einen gefällt sich die Stadt in ihrer hausbackenen Eppelwoi-Seligkeit, zum anderen will sie als Mainhattan gelten. Man muss annehmen, dass Menschen, die derlei Verschmelzungen angemessen finden, noch nie in New York gewesen sind.“

Eine Sammlung kurzer Texte, das „Genazinos Frankfurt-Buch“ genannt wird. Natürlich nehmen die Stadtbetrachtungen in diesem schmalen Band einen breiten Raum ein – zugleich sind sie aber auch Aufhänger für Biographisches. Genazino, der 1970 nach Frankfurt kam, um dort beim Satiremagazin „Pardon“ zu arbeiten, erzählt von den Anfängen seiner Schriftstellerexistenz, vom Schriftstellerdasein an sich („Ich sitze am Schreibtisch und suche nach Wörtern“), von den „zwiespältigen Wochen“ des Wartens auf die Herren vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, die seine Aufzeichnungen übernehmen wollen („Vorlass“ genannt), von Kollegen (und dem leidigen und sträflich nachlässigen Umgang der Hochkultur mit den unterschätzten Vertretern des Fachs „Humor“ wie seinem Freund Robert Gernhardt). Es ist ein Buch über die Stadt, das Spazierengehen, das Schreiben.

Beides gehört für den Büchner-Preisträger unmittelbar zusammen, denn:
„Vermutlich ist der Schreibende das Gefäß einer Reizung, für die er sich immer besser präparieren lernt. Aus diesem Grund ist es irreführend, sich Literatur nur aus Sprache bestehend vorzustellen. Ohne die andauernde Wechselbelebung zwischen äußeren Bildern, ihrem verzögerten inneren Echo und deren Drang nach Gestaltung würde niemand schreiben wollen.“

Ich schreib hier keine Literatur. Und doch merke ich, dass mich meine Frankfurt-Eindrücke der letzten Tage so beschäftigen, dass ich sie schreibend erfassen will. Für eine Besucherin für mich aus der bayerischen Provinz ist die Stadt, die ich überwiegend vom Weg vom Bahnhof bis zur Buchmesse und zurück kenne, eine Stadt der Extreme: Himmelsstürmende Wolkenkratzer, Obdachlose auf Matratzenlager am Boden. Christopher-Street-Day auf der Zeil, der brummelnde alte Hesse, Schwulen-und-Ausländer-Hass-Parolen in seine Bierflasche murmelnd. Menschenmassen zwischen Alter Oper und Hirschgraben, dazwischen, beim Bücherflohmarkt am „Haus des Buches“, plötzlich ein Ort gepflegter Ruhe.

„An manchen Nachmittagen, besonders im Frühjahr und im Sommer, verwandeln sich Teile der Innenstadt in eine Art Szenario der Verwahrlosung. (…) Ich fürchte sowieso, unser Wirtschaftssystem hat einen Grad von Geschlossenheit erreicht, der die einmal Ausgeschlossenen nicht mehr zurücklässt. (…) Wie sehr die heutige Gesellschaft in geschlossene Segmente auseinandergefallen ist, kann man erleben, wenn man einen Abend in der Oper oder im Schauspielhaus verbringt. Wer in der Pause – ein Glas Prosecco für fünf Euro in der Hand – ein wenig im weiträumigen Foyer umherwandelt, kann ganz nah und doch im Dunkeln die herumhuschenden Schatten derer sehen, die in der Grünanlage unmittelbar vor dem Theater die Nacht verbringen.“

Dass Genazino, dieser begnadete Alltagsbeobachter, in seinen Frankfurt-Beobachtungen keine Sehenswürdigkeiten (Römer, Paulskirche, Bankenviertel, Schaumankai, Goethehaus) abhandeln würde, davon bin ich ausgegangen. Wer sich der „Seele“ dieser Stadt ein wenig annähern möchte, für den ist der „Tarzan am Main“ (das Titel“bild“ entstammt eigentlich einer Vignette über Genazinos Geburtsstadt Mannheim, wo sich Klein-Genazino inmitten der Kriegstrümmer vorstellte, er könne sich mit Lianen buchstäblich abseilen) richtig. Und es erklärt sich aus Buch und Stadterleben auch, warum Frankfurt den passenden Nährboden abgab, damit Genazino hier mit seinem „Abschaffel“ das Genre des Angestelltenromans „erfinden“ konnte. Im Park joggt ein junger Mann an mir vorbei, eigentlich noch ein Milchgesicht, an den Füßen stinkteure Sneakers, und hechelt beim Laufen in sein Headset: „Ja, Mama, aber die haben gesagt, dass ich dieses Jahr noch nicht zum Consultant upgegradet werden kann.“ That`s Ebbelwoi-City.

Informationen zum Buch:

Wilhelm Genazino
Tarzan am Main
Hanser Verlag, 2013
ISBN 978-3-446-24122-0

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

15 Gedanken zu „Wilhelm Genazino: Tarzan am Main“

  1. Danke für Deinen Beitrag. Das Buch von Dir so herrlich in Bezug gebracht, werde ich dann wohl mal lesen. 🙂

    Ich habe in den unterschiedlichsten Winkeln in ihr gelebt. Sie später auch immer wieder besucht.
    Mir sind Westend und Nordend nach wie vor sehr ans Herz gewachsen, denn beide strahlen noch heute, an vielen Stellen, mit ihrem Charme trotzig den Wahnsinnsbauten entgegen. Ich lege mal 3 meiner Geschichten her. Die mich über die Jahrzehnte hinweg mit dieser Großstadt verbunden haben. Zuletzt nur ein kurzer aktueller Augenblick.

    Für mich kann ich zumindest ein Vorurteil bestätigen. Ich war noch niemals in New York. ,-)
    Und in meinen Geschichten findet man auch keine Sehenswürdigkeiten im herkömmlichen Sinn.

    Ob und wie viel Wahrheit in den Geschichten liegt, darf man gerne erahnen.

    https://sandayblog.wordpress.com/2016/03/26/beletage-zeitreise-einer-kindheitserinnerung/
    https://sandayblog.wordpress.com/2016/03/23/papier-traegt-nicht-nur-worte/
    https://sandayblog.wordpress.com/2016/07/03/wenige-augenblicke-in-der-grossstadt/

    Liebe Grüße
    San

    1. Dann bist Du offenbar eine ganz „Exotische“: Eine eingeborene Frankfurterin … da sieht man die Stadt natürlich auch noch mit anderen Augen bzw. ist anders verbunden 🙂 Also Ffm kann man wirklich nicht mit New York vergleichen – aber das wäre ja auch langweilig 🙂

      1. Frankfurt muss sich gar nicht mit New York vergleichen, denn „der Frankfurter aber fährt vierspännig“. 😉 (nix für ungut)

  2. Hallo Birgit,

    vielen Dank für die Collage über Genazinos Buch. Ich habe bislang all seine Bücher gelesen bis auf dieses über Frankfurt. Mich hat genau der Begriff, den du erwähnst, „Frankfurt-Buch“ abgeschreckt.
    Deine Rezension hat mich anderes gelehrt. Ich werde das Versäumnis wieder gut machen. 🙂

    LG,
    Dana

    1. Hallo Dana, für eine Genazino-Leserin wird das Buch auch dadurch interessant, weil er einfach auch viel über sich selber und seinen „Werdegang“ zum Schriftsteller plaudert – ich bin gespannt, ob es Dir gefällt! Viele Grüße, Birgit

  3. Ich liebe Frankfurt ja sehr, kenne aber so viele mehr, die es ganz schrecklich finden. Das Buch ist aber wirklich ein tolles Porträt der Stadt und für Hassende wie Liebende empfehlenswert. Genazino sowieso immer.

    1. Er trifft die Stadt ganz gut, wenn ich das als Außenstehende in der kurzen Zeit überhaupt zu beurteilen vermag. Mir gefallen seine Beobachtungen der Menschen immer am besten – beispielsweise über die Mode der Stadtrucksäcke – das könnte in Frankfurt, München oder sonst wo spielen…

      1. Ja, und auch die Geschichte mit dem nicht upgegradeten Consultant könnte ich mir sehr gut in München oder Hamburg vorstellen.

  4. Genazino ist klasse – ich glaube den sollte ich mal zu einem meiner Bingereader machen 😉
    Und ein ganz tolles Motiv von Herakut – dürfte ich das ganz vielleicht einmal klauen, wenn ich sehr artig auf dich verweise – es ist sooo sooo hübsch 🙂

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