Georges Simenon: Maigret in Arizona

Lange Jahre lebte Georges Simenon in den USA. Doch nur in zwei Romanen versetzt der Vielschreiber auch seinen Kommissar Maigret in die Neue Welt.

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Bild von Egor Shitikov auf Pixabay

Was lief nicht rund in diesem Land, wo sie alles hatten?
Die Männer waren groß und stark, gesund, sauber und im Allgemeinen fröhlich. Die Frauen waren fast ausnahmslos hübsch. Die Kaufhäuser quollen vor Waren über und die Wohnungen waren die komfortabelsten der Welt, an jeder Straßenecke gab es ein Kino, man sah nie einen Bettler und das Elend schien hier unbekannt.
Der Einbalsamierer finanzierte ein Musikprogramm im Rundfunk, und die Friedhöfe waren herrliche Parkanlagen, bei denen man nicht das Bedürfnis hatte, sie mit Mauern und Gittern zu umgeben, als ob man sich vor seinen Toten fürchtete.
Auch die Wohnhäuser waren von Rasenflächen umgeben, und zu dieser Stunde sprengten die Männer in Hemdsärmeln oder mit nacktem Oberkörper das Gras und die Blumen. Es gab keine Bretterzäune und keine Hecken, um die Gärten voneinander abzutrennen.
Sie hatten verflixt noch einmal alles! Sie organisierten sich wissenschaftlich, um das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, und sobald der Wecker klingelte, wünschte einem der Rundfunk im Namen irgendeiner Porridge-Firma in herzlichem Ton einen fröhlichen Tag und gratulierte einem sogar zum Geburtstag, wenn es so weit war.
Warum also?”

Georges Simenon, “Maigret in Arizona”, 1949


Zu der Zeit, als Simenon “Maigret in Arizona” schreibt, lebt der Belgier selbst in den USA. Und anders als sein Kommissar kann er sich mit dem “american way of life” ganz gut anfreunden, erwägt sogar die endgültige Übersiedlung. Erst unter dem Eindruck der McCarthy-Hetze gegen Intellektuelle kühlt seine Begeisterung ab.
Dennoch ist die amerikanische Zeit eine der produktivsten des ohnehin schon produktiven Vielschreibers. Während der zehn amerikanischen Jahre von 1945 bis 1955 schreibt er 21 Romane und etliche Erzählungen – allerdings spielen nur zwei der Maigret-Bücher in den Vereinigten Staaten: “Maigret in New York” und “Maigret in Arizona”.

Welten stoßen aufeinander

Insbesondere der Arizona-Trip des Kommissars fasziniert – da stoßen Welten aufeinander: Der Mann vom Kontinent, Pariser Leben gewöhnt, in der Provinz der „Neuen Welt“. Auf einer Studienreise durch die USA wird Maigret Zuhörer bei einer gerichtlichen Voruntersuchung: Nach einer durchzechten Nacht landen fünf junge Männer vor Gericht – die 17jährige, die bei ihnen war, wird zunächst mitten in der Wüste zurückgelassen und später auf den Bahngleisen von einer Lokomotive erfasst. Ungewiss ist, ob es sich um einen Unfall handelt oder um Mord. Maigret ist zur Untätigkeit verurteilt, zum Beobachten verdammt: Ein Zustand, der die Laune des ohnehin schon brummigen Bären nicht aufhellt.

Und so, angesichts der begrenzten Möglichkeiten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, hadert Maigret mit Gott und der Welt – vor allem also mit dem Lebensstil, den er beobachtet. In diesen Beobachtungen liegt die Stärke des Romans, der als der “antiamerikanischste Roman” Simenons bezeichnet wurde, gar als bittere Abrechnung mit dem Gastgeberland. Maigret schaut auf die saubere Fassade und erkennt die Doppelmoral: Prostitution ist offiziell verboten, über Geschlechtsverkehr oder gar die Möglichkeit einer Vergewaltigung wird vor Gericht nicht gesprochen. Ebenso ist alles auf Funktionalität und Wettbewerb ausgerichtet – doch die Leere des Lebens allabendlich in Kneipen oder Clubs ertränkt. Der massive Alkoholkonsum scheint das Einzige zu sein, was sowohl Verdächtige als auch Cops in der Wüste Arizonas über Wasser hält – er ist das Ventil in einer Welt, die zur Funktionalität verdammt ist.

In einer Schlüsselszene vertraut sich der FBI-Mann Cole, der Maigret begleitet, diesem an:

Sehen Sie, Julius, damit die Welt sich weiterdreht, ist es unerlässlich, dass die Leute auf eine bestimmte Weise leben. Man hat komfortable Wohnungen, elektrische Geräte, einen luxuriösen Wagen, eine gutgekleidete Frau, die einem schöne Kinder schenkt und sie sauber hält. Man ist Mitglied der Kirchengemeinde und eines Clubs. Man verdient Geld und arbeitet, um jedes Jahr mehr zu verdienen. Ist es nicht überall in der Welt so?”
“Vielleicht ist es bei Ihnen perfekter.”
“Weil wir reicher sind. Bei uns gibt es Arme, die ihr eigenes Auto haben. Die Neger, die die Baumwolle pflücken, besitzen fast alle einen alten Wagen. Wir haben den Ausschuss auf ein Minimum reduziert. Wir sind ein großes Volk, Julius.”
Und nicht nur aus Höflichkeit antwortete Maigret:
“Davon bin ich überzeugt.”
“Trotzdem gibt es Augenblicke, in denen die komfortable Wohnung, die lächelnde Frau, die sauber gewaschenen Kinder, das Auto, der Club, das Büro, das Bankkonto nicht genügen. Kommt das bei Ihnen auch vor?”
“Ich glaube, es geht allen Menschen so.”
“Dann, Julius, will ich Ihnen mein Rezept geben, das bei uns alle kennen und anwenden. Man betritt eine Bar wie diese hier, irgendeine, denn sie gleichen sich alle. Der Barkeeper redet Sie mit Ihrem Vornamen an, oder mit einem anderen Vornamen, wenn er Sie nicht kennt, darauf kommt es nicht an. Er schiebt Ihnen ein Glas hin und füllt es, sobald er sieht, dass es leer ist.”
(…)
Und am nächsten Morgen greifen Sie zu der kleinen blauen Flasche, die Sie bereits kennen. Es folgen ein paar herzhafte Rülpser, die nach Whisky riechen. Ein heißes Bad, anschließend eine eiskalte Dusche, und schon ist die Welt wieder sauber und neu, man ist froh, wieder in seinem sauberen Zuhause zu sein, in den sauberen Straßen, man freut sich über das lautlos dahinrollende Auto und das Büro mit Klimaanlage. Und das Leben ist schön, Julius.”
Maigret schaute hinüber in die Ecke neben dem Musikautomaten, wo die beiden Pärchen saßen und zu ihnen herübersahen.

Im Grunde war Bessy gestorben, damit das Leben schön war!

 

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

13 Gedanken zu „Georges Simenon: Maigret in Arizona“

  1. Simenon und sein Maigret gehen halt immer … egal wo er grad steckt. Über Maigrets Ausflüge über den Teich wußte ich, gelesen habe ich diese Bücher noch nie. Vielleicht sollte ich mal …

    1. Genau, Simenon geht immer – die Maigret-Romane sind eine der wenigen Krimireihen, die wirklich die Zeit überdauern. Und die beiden amerikanischen Maigrets finde ich schon wegen der „Außensicht“ auf Amerika interessant (und nach wie vor aktuell).

  2. Ganz toller Text und Du machst mir echt Lust mal wieder einen Maigret zu lesen, am liebsten einen von den beiden amerikanischen, denn die kenne ich bislang noch nicht. Schönes Wochenende wünsche ich Dir und hoffentlich bis bald im Biergarten oder so 🙂

    1. Zeit würde es – also für den Biergarten und nicht nur für den Maigret 🙂 Ich bin ab heute abend nochmals ein paar Tage weg, aber vielleicht haben wir in der letzten Augustwoche nochmals eine Chance und gutes Wetter? Bis dahin kannst Du locker ein paar Maigrets lesen, ich höre Dich dann ab 🙂

      1. Letze Augustwoche wäre klasse, ich checke mal mit Herrn G 😉
        Mal schauen, was sich machen lässt mit Monsieur Maigret…

  3. Ich bin erst durch dich auf die Reihe aufmerksam geworden; vielleicht doch mal ein Grund, einen Krimi zur Hand zu nehmen. Das letzte Zitat ist ausgesprochen großartig. Und bei 21 Romanen und Erzählungen in zehn Jahren ist ja einiges zusammengekommen. Jetzt muss ich doch mal ein wenig recherchieren… Viele Grüße!

    1. Der Simenon wurde lange unterschätzt bzw. von der „ernsten“ Literaturkritik nicht wahrgenommen – er schrieb zuviel (keine Ahnung, ich glaube insgesamt 200 Bücher?), war vielen wegen seiner Wortknappheit zu trivial etc. Aber ich halte ihn für einen grandiosen Psychologen und Menschenkenner, der in kurze Romane ganze Lebensgeschichten einbauen könnte. Ich würde an Deiner Stelle jedoch mit einem Non-Maigret beginnen, beispielsweise diesem hier: https://saetzeundschaetze.com/2017/06/24/georges-simenon-die-katze/

      1. Danke für den Tipp. Dann bin ich mal gespannt, zu welcher „Seite“ ich gehöre – Rosenkohl mag ich. Da ist es bestimmt klug, nicht direkt mit einer Reihe zu beginnen.

  4. Die Non-Maigrets habe ich vor einem Jahr entdeckt und konnte nicht mehr davon lassen, obwohl sie sehr düster sind. Von Maigret in Amerika wusste ich bisher nichts. Danke für die Vorstellung.

    1. Düster, aber eben immer psychologisch gut begründet – das macht, finde ich, die Qualität dieser Bücher mit aus und hebt sie von dem ganzen Serienmordramsch, der den Buchmarkt überschwemmt, deutlich ab. Es ist eben nicht nur Genreliteratur…

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