Upton Sinclair: Boston

1927 werden in den USA die Anarchisten Sacco & Vanzetti hingerichtet. Upton Sinclair schrieb kurz darauf über diesen Justizmord und seine Hintergründe.

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Bild von David Mark auf Pixabay

„Mögen die Historiker Nachforschungen anstellen und die Psychologen grübeln und die Philosophen spekulieren und alle aus dem Fall machen, was immer sie können, doch der Prozess um Sacco und Vanzetti, dessen Echos wie die Druckwellen einer Explosionsserie um die Welt liefen und dafür sorgen sollten, dass in Buenos Aires und Genf die Fensterscheiben der amerikanischen Botschaften zu Bruch gingen und Pariser Taxifahrer den amerikanischen Ladys das Geld ins Gesicht warfen – dieser Cause célèbre nahm seinen Anfang in einem sogenannten Krinimaldetektor, der von einer dubiosen Halbweltfigur erfunden und von einer namenlosen Italienerin in East Boston befragt wurde.“

Upton Sinclair, „Boston“, OA 1928


Eine Warnung vorneweg: Für einen Sprint ist dieser Roman nicht geeignet. Mehr für einen Marathon. Manchmal wird die Strecke etwas monoton, öfter auch kommt man auch an derselben Kreuzung vorbei. Und dennoch: Erreicht man das Ziel, ist man geschafft. Fix und fertig. Aber dennoch, rückblickend: Froh, dass man das Wagnis eingegangen ist.

Wenn sich der Schriftsteller und Aktivist Upton Sinclair (1878 – 1968) daran machte, einen Roman zu schreiben, dann fasste er sich selten kurz. Das 1928 erschienene halbdokumentarische Werk „Boston“ schlug jedoch selbst für seine Verhältnisse Längenrekorde: Auf beinahe 1000 Seiten schildert Sinclair  den Justizskandal um Sacco und Vanzetti, zwei italienische Einwanderer, die 1927 in den USA hingerichtet wurden. Die beiden Männer, Aktivisten der anarchistischen Arbeiterbewegung, wurden 1921 wegen der Beteiligung an einem Raubmord in Massachusetts vor Gericht gestellt.

Ein politisch motivierter Justizmord

Trotz mangelnder Beweise, fragwürdiger Zeugenaussagen, fehlender Indizien und bestehender Alibis wurden Sacco & Vanzetti schuldig gesprochen und zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Sieben Jahre lang kämpften Bürgerrechtler, politische Aktivisten,  Schriftsteller – darunter natürlich Upton Sinclair, aber beispielsweise auch John Dos Passos und Dorothy Parker – sowie etliche Rechtsanwälte um das Leben der beiden Männer. Vergeblich: Mehrere Revisionsanträge wurden unter fadenscheinigen Gründen abgewiesen, in mehreren Instanzen scheiterten die Anwälte vor allem an dem erzkonservativen Richter, der die Arbeiter schon vor dem Prozess vorverurteilt hatte. Ihre Hinrichtung bewegte Menschen in der ganzen Welt. Bis heute stehen die Namen Sacco & Vanzetti für politisch motivierten Justizmord.

„Das ist unsere Bestimmung und unser Triumph“, hatte Bart einst verkündet, und zugegeben, noch nie hatten „ein braver Schuhmacher und ein armer Fischhändler“ weltweit für so viel Aufregung gesorgt. Am Samstag, zwei Tage vor der Hinrichtung, wurde in Buenos Aires der Generalstreik ausgerufen; in Berlin fand ein Protestmarsch der Gewerkschaften statt sowie die erste Radikalenversammlung im ehemaligen Oberhaus des Königreichs Preußen; in London demonstrierten an die zehntausend Bürger vor der amerikanischen Botschaft; in Genf erging ein Aufruf, amerikanische Waren zu boykottieren; in Russland wurden in jeder größeren Stadt Massenkundgebungen abgehalten; und in Paris gingen hunderttausend Arbeiter auf die Straße, mit roten Fahnen und riesigen Schildern, auf denen das amerikanische Rechtssystem nicht gerade gut wegkam. (…) Nur in Massachusetts selbst herrschte Stille. Ganz Boston kauerte im Schatten der eisernen Ferse, und angesichts des drohenden Verlusts ihrer Rechte galt unter den Bürgern nur mehr eine einzige einfache Regel, die jeder verstand: Mach, was die Polizei sagt, und halt ansonsten den Mund.“

Der „zeithistorische Roman“ Sinclairs erschien also bereits ein Jahr nach dem Ende der beiden Anarchisten – sprachliche Finesse kann man hier, insbesondere da Sinclair von Haus aus kein herausragender Stilist war, nicht erwarten. Manches wirkt redundant, was allerdings bei der Fülle an Material wiederum nicht verwundert: Sinclair arbeitete in eine fiktive Rahmenhandlung (eine ältere Dame, eigentlich der oberen Klasse entstammend, befreit sich nach dem Tod ihres Ehemanns von der Familie, geht für ein Jahr in eine Fabrik, lernt dabei Vanzetti kennen und schätzen und, überzeugt von seiner Unschuld, mobilisiert sie eine siebenjährige Kampagne für seine Freisprechung) eine Vielzahl von Quellen, darunter Prozessakten, Zeitungsberichte, Texte von Sacco und Vanzetti und vieles mehr ein.

Ein Dokument über Sacco & Vanzetti

So ist „Boston“ eigentlich selbst ein „Augenzeugendokument“, wenn auch ein sehr voluminöses. Warum sich das Buch jedoch auch heute noch, trotz seiner Längen, zu lesen lohnt: Über den Fall „Sacco & Vanzetti“ hinaus, legt Upton Sinclair, die Strukturen einer verfilzten Gesellschaft frei, die sich – mit aller Gewalt – behaupten will.

Sinclair, insbesondere in den Jahren zwischen den Weltkriegen vor allem ein in Europa einer der am meist gelesenen Autoren, entblößt das ganze Machtgefüge, entblättert die politischen Intrigen, die Interessenspolitik und Verstrickungen von Kapital, Politik und Medien in Boston, die zwangsläufig zum Tod von Sacco & Vanzetti führen mussten. In der angespannten Stimmungslage nach dem Ersten Weltkrieg benötigten die Industriellen in den USA – auch mit ängstlichem Blick auf die politischen Erschütterungen in der „Alten Welt“ – ein Feindbild, um vor allem die aufbegehrende Arbeiterschaft in Schach zu halten. Sacco und Vanzetti wurden für eine Tat verurteilt, die sie wahrscheinlich nicht begangen hatten. Aber sie waren Anarchisten und sie waren Einwanderer – das genügte. Ihre Verurteilung fiel in eine Zeit, als in den USA die „Rote Angst“ bewusst geschürt wurde.

Vieles von dem, was Sinclair in seinem umfangreichen Roman beschreibt, erinnert an spätere und aktuelle Episoden der amerikanischen Geschichte: Die politische Hysterie, die Vermischung von politischen und geschäftlichen Interessen, die Dominanz des Kapitals. Maike Albath besprach den Roman nun anlässlich der Neuübersetzung im Deutschlandfunk:

„Boston“ bietet eine erschütternd aktuelle Schilderung kapitalistischer Verrohung und zeigt auf, mit welchen Mitteln herrschendes Recht gebeugt werden kann. Die Neuübersetzung orientiert sich vor allem in der vielschichtigen Figurenrede stärker am Original. Eine Wiederentdeckung, die es in sich hat.

Dem ist nichts hinzuzufügen.


Bibliographische Angaben:

Upton Sinclair
Boston
Übersetzt von Viola Siegemund
Manesse Verlag, 2017
ISBN: 978-3-641-16212-2

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

11 Gedanken zu „Upton Sinclair: Boston“

  1. Da warte ich ja schon ewig drauf, war schon ab und an kurz davor, mir die März-Ausgabe im Antiquariat zu bestellen. Vielen Dank für Tipp + Vorstellung,
    liebe Grüße,
    Gerhard

      1. Gebongt. Termin sollte mal wieder klappen. Den Besuch in Augsburg hab ich auch nicht vergessen – wir arbeiten dran, versprochen ! 🙂

  2. Eine schöne Besprechung, die Lust macht, den Roman zu lesen. Vor allem das Bild vom Marathon hat mir gut gefallen, auch wenn mich ein Marathon in nicht-metaphorischer Form wenig lockt… 😉

    1. Liebe Ingrid, ich glaube, ich hab das Lied seit meiner politisch bewegten Jugend nicht mehr gehört, was ein paar Jährchen zurück ist. Kaum aber mit dem Buch begonnen, war die Stimme von Joan Baez wieder in meinem Ohr (aber ich hoffe, sie geht da auch mal wieder raus). Schöne Zeit wünscht Dir Birgit

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