Kurt Tucholsky: Herr Wendriner und das Lottchen

Von 1922 bis 1930 ließ Kurt Tucholskys in der „Weltbühne“ mit Herrn Wendriner einen Spießer par excellence zu Wort kommen: Volkes Stimme, satirisch überspitzt.

tombstone-4465184_1920
Dieser Herr sieht irgendwie aus wie ein Wendriner. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Man kommt zu gar nichts mehr. Ich denk jetzt so oft an den Tod. Quatsch. Doch, ich denk oft an den Tod. Das kommt von der Verdauung. Nein, das kommt nicht von der Verdauung. Man wird älter. Wie lange sind wir jetzt schon verheiratet…Nu, für sie ist ja ausgesorgt, so weit bin ich schon, Gottseidank. Wenn ich tot bin, wern sie erst erkennen, was sie an mir gehabt haben. Man wird viel zu wenig anerkannt, im Leben. Hinterher ist zu spät. Hinterher wern sie weinen. Damals, beim alten Leppschitzer warn ja enorm viele Leute. So viel kommen bei mir mindestens auch…“

Kurt Tucholsky, „Herr Wendriner kann nicht einschlafen“, 30. März 1926, „Die Weltbühne“

Der Herr, der hier nicht einschlafen kann, ist der Herr Wendriner. Ein Geschäftsmann und Familienvater im besten Alter, der Spießbürger par excellence. Und wenn Herr Wendriner uff Jedanken kommt, dann wird es ein wenig schräg. So führt Schlaflosigkeit zu solchenen Lebens- resp. Todesweisheiten.

„Schrecklich, wenn man nicht einschlafen kann. Wenn man nicht einschlafen kann, ist man ganz allein. Ich bin nicht gern allein. Ich muss Leute um mich haben, Bewegung, Familie, Arbeit…Wenn ich mit mir allein bin, dann ist da keiner. Und dann bin ich ganz allein. Hinten juckts mich. Ich kenn das. Jetzt wer ich gleich einschlafen. Schlafen…Na, denn gut`n –„

Zwischen 1922 und 1930 erscheinen die Wendriner-Texte aus der Feder Kurt Tucholskys in der „Weltbühne“. Gesellschaftskritische Kurzgeschichten, Monologe, in denen einer vor sich hinschwadroniert und dabei unbewusst in seine kleine Seele blicken lässt. Nach außen hin braver Familienvater, versucht sich auch der Wendriner mal an einer Geliebten und guckt selbst im klassischen Theater den Schauspielerinnen lieber auf die Beine als ins Textbuch. Zumeist schwadroniert er übers Geschäft und – wenig fachkundig – über Politik: Politik ist letztlich das, was das Geschäft nicht stört. So sind ihm die Sozis ein Gräuel, die Bewegungen am rechten Rand notiert er in einer Mischung zwischen Furcht und Bewunderung – Bewunderung für deren „Ordnungssinn“.

Abscheu vor den Spießern

Der Wendriner kam schon bei Erscheinen nicht durchwegs gut an. Zu spitz, zu satirisch und Tucholskys Wort – „Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel“ – bewies sich einmal mehr. Aber auch nach Tucholskys Tod und nach dem Ende des Nationalsozialismus war lange Zeit eine unvoreingenommene Rezeption der Geschichten schwierig: Denn Herrn Wendriner ist ein deutscher Jude. Tucholsky wurde der Vorwurf des Antisemitismus gemacht. Dabei, so arbeitete auch sein Biograf Rolf Hosfeld heraus (nur zu empfehlen: „Tucholsky – Ein deutsches Leben“, Rolf Hosfeld), war es vor allem die Abscheu vor dem Spießertum, die den Schriftsteller und Satiriker antrieb. Aus einem Interview der Jüdischen Allgemeinen mit Rolf Hosfeld:

Zu denen, die versagt hatten, zählte für Tucholsky auch die deutsche Judenheit. Kurz vor seinem Tod 1935 hat er einen Brief an Arnold Zweig geschrieben. Da liest man: »Der Jude ist feige. Er duckt sich.« Tucholsky hatte offenbar einen ziemlichen Abscheu vor den deutschen Juden.

Nicht unbedingt vor den deutschen Juden. Aber vor einem bestimmten Typus des jüdischen Spießers, ja. Herr Wendriner zum Beispiel, ja. Tucholsky hatte eine enorme Abneigung gegen den damals verbreiteten Typus des deutschnationalen Juden. Etwa, wenn Herr Wendriner den SA-Mann vor seinem Geschäft hofiert. Bei Wendriner spielen aber noch andere Aspekte hinein. In seinem ungeordneten Weltbild hat er auch sympathische Züge. Die Wendriner-Geschichten sollten übrigens als Buch erscheinen. Tucholsky unterhielt sich mit Edith Jacobson darüber, wer sie illustrieren könnte. George Grosz wollte Tucholsky nicht, der war ihm zu karikaturenhaft; andere vorgeschlagene Zeichner waren ihm zu antisemitisch.

Das Interview in voller Länge, in dem es um Tucholskys Haltung zum Judentum geht, findet sich hier: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/12535.

Hellsichtige Skizzen

Bereits Edith Jacobsohn, die Frau des Weltbühnen-Herausgebers Siegfried Jacobsohn, plante in ihrem Verlag eine Wendriner-Ausgabe. Zustande kam sie schließlich nicht, selbst ihr waren manche Texte zu scharf. 1927 erschienen dann die bis dahin in der Weltbühne gedruckten Texte bei Rowohlt, in dem Sammelband „Mit 5 PS“. Nicht darunter ist selbstverständlich der interessanteste der Wendriner-Texte, weil erst 1930 entstanden: „Herr Wendriner steht unter Diktatur“. Geradezu hellsichtig skizziert Tucholsky das Heraufziehen einer neuen Gesellschaftsordnung mit Herrenmenschen und lässt seinen literarischen Wendehals bei einem Kinobesuch den Salto zur Unterordnung machen – auch Wendriner ist einer jener, die zu jener Zeit noch glauben, als „Schutzbürger“ und mit der rechten Gesinnung geschähe ihnen nichts.

Der Verlag vbb – verlag für berlin-brandenburg hat nun in einem schmalen Bändchen die Wendriner-Texte neu herausgegeben. Ergänzt durch eine weibliche Stimme: Mit den „Lottchen“-Geschichten lässt Tucholsky eine für diese Zeit typische freche Frauenstimme, emanzipiert, witzig und schlagfertig, zu Wort kommen. „Lottchen“ war im eigentlichen Leben Lisa Matthias, eine alleinerziehende Journalistin, die Tucholsky 1927 kennenlernte. Ihr widmete er „Schloß Gripsholm“.

Abgerundet wird das Buch durch den Briefwechsel Tucholskys mit Edith Jacobsohn zu ihrem geplanten Buchprojekt, der in dem Bändchen erstmals veröffentlicht wird. Allein schon diese briefschriftliche Auseinandersetzung zwischen den Beiden ist von hohem Amüsemang und macht das Buch zu einer kleinen Petitesse:

„Lieber dicker Tucho, was is mit Wendrinern, nuuh?“, fleht die Verlegerin namens Franziska Damenbart, und der Tucho antwortet dem „geliebten Weib“, der Wendriner werde schon mit besonderer Sorgfalt verarztet werden.

„Herr Wendriner und das Lottchen“, Kurt Tucholsky, vbb, 2014, 96 Seiten, Halbleinen, Format: 12,5 x 20,5 cm, ISBN: 978-3-945256-01-5.

Noch mehr zu Kurt Tucholsky auf diesem Blog:

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

26 Gedanken zu „Kurt Tucholsky: Herr Wendriner und das Lottchen“

      1. Könnte mir gefallen und könnte sich auch für eine schöne Schreibanregung eignen 😉 Und ja: hier ist es nicht zu kalt, aber so neblig trüb, wie es an einem Novembersonntag sein sollte, an dem am Aufräumen (Suchen!) kein Weg mehr vorbei führt …

      2. Hier blinzelt seit gefühlten Wochen mal wieder die Sonne durch – was heißt, dass ich dem Aufräumen (schöner Euphemismus) aus dem Weg gehen kann…

    1. Liebe Susanne,
      ich hoffe, Dein Wunsch erfüllt sich – spannend bestimmt für Dich der kurze Briefwechsel im Buch, in dem auch überlegt wird, wie man den Herrn Wendriner illustrieren könnte. Vielleicht hast Du ja eine Idee?

  1. Liebe Birgit,

    schon wieder so ein schöner Tip. Ich kannte nur ein paar Wendriner-Geschichten, weiss aber nicht mehr woher. Dieser Typus Mensch literarisch darzustellen, der einem ein bisschen den Spiegel vorhält ist ja ein schönes Topos und von Tucho verbraten erstrecht. Und dazu noch die Lottchen-Geschichten und der Briefwechsel mit den Jacobsohns!

    A propos Spiesser oder besser Spießer, da fallen mir die wunderbar bösartigen Geschichten von Gaston Salvatore ein, die der unter dem Rubrik-Titel „Waldemar Müller. Ein Deutsches Schicksal“Anfang der 80er in meiner leider längst verblichenen Kultur- und Diskurs-Zeitschrift ‚Transatlantik‘ nach und nach veröffentlicht hat. Die kann ich in diesem Zusammenhang nur empfehlen. Sie sind letztes Jahr unter dem gleichnamigen Titel komplett beim Wallstein Verlag erschienen http://www.wallstein-verlag.de/9783835313569-gaston-salvatore-waldemar-mueller.html

    Der Verlag vbb, das habe ich bei dieser Gelegenheit übrigens gemerkt, ist ein ganz interessanter. Beim Stöbern nach dem Tucho-Titel habe ich eben noch eine wunderschöne Ausgabe von Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ gefunden http://www.verlagberlinbrandenburg.de/Gesamtverzeichnis/Kulturgeschichte/Spazieren-in-Berlin.html – Mist, schon wieder zwei Bücher mehr…

    Danke für die schöne Anregung und liebe Grüsse
    Kai

    1. Lieber Kai,
      ja, auf den Verlag bin ich auch erst durch den zufälligen Tucholsky-Fund gestossen und habe neben dem Hessel natürlich noch einige Ringelnatzereien gesehen…aber ich habe Buchkaufstopp 🙂
      Danke für den Tipp zu Gaston Salvatore, der ist mir wiederum ganz neu. Da muss ich gleich mal gucken (gucken darf ich ja noch 🙂
      Einen schönen Abend, Birgit

Schreibe eine Antwort zu wolkenbeobachterinAntwort abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.