Kurt Tucholsky – Augen der Großstadt

Tucholsky verband zu Berlin eine Art Hassliebe. Die Anonymität, die Hektik, den Rhythmus der Stadt brachte er kongenial in „Augen der Großstadt“ zum Ausdruck.

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Bild von Caro Sodar auf Pixabay

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

Kurt Tucholsky

Es war eine Art Hassliebe, die Kurt Tucholsky mit seiner Geburtsstadt verband. Immer wieder ist Berlin Thema seines Schreibens, immer wieder nimmt er den Berliner und dessen Alltag satirisch-kritisch unter die Lupe:

„Der Berliner schnurrt seinen Tag herunter, und wenn`s fertig ist, dann ist`s Mühe und Arbeit gewesen. Weiter nichts. Man kann siebzig Jahre in dieser Stadt leben, ohne den geringsten Vorteil für seine unsterbliche Seele.“

(Ignaz Wrobel, Berlin! Berlin!, 1919)

Die Stadt und ihre Lichter, die Stadt und ihre dunklen Ecken, die Hektik, der Trubel, die Anonymität: Häufig machte er dies zum Thema seiner Gedichte. Im Falle der Großstadt-Augen könnte man auch schreiben: Seiner Lieder. Dieses Liedgedicht, das mit seinem wiederkehrenden Refrain einen ganz eigenen Rhythmus hat, singt eine bittersüße Melodie vom Großstadtleben, von der Flüchtigkeit der Begegnungen.

Es entstand 1930 – in dem Jahr, als Tucholsky sich entschloss, dauerhaft nach Schweden zu ziehen. So könnte man das Lied auch als herbsüßen Abschied von einer eigenartigen, flatterhaften Geliebten interpretieren: Augen-Blicke in einer hektischen, pulsierenden Metropole, flüchtige Begegnungen, Verheißungen, das sich Finden und Vergehen. Die Großstadt als unbeständige, unnahbare Gefährtin.

„Kurt Tucholsky, obwohl ein geborenes Großstadtkind, suchte zeitlebens die Stille, Orte der Abgeschiedenheit, die ihm ein Gleichmaß des Arbeitens versprachen (…). Den Berlinern und ihrer übernervösen hektischen Lebensart konnte Tucholsky nie ausweichen, er selbst war ja vom Lebensstil der Moderne infiziert und musste sich dem Rhythmus der Stadt beugen, wenn er nicht gerade auf Reisen war.“

Sunhild Pflug ist für die „Frankfurter Buntbücher“ den Spuren Tucholskys durch Berlin nachgefolgt: Von Geburt an bis 1924 wohnt der Schriftsteller und Journalist in verschiedenen Stadtteilen der Metropole, Moabit, Schöneberg, Wilmersdorf und Friedenau, bis es ihn zunächst nach Paris zieht, ab 1930 ist dann sein offizieller Wohnsitz in Schweden. Immer wieder jedoch kehrt er an die Spree zurück, wird hier wie da nicht heimisch, ein Ruheloser. Mal schreibt er: „Berlin ist gräßlich“. Mal bekennt er: „Aber eines kann unsereiner nicht entbehren: die große Stadt, die abends die Lichter anzündet, die Stadt, wo man sich anonym in seine Bestandteile auflösen kann; wo so viele da sind, daß keiner mehr da ist (…)“.

Wo ein Blick alles verspricht und doch nichts halten kann…
Mit den „Augen der Großstadt“ steht Tucholsky ganz in der Tradition der Expressionisten und der Literaten, die die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Thema machten – exemplarisch dafür der 1929 veröffentlichte Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin.

Wie eine cineastische Untermalung dazu wirkt „Die Sinfonie der Großstadt“ – dieses großartige, experimentelle Filmportrait Berlins von Walther Ruttmann, das 1927 uraufgeführt wurde. Unbedingt sehenswert:

Im Gegensatz zu Tucholsky und Döblin, der 1933 ins Exil ging, passte sich Ruttmann den Zeitläuften an – er drehte ab 1933 für die Ufa Propagandafilme wie „Blut und Boden“.

Noch ein Wort zu den Frankfurter Buntbüchern: Die Hefte sind eigentlich viel zu schön, um sie als literarische Reisebegleiter in einen Koffer oder Rucksack zu stopfen. Das erste „Buntbuch“ erschien 1991, seither gibt es in loser Folge immer wieder ansprechend aufgemachte Ausgaben, die das Verhältnis von Schriftstellern und Orten zum Inhalt haben. „Da stehn die Häuser, und lassen in sich hausen… – Kurt Tucholskys Wohnorte in Berlin“ ist die Nummer 56 in dieser Reihe. Neben dem kurzen, aber inhaltsreichen und treffenden Text von Sunhild Pflug überzeugt der Band durch die gelungene Kombination von Fotografien aus dem heutigen Berlin, historischen Aufnahmen, Kartenmaterial und Abbildungen von Dokumenten Tucholskys.

Der Name der Reihe leitet sich von den Buntpapieren ab, die seit Jahrhunderten als Vorsatzpapier oder zum Beziehen eines Bucheinbandes verwendet werden. Für das Tucholsky-Heft wurde ein Marmorpapier-Umschlag gewählt, das nach Mustern aus dem 19. Jahrhundert hergestellt wurde.

Zu den Frankfurter Buntbüchern:
http://www.heinrich-von-kleist.org/kleist-museum/museumsshop/frankfurter-buntbuecher/

Noch mehr zu Tucholsky auf diesem Blog:

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

23 Gedanken zu „Kurt Tucholsky – Augen der Großstadt“

  1. Guten Morgen liebe Birgit, Danke für den „Tucho“ am frühen Morgen! Die Frankfurter Buntbücher, insbesondere dieses, werde ich mir mal genauer ansehen.
    Viele Grüße in den verregneten, schönen Morgen !
    Päddra😊

  2. Liebe Birgit,
    meine Stadt! Ich bin von Herzen Berlinerin, ich kenne die dunklen Seiten der Stadt. Ich übersehe sie nicht. Aber trotzdem – Berlin ist meine Stadt, meine Heimat.
    Danke für den Film aus der Vergangenheit:-) es hat mir Freude bereitet ihn zu schauen.
    Liebe Grüße von
    Susanne

      1. Da freuen wir uns sehr. Ich habe dir ja eigentlich schon beide Seiten des Weddings gezeigt. Wollten wir uns nächstes Mal nicht Tegel zuwenden? Ich würde dir gerne das Humboldtsschloss und die kleine Schwester der Golden Gate Bridge, die Sechserbrücke zeigen. 🙂 🙂
        Liebe Grüße Susanne

  3. Ich lebe seit 2005 in dieser Stadt, die man gleichzeitig hassen und lieben aber nicht verlassen kann ohne sie zu vermissen. Hier gibt es alles. Überall. Das Schöne neben dem Hässlichen in Zehlendorf, Charlottenburg und Steglitz. Das Erhabene neben dem Profanen im Wedding, in Reinickendorf, in Köpenick. Egal wo man ist, es gibt alles. Das ist Leben, das ist bunt und deshalb lieben wir es. Danke für diesen wunderbaren Beitrag – ich werde mich in nächster Zeit wieder mehr mit den Flaneuren in Berlin befassen … ein Thema, das mir schon länger duch den Kopf spaziert mit Texten von Kracauer, Franz Hessel, Benjamin …das hier ist ein weiterer Anstoss dazu. Mit Dank und Gruß aus Berlin, Bri

    1. Stimmt, die Berliner Kindheit um 1900, Hessel (da gab es letztes Jahr doch auch eine Ausstellung über ihn in Berlin?), und – ich zögere noch – der aktuelle Band in der Anderen Bibliothek mit Berliner Gedichten. Wäre wirklich ein tolles Thema 🙂
      Mir Landei gefällt es bei euch immer ausgesprochen gut, soviel zu sehen und zu stauen auf den Straßen – aber wenn ich zurück komme, freue ich mich immer über diese Stille….

      1. Stille gibts hier auch – zum Beispiel hier in Köpenick … im Wald oder am Wasser. Wir wohnen ja auch nicht mitten drin. Aber wenn wir wollen, dass sind wir schnell da. Ich empfehle gerne Siegfried Kracauer – Straßen in Berlin und anderswo, das hat mich sehr nachhaltig beeindruckt. Ich glaube, da muss ich mal was draus machen ,))

  4. Danke für das Gedicht und deinen mitschwingenden Text. Es ist mein liebstes von Tucholsky und kommt mir auf den Straßen von Berlin mindestens einmal am Tag in den Sinn.

  5. Irgendwo, so glaube ich, habe ich diese Buntbücher schon gesehen. Aber immer nur flüchtig.
    Nun habe ich hingeschaut. Und sie gefallen mir, allein schon von der Optik, vom erschwinglichen Preis- und bestimmt auch vom Inhalt her.
    Danke für´s Hinweisen. 🙂
    Lo

    1. Na, dann hoffe ich, dass für Dich auch der Inhalt hält, was die Optik verspricht 🙂
      Ich habe ein paar und bin bisher noch nie enttäuscht gewesen – kurze, knackige Essays, anspruchsvoll, aber auch lesbar und v.a. bekommt man eine gute Ahnung von Orten und Autoren…
      Birgit

  6. Ach ja, Berlin. Mir ist vor ein paar Wochen zufällig Stefan Zweigs „Welt von Gestern“ in die Hände gefallen. Zweig, das wusste ich gar nicht, hat um die Jahrhundertwende ein Semester in Berlin studiert. Es war noch ein ganz anderes Berlin als das von Tucholsky, die Stadt war mitten im Übergang „von der bloßen Hauptstadt zur Weltstadt“. Für den Wiener Zweig war es auf den ersten Blick „nach der satten und von großen Ahnen vererbten Schönheit Wiens eher enttäuschend… Überall vermisste man die leichte, geschickte und verschwenderische Hand, die in Wien wie in Paris aus einem billigen Nichts eine bezaubernde Überflüssigkeit zu schaffen verstand. In jeder Einzelheit fühlte man friderizianische, knickerige Haushälterischkeit; der Kaffee war dünn und schlecht, weil an jeder Bohne gespart wurde, das Essen lieblos, ohne Saft und Kraft. Sauberkeit und eine straffe, akkurate Ordnung regierten allerorts statt unseres musikalischen Schwungs“. Das Zitat ließe sich noch länger fortsetzen, Zweigs Beobachtungen sind so köstlich wie auf den Punkt. Aber daneben begegnet er auch einer Literaturszene in ungestümem Aufbruch, und das ist wirklich lesenswert: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-welt-von-gestern-6858/6 [etwa ab Mitte des Kapitels]

    1. Ein wunderbares Buch, die Welt von gestern! Danke für das passende Zitat. Ich weiß leider nicht, ob es von Tucholsky entsprechendes über Wien gibt – das wäre mal ein interessanter Vergleich 🙂 Danke sehr!

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