Kurz&knapp: Politische Literatur aus der Türkei

„Das Gefängnis ist die Schule der türkischen Literatur“: Schon Yaşar Kemal, Sabahattin Ali und Aziz Nesin bezahlten für ihr Schreiben einen hohen Preis.

Türkeikruz
Bild: (c) Michael Flötotto

„Es gibt keinen Zweifel – das Gefängnis ist die Schule der türkischen Gegenwartsliteratur.“

Yaşar Kemal – verhaftet, gefoltert, verurteilt

Auch der kurdische Schriftsteller Yaşar Kemal (1923 – 2015), von dem das Zitat stammt, ging durch diese Schule: Schon als 17jähriger wurde er wegen eines Gedichtes verhaftet. Insgesamt saß Kemal drei Mal in türkischen Gefängnissen ein, wurde gefoltert, überwacht und bespitzelt. Und selbst, nachdem er in den 1970er Jahren für den Literaturnobelpreis im Gespräch war, blieb der Schriftsteller, der sich politisch links engagierte, nicht unangetastet: Er wurde unter anderem wegen seiner Kritik an der Kurden-Politik der Türkei 1996 wegen Volksverhetzung zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.

Die Opposition türkischer Schriftsteller gegen das jeweilige Regime hat (bis heute) Tradition. Auf der Homepage des Unionsverlages, bei dem Yaşar Kemals Bücher in deutscher Übersetzung erschienen sind, ist dazu ein Text des Schriftstellers zu lesen:

„Opposition ist eine türkische Tradition. Und wenn man die Geschichte der türkischen Literatur näher untersucht, dann findet man in ihrem Zentrum die Bauernliteratur, oder vielmehr die Volksliteratur. Anatolien war schon immer ein rebellisches Stück Land, seit dem 13. Jahrhundert ist hier die Kette der Revolten nicht abgebrochen. Aus diesen Aufständen sind immer auch Künstler herausgewachsen.  

Die Schriftsteller meiner Generation stehen in dieser Traditionslinie. Sogar Hikmet, der aus einer Aristokratenfamilie des Osmanischen Reiches stammt, fand den Weg mitten ins Herz Anatoliens: Er saß siebzehn Jahre für seine Überzeugung im Gefängnis, und dort hat er seine Lyrik entwickelt, im Kontakt mit den Menschen Anatoliens, mit Dieben, Mördern, kleinen Gaunern, mit Unterdrückten aller Art, mitten im Volk und seinem riesigen Schatz an Erfahrungen. 

Das ist wohl eines der überraschendsten Merkmale der Schriftsteller meiner Generation. Es gibt praktisch keinen, der nicht durchs Gefängnis gegangen ist. (…) Es gibt keinen Zweifel – das Gefängnis ist die Schule der türkischen Gegenwartsliteratur.“

Mehmed, mein Falke – ein Meilenstein der türkischen Literatur

Der Zyklus um Mehmed, jenen anatolischen Bauernjungen, der gegen einen ausbeuterischen Großgrundbesitzer rebelliert, der zum Aufständischen, zum Vorbild und zum Mythos wird, war meine erste Berührung mit der türkischen Literatur. „Mehmed mein Falke“ las ich in Jugendjahren mit einer ähnlichen Begeisterung wie ich sie für andere mitreißende Abenteuerromane hatte. Als eine Art türkischen „Robin Hood“ oder auch „Kohlhaas“, ohne den politischen Kontext zu ahnen.

Erst später begriff ich, warum das 1955 erschienene Buch – das seither um die Welt ging – vor allem für die Türkei ein Meilenstein war. Kemal brachte die anatolische Sprache (was an der deutschen Übersetzung natürlich nicht absehbar ist) und anatolische Themen in die türkische Literatur. Vor allem aber zeichnete er mit diesem Epos, das zugleich poetisch und gewalttätig ist, ein unverstelltes Bild der bitteren Armut der Landbevölkerung in Anatolien, der Unterdrückung und der Ungleichheit, benennt die materielle und sozial Kluft zwischen den Klassen in der Türkei, soziale, aber auch rassistische und religiöse Schranken, die bis heute bestehen.

In seinen Erinnerungen (Der Baum des Narren. Mein Leben. Im Gespräch mit Alain Bosquet, Unionsverlag 1999) sagte Kemal über Mehmed:

„Als ich jung war, glaubte ich, dass es auf dieser Welt Menschen mit einer »Verpflichtung« gibt. Später begriff ich, dass die Welt voller aufrührerischer Schicksale ist, wie das des Scheichs von Sakarya.
Für mich war die Welt vor allem das Werk dieser Aufständischen; sie drückten die Quintessenz unserer Menschheit aus. Sie hatten unser Universum verändert, um es uns in seinem jetzigen Zustand zu übergeben. Sie werden es auch in Zukunft verändern, sie werden uns helfen, dem Bösen zu widerstehen, und uns in eine menschlichere Welt führen. Es sind Männer, die in den Kampf zogen, Menschen, die den Kampf aufnahmen, obwohl sie wussten, dass sie alles, auch ihr Leben, verlieren würden; sie kämpfen, obwohl ihr Scheitern vorhersehbar ist, und sie gehen ihrem Schicksal entgegen: dem Schicksal der Besiegten.“

Auf „Mehmed mein Falke“ folgten in diesem Zyklus noch drei weitere Romane: „Die Disteln brennen“ (1969), „Das Reich der Vierzig Augen“ (1984) und „Der letzte Flug des Falken“ (2003). Freilich ist der erste Roman dieser Reihe nicht nur der bekannteste, sondern auch der beste der Mehmed-Bücher. Aber auch wenn es manchmal etwas Geduld braucht und Beharrungsvermögen, so lohnt es sich doch, lesend das Schicksal Mehmeds durch alle vier Teile zu begleiten.

Sabahattin Ali – der türkische Gorki

Für Yaşar Kemal war der 20 Jahre vor ihm geborene Sabahattin Ali sowohl in literarischer Hinsicht als auch in Haltungsfragen ein Vorbild: Ali (1907 – 1948), der „türkische Gorki“, ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Türkei. Und doch sollte es bis 2014 dauern, bis sein Romanerstling „Yusuf“ (1937) in deutscher Sprache erschien – obwohl der Roman als sein Meisterwerk gilt, wie die Übersetzerin Ute Birgi in ihrem Nachwort zur deutschsprachigen Ausgabe beim Dörlemann Verlag schreibt.

Schon vor Kemal stellte Ali die Landbevölkerung in den Mittelpunkt seiner Werke, deren Traditionen, vor allem aber deren Leben in Armut und Unterdrückung. Und wie sein literarischer Nachfolger im Geiste zahlte er dafür einen hohen Preis: Der sozialkritische Schriftsteller landete – wie Kemal – für ein Gedicht im Gefängnis. Allerdings verlief sein Schicksal weitaus tragischer: Ali und Aziz Nesin, von dem hier noch die Rede sein wird, wurden als Herausgeber einer satirischen Zeitung verhaftet, aber ohne Anklage wieder freigelassen. Daraufhin beschloss der Schriftsteller, aus der Türkei zu fliehen – und wurde am 2. April 1948 an der türkisch-bulgarischen Grenze ermordet. Bis heute ist umstritten, ob es sich um einen Raubmord handelte oder der türkische Geheimdienst verantwortlich war.

„Bis die Umstände dieses Todes endlich offengelegt werden, wird sich der Verdacht halten, dass die erwähnten und ähnliche unbekümmerte Äußerungen des wegweisenden Schriftstellers und Stilisten zu seinem schrecklichen Ende beigetragen haben. Ein großer Verlust für die Weltliteratur – gemildert nur durch das tröstende Überleben seiner Werke, mit denen Sabahattin Ali sein Ideal, das Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen, den Menschen auch in Zukunft ans Herz legen wird“, so Ute Birgi in ihrem Nachwort zu „Yusuf“.

„Yusuf“ ist ein Roman, den ich Lesern empfehle, die die stille, poetische Traurigkeit, die diesem Buch innewohnt (die zugleich aber auch einer harten, brutalen Welt beigesellt ist) zu schätzen wissen. Eine Liebesgeschichte voller Melancholie, eine Liebe gegen alle Widerstände, ein gebrochener und dennoch strahlender Held:

„Er (Sabahattin Ali) legte großen Wert auf den inneren Zustand seiner Figuren, die oft etwas Zerrissenes charakterisiert“,

betont Maike Albath in ihrer fundierten und umfangreichen Besprechung des Buches, in der sie auch umfassend auf die Person des Schriftstellers eingeht.


Aziz Nesin – Literatur und Knast

Wenn von den dezidiert politischen Autoren der Türkei dieser Generation die Rede ist, dann darf der oben erwähnte Aziz Nesin (1915 – 1995) nicht ungenannt bleiben. Auch er, flapsig ausgedrückt, war wie Kemal und Ali ein „Knastbruder“, der wegen seiner Haltung und politischen Gesinnung mehr als fünf Jahre im Gefängnis war, über 200 politische Prozesse über sich ergehen und ständige Anfeindungen ertragen musste.

Dagegen aber stand, wie Tobias Mayer in einem Portrait im Deutschlandfunk betont:

„In der ganzen Welt gibt es nur wenige Autoren, die so viele Feinde haben wie ich. Gegen diese Feinde unterstützten mich stets meine Leser. Sie zeigten sich solidarisch mit mir, gegen die Polizei, gegen die Regierungen, gegen die politische Unterdrückung und gegen Klatsch und Tratsch.“ 

Im Gegensatz zu Kemal und Ali schrieb Nesin weitaus satirischer, direkt und brachial, manchmal auch obszön. Ein Gefängnisdialog aus seinem bekanntesten Roman „Surnâme“:

„Gnädiger Herr“, fragte einer, „welche Hinrichtungsmethode ist eigentlich die beste?“
„Weiß ich nicht“, antwortete er. „Die Staaten halten das verschieden, man darf sich nicht einmischen. Bestimmt ist unsere Art, am Galgen zu hängen, die lustigste, wenn auch nicht die menschlichste.“
„Lustig? Was findest du lustig am Strick?“
„Es kommt auf die Nebenwirkungen an. Unser verstorbener Lehrer an der juristischen Fakultät erzählte uns, man habe bei Prüfung der Wäsche eines Aufgeknüpften gewisse verklebte Stellen gefunden (…).“ 

Surnâme – Festgedicht im Todestrakt

Im Grunde dreht sich in diesem Buch – schon der Titel ein satirischer Seitenhieb, ist doch eine „Surnâme“ eigentlich ein Festgedicht, um die Sultansfamilie zu preisen – alles um Sex, Blut, Gewalt, Tod. Ein harmloser Barbier kommt, durch die Umstände Opfer und Täter zugleich geworden, in ein türkisches Gefängnis und wird in dessen System Tag für Tag zerrieben und zerbrochen, bis ihn die Todesstrafe ereilt. Satirisch überspitzt und gnadenlos ehrlich – so wurde der 1976 erschienene Roman in der sogenannten „Zwischenputschzeit“ zu einer Abrechnung mit der türkischen Scheindemokratie und einem deutlichen Protest gegen die Todesstrafe.

Sie kamen aus dem Gefängnis, sie schrieben im Gefängnis, sie schrieben über das Gefängnis – aber immer schrieben sie, diese großen alten Männer der türkischen Literatur, trotz und gegen alle Widerstände. Und ihre Werke wurden gelesen, wurden von Erzählern durch die Kaffeehäuser der Türkei getragen, sind im Gedächtnis verankert. Ihre Bücher überlebten.

Das macht Mut, gerade in den heutigen Zeiten.

Die Bücher Yaşar Kemals liegen im Unionsverlag in deutscher Übersetzung vor.

Von Sabahattin Ali erschienen beim Dörlemann Verlag „Yusuf“ und „Die Madonna im Pelzmantel“.

Von Aziz Nesin gibt es mehrere Bücher in deutscher Übersetzung antiquarisch. Der Unionsverlag bietet auf seinen Seiten viele Informationen über den Schriftsteller.

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

10 Gedanken zu „Kurz&knapp: Politische Literatur aus der Türkei“

  1. Ich fange gerade an, mich ein wenig mit der türkischen Literatur zu beschäftigen, und merke erst jetzt, wie viel es hier dazu zu finden gibt, sehr schön! Wirklich spannend!

    1. Ja, das geht mir ebenso – was für eine reichhaltige und vielfältige Literaturgeschichte. Einen Eindruck kann man unter anderem davon mit der „Türkischen Bibliothek“ gewinnen, die ebenfalls beim Unionsverlag erschien.

  2. Danke für Deine Lesefrüchte. Wie es in der Türkei im Gefängnis ist, teilst Du mit. Als ich vor dreißg Jahren hierzulande für zehn Tage darin war – nach dem Sitzen vor dem Atomwaffenlager – fand ich in der Zelle die Werke von Wolfgang Borchert und ich liebte die Geschichte von der Hundeblume und andere.
    Herzliche Grüße

    1. Die Verhältnisse sind sicher auch heute noch deutlich anders. Ich erinnere mich dunkel an einen Film aus den80er/90er Jahren aus der Türkei, in dem es u.a. auch um die Folter in türkischen Gefängnissen ging, erschütternd & erschreckend.

  3. Sehr guter und interessanter Beitrag. Was auch immer man besorgniserregendes über die türkische Regierung in den Nachrichten hört, es macht doch Hoffnung, dass es diese Schriftsteller gibt. Kultur lässt sich eben nie vollständig von Politik unterwerfen.

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