Arthur Rundt: Marylin

Der Österreicher Arthur Rundt griff in seinem neusachlichen Roman „Marylin“ (1928) das Thema des Rassismus auf. Die Geschichte einer unmöglichen Liebe.

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Bild von Quinn Kampschroer auf Pixabay

„Marylin hatte in Chicago eine Fünfundzwanzig-Dollar-Stellung.
Sie fuhr jeden Morgen mit dem gleichen Hochbahnzug in ihr Office, vom Nordwesten der Stadt bis zur Station an der Ecke der Wabash und Madison Street.
Aber was half es Philip, daß er täglich diese selbe Linie benutzte, daß er täglich sechs Stationen vor Madison Street gerade diesen bestimmten Zug erwartete und ihn zugleich mit Marylin verließ?“

Arthur Rundt, „Marylin“, 1928


Ich muss gestehen, ich habe mich in dieses Buch schon auf den ersten Blick verliebt: Manchmal ist es eben doch richtig, ein Buch nach seinem Cover zu beurteilen! Mit der Titelgestaltung durch Jorghi Poll traf der sehr, sehr feine Wiener Verlag „edition atelier“ voll meinen Geschmack. Neben der Gegenwartsliteratur widmet sich der Verlag vor allem auch Wiederentdeckungen der österreichischen Literatur – so  erschienen in seinem Programm die Texte der wunderbaren Lina Loos und der lange verschollene Roman von Bohuslav Kokoschka. Und auch „Marylin“ von Arthur Rundt ist eine Perle – der Inhalt dieses schön gestalteten Buches hält also, was das Cover verspricht.

Was zunächst jedoch wirkt wie eine zarte Liebesgeschichte, die ein wenig mit den Turbulenzen des Jazz Age gespickt ist, nimmt eine unerwartete Wendung – und wird gerade dadurch einerseits tragisch, andererseits aber auch hochaktuell und hochpolitisch.

Geschichte einer obsessiven Liebe

Die Liebesgeschichte von Philip und Marylin beginnt ein weniger holprig. Der junge Architekt begegnet der selbständig erscheinenden Büroangestellten auf dem Arbeitsweg und weiß sofort: Das ist sie. Doch Marylin, die offenbar ganz für sich, ohne Familie und Freunde lebt, entzieht sich den behutsamen Annäherungsversuchen immer wieder, flüchtet sogar in neue Stellungen und Städte. Philip reist ihr durch halb Amerika hinterher – fast möchte man schon meinen, da habe einer in den 1920er Jahren einen ersten „Stalking“-Roman veröffentlicht. Doch Arthur Rundt lässt das Paar in New York endlich zusammenkommen:

„Die beiden redeten nicht. Jetzt standen sie auf, hielten einander wie Kinder bei der Hand und gingen den gekrümmten Parkweg stadtwärts, ziellos immer weiter, am kleinen See vorbei, sahen, auf einer Anhöhe angelangt, am Ende des Parks ein Stück von der gezackten Wolkenkratzerlinie gegen den blauen Himmel, blieben eine Weile stehen und liefen dann, Hand in Hand, die Anhöhe hinunter.“

Tatsächlich ist von diesem Moment an der Weg der beiden, vor allem ihre Fallhöhe, vorgezeichnet: Denn so harmonisch die Ehe scheint, Marylin birgt ein Geheimnis, hält etwas zurück, auch Philip verspürt ab und an „das Fremde“ in ihr. Lange verwehrt sie sich Philips Kinderwunsch. Als dann doch eine Tochter geboren wird, ist die Tragödie da. Das Kind ist schwarz. Philip vermutet einen Seitensprung Marylins, zumal das Paar Bekanntschaft mit einem schwarzen Boxer und einem Musiker geschlossen hatte. Es kommt zu einem Scheidungsverfahren, das mehr einer Aburteilung der jungen Frau gleicht, in dem der ganze Rassismus auch der amerikanischen Gerichtsbarkeit offenbar wird.

Die unheilvollen Folgen des Rassismus

Marylin flüchtet noch einmal: Zurück in die Karibik, zu ihren Verwandten. Dass sie selbst gemischtrassig ist, das wagt sie bis zuletzt ihrem Mann nicht einzugestehen. Als Philip vom familiären Hintergrund seiner Frau erfährt, wächst der bis dahin eher brav-bürgerliche junge Mann über sich hinaus – er reist ihr hinterher, wohlwissend, dass eine Ehe mit ihr in den USA Isolation und sozialen Abstieg mit sich bringen würde. Während der Schiffreise begegnet er dem Musiker, den er zunächst verdächtigte, der Vater des Kindes zu sein, wieder. Dieser gibt ihm zu bedenken:

„Wahrscheinlich begreifen Sie noch nicht, Mr. Garrett, was Sie da tun. Sie gehen einen schweren Weg. Früher haben Sie die Wahrheit nicht gewußt, nun wissen Sie alles. Das wird Ihnen schwer angerechnet werden. Leute, die bis jetzt mit Ihnen verkehrt haben, werden Ihren Gruß nicht erwidern; Sie werden Türen verschlossen finden, die Ihnen bisher offen standen. Sie haben dadurch, was Sie jetzt tun – es klingt wie eine Übertreibung, aber es ist so: Sie haben jetzt plötzlich hundert Millionen Menschen zu Feinden. Sie haben Ihr ganzes weißes Amerika gegen sich. Sie gehen einen schweren Weg, Mr. Garrett.“

Doch Philips Entschluss, gegen alle Rassenschranken zu Marylin und dem Kind zu halten, steht fest. Jedoch: Er kommt zu spät…

Rundt: Ein Amerika-Kenner seiner Zeit

So schmal dieser gerade 158 Seiten umfassende Roman auch ist – er hinterlässt nach der Lektüre einen großen, wirkmächtigen Eindruck. Arthur Rundt, der zu seiner Zeit als Feuilletonist, Autor und Theatermann eine österreichische Größe war (so gehörte er zur „Mokka-Runde“ im Café Central), galt als einer der Amerika-Kenner seiner Zeit. Er hatte die Vereinigten Staaten in den 1920er-Jahren als Korrespondent bereist und intensiv kennengelernt, sein 1926 erschienenes Buch „Amerika ist anders“ bietet immer noch einen erfrischenden, klaren Blick auf die USA und das europäische Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Diese Kenntnisse bilden auch den geeigneten Hintergrund zu seinem Ausflug in die Belletristik: „Marylin“ ist auch ein Großstadtroman, der ähnlich wie „Manhattan Transfer“ oder „Berlin Alexanderplatz“ den Sound der Metropolen aufgreift, er ist ein Wirtschaftsroman, der einen Blick auf die industriellen Abläufe und Arbeitsmechanismen der großen Konzerne wirft, er ist zudem ein Roman, der das „Jazz Age“ und die Anfänge der Entwicklung schwarzen Selbstbewusstseins (Stichwort Harlem-Renaissance) abbildet. Vor allem aber ist er eine sachliche – und darum umso eindrucksvollere – Abrechnung mit dem Rassismus in den USA.

Der Roman, der 1928 als Fortsetzungsroman in der Neuen Freien Presse erschien, wird der Neuen Sachlichkeit zugeordnet: Tatsächlich gelingt es Rundt auch, diese unglückliche Liebesgeschichte ohne falsche sentimentale Zwischentöne darzustellen, von der Unmöglichkeit der Liebe zwischen den Rassen zu schreiben, ohne Kitsch und Gefühlsduselei. Zudem wird das Geschehen immer wieder unaufdringlich, beispielsweise in der Gerichtsszene oder im Dialog mit einem Arzt, der für die Gleichberechtigung kämpft, auf eine gesellschaftspolitische Ebene gezogen.

Rassismus in den Vereinigten Staaten

Ein sehr empfehlenswerter Roman, der auch einen Blick auf die heutige amerikanische Gesellschaft öffnet – eher zufällig habe ich dieser Tage auch „Americanah“ von Chimamanda Ngozi Adichie gelesen, der das Thema Rassismus in den USA aus heutiger Sicht widerspiegelt: So viel, wie man es sich manchmal wünscht, hat sich durchaus noch nicht verändert und unter Trump ist zu befürchten, dass sich vieles wieder rückwärts entwickelt.

Zurück zu Arthur Rundt: Der 1881 in Schlesien geborene Autor erreichte mit seinen Amerika-Büchern einen letzten Höhepunkt seiner Bekanntheit. Auch für ihn wurden, wie für viele andere Autoren, Schauspieler, Künstler, ab 1933 die Veröffentlichungsmöglichkeiten und damit auch die materielle Absicherung immer schwieriger. Rundt gelang quasi in letzter Minute die Emigration in die USA – dort aber verstarb er kurz nach seiner Ankunft in New York.

Herausgeber Primus-Heinz Kucher würdigt in seinem Nachwort den Roman „Marylin“:

„Nicht nur thematisch nimmt dieser Roman eine singuläre Stellung ein: Die Überblendung von Race und Gender, europäischen Projektionen und amerikanischen Realitäten, urbaner Modernität und provinzieller Fesseln hat zwar schon Hugo Bettauer in seinem Roman Das blaue Mal (1922) zum Gegenstand eines kulturzivilisatorischen, Widersprüche und Utopien thematisierenden Südstaaten-Narrativs gemacht, doch blieb seine Sicht auf die Vorkriegsrealität begrenzt. Darüber hinausgehend verknüpft Rundt seine Gestaltung des Diskurs- und Themenfeldes von ›Race‹, ›Gender‹ und ›Kultur‹ mit hochaktuellen Debatten über den zeitgenössischen techno-habituellen Wandel. Und er unterlegt sie mit einer sprachlichen Signatur, die in neusachlicher Diktion diesen Wandel kongenial begleitet, ja wesentlich mitträgt, – eine Signatur, die im Ansatz jener von Mela Hartwig und Hermann Kesten verwandt erscheint, aber in ihrem Metropolen-Soundtrack wie in ihrer desillusionierenden Perspektive fast einzigartig aus der zeitgenössischen deutschsprachigen Romanproduktion herausragt.“


Bibliographische Angaben:

Arthur Rundt
Marylin
Edition Atelier, 2017
ISBN: 978-3-903005-28-0

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

7 Gedanken zu „Arthur Rundt: Marylin“

  1. Guten Morgen, Birgit,
    ich habe gerade online in der örtlichen Bücherei nach dem Buch gesucht und von Arthur Rundt „Der Mensch wird umgebaut : ein Russlandbuch “ in der historischen Abteilung der Zentralbibliothek in Berlin gefunden. Leider gibt es keine Inhaltsangaben zum Buch. Das Buch selber darf auch nur im Lesesaal angeschaut bzw. gelesen werden. Schade, ich müsste mehr Zeit haben, dann könnte ich es mir anschauen gehen. Ich behalte es im Auge.
    Liebe Grüße von Susanne

    1. Liebe Susanne, ja, das war wohl sein letztes veröffentlichtes Buch, analog zu seinen journalistischeren Büchern über Amerika eines, das nach einer Russland-Reise entstand. Ich kann leider nicht sagen, wie es ist. „Marylin“ scheint als Roman eine Ausnahme innerhalb seines Werkes darzustellen – das Buch kann ich sehr empfehlen. Vielleicht ist es künftig mal bei euch in der Bücherei zu haben… Liebe Grüße aus dem verregneten Augsburg, Birgit

      1. Liebe Susanne, ich empfehle die Möglichkeit der Fernleihe.
        Da bekommst Du für wenig Geld die Bücher in die nächste teilnehmende Bibliothek zur Ausleihe geschickt.
        Ich habe es gerade geprüft und könnte Dir sofort einige Titel (auch Marylin) bestellen. Wir sind jedoch in Alfter bei Bonn. 😉

        Beste Grüße
        Erika

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