#MeinKlassiker (30): Ein Besuch mit Wolfgang Schiffer bei Halldór Laxness

Der Schriftsteller Wolfgang Schiffer ist ein profunder Kenner isländischer Literatur. Zur Reihe trägt er ein wunderbares Portrait von Halldór Laxness bei.

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Bild von Pexels auf Pixabay

Wolfgang Schiffer bringt mich mit seinem Blog immer wieder zum Erstaunen: Ich hatte offen gestand wenig Ahnung von isländischer Literatur, schon gar nicht von ihrer Vielfalt und Qualität. Auf seinem Blog „Wortspiele“ entfaltet sich diese reichhaltige literarische Landschaft uns Lesern – auch weil Wolfgang Schiffer sie uns durch seine Aktivitäten als Übersetzer und Herausgeber zugänglich macht.
Dass der Schriftsteller sich Zeit für #MeinKlassiker nahm, hat mich sehr gefreut – ist er doch ein vielbeschäftigter Mann. So gab er jüngst gemeinsam mit Michael Serrer „BILANZ“ heraus, eine Edition mit einer Auswahl der hochkarätigen Hörspiele, die in den Studios des WDR entstanden. Hörenswert!
Nun aber Raum für den Klassiker von Wolfgang Schiffer – Halldór Laxness, mein Wunschkandidat:

„Wer nicht in der Poesie lebt, der überlebt hier auch nicht.“

Wenn einem – wie so häufig – Birgit Böllingers Idee zu einer Reihe in ihrem äußerst lesenswerten Blog „Sätze & Schätze“ per se sehr gefällt und man sodann auch noch von ihr, wie bei der Reihe #MeinKlassiker geschehen, ermuntert wird, doch mit einem Beitrag – möglichst aus der Landschaft des besonders ausgeprägten eigenen literarischen Interesses – daran teilzunehmen, so darf man dies meines Erachtens durchaus als eine kleine Ehre empfinden.

Da muss man dann irgendwann einfach mal Zahnschmerz, Grippe sowie Arbeiten, die den vermeintlich letzten verbliebenen Rest an Konzentrationsfähigkeit erfordern, beiseiteschieben und sich, wenn auch mit deutlicher Verspätung, ans Werk machen – sprich, sich zunächst einmal entscheiden, wer es denn sein soll, der in den Status #MeinKlassiker erhoben wird…

Wer meine „Wortspiele“ kennt, wird sich vorstellen können, dass mir die Auswahl hinsichtlich des Sprach- und Kulturraums nicht schwer gefallen ist. Es ist Island.

Auch bei der Benennung des Schriftstellers habe ich – wiewohl mir noch Namen wie Gunnar Gunnarsson oder ­Þórbergur Þórdarson (vom ersten wäre insbesondere der Roman „Vivivaki“ zu nennen, vom zweiten liegt auf Deutsch bislang leider nur „Islands Adel“ vor…) durch den Kopf gingen, ebenfalls nicht besonders nachdenken müssen. Es ist natürlich Halldór Laxness.

Die Wahl, das muss an dieser Stelle gesagt werden, ist aber nicht nur deshalb auf Halldór Laxness gefallen, weil er vielen zu Recht als der größte Schriftsteller seines Landes gilt und zudem sein einziger Literaturnobelpreisträger ist – nein, sie ist vor allem deshalb getroffen, weil mich mit der Lektüre seiner Romane, ja, mit ihm persönlich, eine besondere Geschichte verbindet. Doch davon ein wenig später.

Zunächst eine Art Statement: Halldór Laxness (eigentlich Halldór Kilian Guðjónsson – den Namen Laxness legt er sich erst später zu in Anlehnung an den Namen des Hofs, den sein Vater 1905 in Mosfellsveit gekauft hat) geboren 1902 – gestorben 1998 – Nobelpreis für Literatur 1955 – ist der wohl letzte Nationaldichter Europas und nicht nur wegen seiner mehr als 60 Buchtitel einer der größten Weltautoren zugleich. Ihn nicht gelesen zu haben, wäre ein dringendst zu korrigierendes Versäumnis.

Alle 60 Bücher, die er veröffentlicht hat, habe ich nicht gelesen – aber doch, wenn auch zunächst in nicht immer besonders guten Übersetzungen, da sein Werk hier in Deutschland erst recht spät im Steidl Verlag eine pflegliche literarische Heimat gefunden hat – aber doch zumindest so viele, dass ich über die Wahl des Titels eine Weile gegrübelt habe.

„Salka Valka“ (1931/1932)

Ein Kandidat für #MeinKlassiker wäre durchaus der 1931/32 geschriebene Roman „Salka Valka“. Wer Laxness entdecken möchte, kommt an diesem Roman nicht vorbei. Laxness schildert hierin den Weg der Titelheldin vom unehelich geborenen, bettelarmen und missbrauchten Fremdling in einem isländischen Fischerdörfchen zur selbstbewussten jungen Frau mit kämpferischem Stehvermögen, mit hellem Kopf voller sozialer und politischer Interessen und tiefen, einander widerstreitenden Gefühlen.

Ihre quasi Bekehrung zum Bolschewismus korrespondiert mit Laxness´ damaliger eigener marxistisch-kommunistischer Überzeugung. Doch wer glaubt, dass seine im Laufe seines Lebens aus eigener Sicht als politischer Irrtum erkannte Überzeugung  sich ideologisch verengend auf seine literarischen Figuren durchgeschlagen wäre, der überliest die ihm eigene Mischung aus Wärme, Witz und Widerhaken, in der er die Einführung des Bolschewismus in das kleine Fischerdorf am Axlarfjord darzustellen weiß.

„Sein eigener Herr“ (1934/1935)

1934/35 schreibt und veröffentlicht Halldór Laxness den Roman „Sein eigener Herr“, der ihm erstmals Weltruf einbringen wird. So wurde er u. a. als einziger Roman des späteren Nobelpreisträgers schon in den 30er Jahren ins Deutsche übertragen, der erste der ehemals zwei Bände erschien 1936 unter dem Titel „Der Freisasse“. Die Veröffentlichung des zweiten Bandes wurde allerdings von den Nationalsozialisten verboten, weil der Roman nicht dem entsprach, was diese sich unter einem Bauernroman vorstellten. Sein Thema, das ich hier nur streifen kann, das Leben eines Heide-, eines Einödbauern tief in der Einsamkeit und entfernt von allen Menschen scheint jedoch generell nicht gerade das zu sein, wonach einem Leser das Herz schlägt. Doch von Laxness´ Darstellung geht ein Sog aus, der es einem schwer macht, sich von der Geschichte zu trennen – ein Sog, der ihn zu einem der großen Romane des letzten Jahrhunderts macht, auch wenn er in Island selbst zunächst heftigste Kritik auslöste. In einer auf Gegenseitigkeit, Austausch und Kommunikation beruhenden modernen Welt verschreibt sich der Bauer Bjartur einer Wahnvorstellung von Autarkie, die – seine zwei Frau fallen dem unerbittlichen Überlebenskampf zum Opfer – ihn und seine gesamte Familie ruiniert. Es ist ein Drama griechischen Ausmaßes, dessen Wurzeln in der Verblendung liegen, im Festhalten an der Eigenständigkeit, auch wenn diese objektiv gesehen ein menschenunwürdiges Leben bedeutet.

„Weltlicht“ (1937/1940)

Wie „Sein eigener Herr“ könnte auch „Weltlicht“ ein Kandidat für #MeinKlassiker sein. Halldór Laxness thematisiert in diesem 1937 bis 1940 geschriebenen vierbändigen Roman, der auf Tagebuchaufzeichnungen des isländischen Volksdichters Magnus Hjáltason zurückgeht, die Stellung des Künstlers als Außenseiter in der Gesellschaft. Laxness zeichnet mit ihm, wie bereits in „Salka Valka“, erneut ein breites Panorama Islands in den dreißiger Jahren, den Jahren der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen, der Lohnkämpfe und des Ausgerichtetseins auf das bloße Überleben. Òlafur Kárason, als Kind von den Eltern verstoßen, wächst als Gemeindepflegling auf einem Bauernhof unter Fremden auf. Hier muss er schwere körperliche Arbeit verrichten, leidet unter Schlägen, Hunger und menschlicher Kälte. Doch aller Unbill und Gehässigkeit, die ihm entgegenschlagen, hat er etwas entgegen zu setzen: Die Schönheit der Literatur.

Nicht weniger verdient hätten das Klassiker-Prädikat, um zumindest noch zwei Werke aus dem reichen literarischen Œuvre dieses Schriftstellers zu nennen, der historische Roman „Die Islandglocke“ und die „Atomstation“.

„Die Islandglocke“ (1943/1946)

„Die Islandglocke“ schrieb Halldór Laxness 1943 bis 1946; seine hierin geleistete Darstellung der Leiden der Isländer unter der Unterdrückung als Kolonie Dänemarks (erst 1944 erlangten die Isländer wieder ihre volle Souveränität) ließ ihn zum verehrten Nationaldichter werden.

Kurz zum Inhalt: Wir sind im Island des 17. Jahrhunderts: Wirtschaftlich und politisch unter dem Joch der Dänen, von Hungersnot und Seuchen heimgesucht, droht dem Land der Untergang. Auf nur noch einen Rest der Bevölkerung dezimiert, halten sich die Isländer an das einzige, das ihnen bleibt: ihre Sprache. Angelehnt an historische Figuren (Árni Magnússon) sucht in dieser Zeit der isländische Wissenschaftler Arnas Árnaeus für eine Bibliothek in Kopenhagen auf dem Land nach kostbaren alten Handschriften aus dem Mittelalter, die die verelendeten Bauern versteckt und dabei teilweise zu Isoliermaterial oder Schuhsohlen umfunktioniert haben. So auch der sich der dänischen Unterdrückung widersetzende Bauer Jón Hreggvidsson, dessen Schicksal sich mit dem von Arnas Árnaeus kreuzt, als er unter Mordverdacht gerät und einen über 30 Jahre währenden Gerichtsprozess über sich ergehen lassen muss.

Der Titel des Romans erklärt sich wie folgt: Symbol der zu der Zeit gebrochenen Stimme des isländischen Volkes, das sich in seiner Identität wie kein anderes Volk der Welt auf die Reinheit seiner Sprache, den Klang von Worten beruft, ist eine alte, beschädigte Glocke. Sie hängt am Giebel des Gerichtshauses von Þingvellir, der Stätte, an der in Island seit 930 Recht gesprochen wurde. Mit der Zerstörung der Glocke auf Geheiß des dänischen Königs beginnt der Roman.

Wenn ich zuvor gesagt habe, das Laxness sich mit der „Islandglocke“ in die Herzen der Isländer eingeschrieben habe, so tat er mit seinem nächsten, 1948 erschienenen Roman „Atomstation“ alles, um seinen Ruf als Nationaldichter wieder aufs Spiel zu setzen. Zumindest bei einem Teil, insbesondere beim offiziellen Teil der Bevölkerung.

„Atomstation“ (1946/1947)

Geschrieben wurde „Atomstation“ 1946/47. Der historische Hintergrund bildet die Besatzung Islands im 2. Weltkrieg durch die Briten, die 1941 von den Amerikanern abgelöst wurden. Die 1944 wiedererlangte Unabhängigkeit Islands wurde durch das 1946 formulierte Ansuchen der USA, für 99 Jahre einen militärischen Stützpunkt auf der strategisch wichtigen Insel errichten zu wollen, als gefährdet angesehen. Das isländische Parlament stimmte dem Ansuchen jedoch schließlich zu und schloss den sogenannten Keflavík-Vertrag ab. Kurz nach diesen Geschehnissen begann Laxness, der in der Stationierung amerikanischen Militärs eine Bedrohung des isländischen Lebens sah, mit seinem Roman. Er erzählt von dem Mädchen Ugla, das aus einem abgelegenen Ort in Nordisland in die Hauptstadt kommt, um bei dem Abgeordneten Búi Áland zu arbeiten und – vor allem – das Orgelspiel zu erlernen. Sie, die aus einer bäuerlichen Welt kommt, in der die mittelalterlichen Sagas einen höheren Stellenwert besitzen als die Realität, trifft hier auf eine völlig unbekannte Welt: Politiker und Militärs gehen aus und ein, die Bewohner des Hauses und ihre Gäste sind verwöhnt, versnobt und arrogant, der Ministerpräsident betreibt heimlich den „Ausverkauf“ des Landes. Ein wirklich starker Roman. Und doch habe ich selbst im Vergleich mit ihm einem anderen den Vorzug gegeben – einem Spätwerk, ja, sogar dem letzten großen Roman, den Halldór Laxness geschrieben hat: „Am Gletscher“.

#MeinKlassiker: „Am Gletscher“

Im Original 1968 unter dem Titel „Kristnihald undir Jökli“ erschienen, auf Deutsch zunächst als „Seelsorge am Gletscher“, dann schlicht als „Am Gletscher“ erschienen, ist dies ein liebenswürdig ironisch-weiser Roman, der sich ein Pfarrhaus in der nordischen Gletschereinsamkeit am Fuß des Snæfell-Gletschers zum Schauplatz ausgewählt hat, dort, wo Jules Verne seinerzeit bereits seine Crew zum Mittelpunkt der Erde absteigen ließ. Jetzt wird ein junger Theologe (später Vebi = Vertreter des Bischofs gerufen) dorthin entsandt, zur Aufklärung von Gerüchten und mysteriösen Vorfällen rund um den Pfarrer Jón Prímus, benannt nach den kleinen Spiritus-Kochern, die er so vortrefflich zu reparieren weiß. Vebi, ausgerüstet mit einem Tonbandgerät, nimmt seine Aufgabe sehr ernst – und sieht angesichts einer zugenagelten Kirche, nicht mehr abgehaltener Gottesdienste und Beerdigungen und einer Pfarrersgattin, die es nur noch als Spukgestalt zu geben scheint, vordergründig nicht nur die Befürchtungen des Bischofs bestätigt, bei seinen weiteren Recherchen sieht er sich selbst bald mit Reden und Taten konfrontiert, die er bei allem Bemühen nicht versteht.

Und in der Tat: Die humane Logik des Lebens am Gletscher ist so offenbar, dass sie leicht übersehen werden kann. Es ist dieselbe Logik, die auch die isländischen Sagas und die Poesie regieren. Laxness setzt ihr mit diesem Roman ein Denkmal und macht das Pfarrhaus zum Nabel der Welt.

Warum habe ich diesen Roman gewählt?

Nun, er ist großartig, aber das sind viele andere des Autors ebenfalls. „Am Gletscher“ war aber darüber hinaus der Anlass für meine erste Begegnung mit Halldór Laxness selbst und diese wiederum war meine Initialisierung für mein Interesse an isländischer Literatur überhaupt.

Anfang des Jahres 1982 hatte ich mich in meiner damaligen Funktion als Hörspieldramaturg des WDR entschlossen, eine Hörspielbearbeitung von „Kristnihald undir Jökli“ zu produzieren. Die bevorstehende Sendung sollte auch Anlass sein, den von mir geschätzten Romancier selbst aufzusuchen und ihn zu seinem Werk und eventuellen zukünftigen Plänen zu interviewen. Für mich erfüllte sich damit ein lang gehegter Wunsch. Island galt ein vermutlich romantisch-schwärmerisches Reiseinteresse, seit ich in der Edda und in den Sagas gelesen hatte, und die Arbeiten von Laxness, soweit sie mir damals zugänglich waren, hatten dieses Interesse später verstärkt.

Jetzt also, gekoppelt zudem mit einem Arbeitsvorhaben, das mich sicher sein ließ, den berühmtesten Schriftsteller Islands persönlich kennenzulernen, sollte sich mein Wunsch endlich erfüllen: Halldór Laxness lud mich zu sich ein, und wenige Wochen vor seinem 80ten Geburtstag (das ist der 23. April) machte ich mich auf meine erste Reise in den Norden.

Ich will hier nur am Rande meine Verblüffung erwähnen, die die Kälte und die geschlossene Schneedecke auslösten, mit denen Island mich empfing; der vorbeiziehende Golfstrom hatte mich, wie nicht zuletzt von Einheimischen immer wieder behauptet, zumindest im Süden der Insel ein milderes Klima erwarten lassen. Auch Reykjavík, die Hauptstadt, dieses damals große, bunte moderne Dorf mit seinen leicht gekleideten Menschen und seinem bereits internationalen Boutiquenangebot, passte kaum in mein Bild mythischer Verwurzelung, und dass sich das traditionsreiche Hotel Borg im Zentrum gegenüber dem schwarz-steinernen Parlamentsgebäude am Abend in eine lärmende Diskothek verwandelte, nun, der zivilisationsmüde Festlandeuropäer in mir war regelrecht schockiert. Welch ein Gegensatz aber, als ich am nächsten Morgen mit einem gemieteten Kleinwagen zu Laxness´ Haus fuhr, die Straße nach Þingvellir hinaus (die übrigens, wie ich später erfuhr, witterungsbedingt für den Autoverkehr gesperrt war), Richtung Alþingi, der ältesten Parlamentsstätte der Welt. Allenfalls das spitze, grünschimmernde Turmdach einer kleinen Kapelle ließ hier noch vermuten, dass in dieser weißen Landschaft überhaupt Menschen siedelten, ansonsten zeugte nur eine kleinere Herde Islandpferde von Leben; in stoischer Gelassenheit hatten die Tiere dem kalten Schneetreiben ihre prallen Hintern entgegengestreckt.

Auf den ersten Blick kaum auszumachen in dieser Witterung, war nach mehreren Kilometern das ebenfalls weiße Gebäude am rechten Straßenrand, das Haus, in dem Laxness und seine Frau Auður Sveinsdóttir wohnten. Heute ist das Haus, das sie Gljúfrasteinn (in etwa Bergschluchtstein) nannten, ein Museum zum Gedenken an den Dichter.

Die beiden empfingen mich in der Tür zu diesem Haus und führten mich als erstes zu einem reich gedeckten Mittagstisch. Während wir Lammbraten aßen und dem Wein zusprachen, befanden wir uns bald in einem angeregten Gespräch, über Gott und die Welt, wie man so sagt, und vor allem natürlich über Literatur, und wäre da nicht das Aufnahmegerät gewesen, ich hätte darüber leicht den eigentlichen Grund meines Besuches vergessen können.

So jedoch, als die Höflichkeit es gebot, die mir entgegengebrachte Gastfreundschaft nicht über Gebühr zu strapazieren, bat ich um Rückzug in einen stillen Raum. Halldór Laxness schlug sein Arbeitszimmer vor, eine kleinere Kammer in der ersten Etage. Ich erinnere den Blick aus dem Fenster über die sanften Schneehügel, das Stehpult davor, die überquellenden Bücherregale und einen bequemen Ledersessel, in den der Romancier sich niederließ, eine mächtige Zigarre zwischen den Lippen. Da saß ich nun vor ihm und fühlte mich ein wenig wie Vebi aus dem Roman „Am Gletscher“, der im Auftrag des Bischofs mit seinem „Lautschreiber“ Pfarrer Jón Primus nach vermeintlichen Verfehlungen befragt. Und auch Laxness schien an diese Figurenkonstellation zu denken, denn angesichts des Mikrophons, das ich ihm entgegenhielt, wurde er ebenso wortkarg wie sein Sira Jón Prímus.

Also, vielleicht war meine erste Frage, die ich nicht mehr genau erinnere, womöglich genau so naiv, wie die des jungen Investigators, aber mit der Antwort, dass der weltgewandte Dichter eben keine Antwort wisse, hatte ich wirklich nicht gerechnet. Zum Glück fielen mir nach einer Weile die Schneeamseln ein, jene allein in Island beheimatete Vogelart, die im Sommer Sonnenkreischer heißt, die ich zwar noch nie gesehen hatte, aber von der ich wusste, dass hauptsächlich sie gemeint war, wenn Laxness im Roman seinen Pfarrer sagen lässt:

Worte verwirren nur. Warum können wir uns nicht anzwitschern wie die Vögel?

Vielleicht, so dachte ich, gelänge es mir, hierüber das Eis zu brechen, und so habe ich ihn wohl gefragt, ob er denn den Worten misstraue?

Und siehe da, er antwortete: Nein, aber ich halte die Sprache der Vögel für eine sehr vollkommene und große Sprache, also wir dürfen nicht herablassend von der Sprache der Vögel sprechen, nur weil wir sie nicht verstehen. Ich habe die Vorstellung, dass die Sprache der Vögel eine wundervolle Sprache ist.

Sprach´s und viel erneut in Schweigen. Dennoch, diese ersten wenigen Sätze, die auf Band festgehalten zu werden lohnten, sollten mir später nicht nur als Beweis dienen, überhaupt in diesem Zimmer gewesen zu sein, sie gaben mir auch Mut in der Situation selbst. Auch wenn mein germanistisch-journalistisches Hoffen auf ein rares poetologisches Bekenntnis enttäuscht worden war, ich wagte mich weiter vor. Von seinen Romanfiguren allgemein begann ich zu reden, von ihrem Verwachsensein mit der Heimat und den Mythen, ihrer gleichzeitigen Neugier auf und Skepsis gegenüber der großen, weiten Welt. Worin war der Grund für dieses alles bestimmende Verhalten zu sehen? In der Isolation, die die bevölkerungsarme Insel mit sich brachte, in der wenig verbreiteten Sprache?

Sie haben wohl Recht, sagte er, unsere Sprache ist nicht sehr verbreitet. Aber obwohl das so ist, und obwohl das Land hier sehr hart und schwierig ist und manchmal sehr schlimmes Wetter hat, im Sommer wie im Winter, so hat man hier doch allerlei zustande gebracht an wertvollen Dingen, die sich durchaus vergleichen können mit dem, was andere Völker mit vielen Millionen Menschen geschaffen haben. Es hängt nicht von der Zahl der Köpfe ab, die man zählen kann, ob ein Land ein Land der Literatur ist. Die größten Länder in der Welt der Kultur waren immer sehr kleine Länder.

Mit dieser Antwort, so empfand ich es damals, verbuchte ich meinen zweiten Fehlschlag, das erwartete, deutlich ausgesprochene Bekenntnis zur Nation schien mir ebenfalls ausgeblieben zu sein. Doch vielleicht ließ sich dem hinter einer Zigarrenwolke verborgenen Isländer, der, wie ich ja gelesen hatte, in früheren Jahren als kritischer und sozial engagierter Denker so viele Länder bereist und wechselweise mit den verschiedensten religiösen und gesellschaftspolitischen Ideen und Ideologien sympathisiert hatte, ja eine politische Aussage entlocken. Ich konfrontierte ihn also erstens mit dem Satz seines Geschöpfes Pfarrer Jón (Ich habe nur eine Theorie, nämlich dass Wasser gut sei) und zweitens mit dessen Prognose: Wer nicht in der Poesie lebt, der überlebt hier auch nicht. Ließen solche Äußerungen darauf schließen, wo der späte Laxness steht? Bedeuten sie etwa eine Absage an die Vorstellung, dass die Welt durch Systementwürfe, durch das Wirken der Vernunft also zu bessern sei?

Nein, ich glaube, es ist eine Absage an nichts. Es ist nur die Lebenserfahrung eines Mannes, in wenigen Worten gesagt. Die Kunst besteht darin, einen Satz so kurz und so klar zu machen wie möglich. Und man sollte diese kleinen Sätze, die so viel zu sagen haben, nicht länger machen. Dadurch würden sie auch langweilig und sinnlos werden und dem Leser vielleicht einen wertvollen Gedankenstoff wegnehmen.

Jetzt schwieg ich, und in schneller Erinnerung an so manches weitere, das ich in Laxness´ hier am Stehpult entstandenem Werk gelesen hatte, muss ich wohl auch zustimmend genickt haben. Laxness jedenfalls erhob sich aus seinem Sessel und bedeutete mir, ihn wieder treppab zu begleiten, wo wir uns bei einer Kanne Kaffee bald erneut aufs Lebhafteste unterhalten haben, grad so, als habe es diese lästige Unterbrechung nie gegeben.

Im Rückblick: Es war ein sehr schöner, ein reicher und nachfolgend ein noch reicherer Tag, den Auður und Halldór dem, wie sie mich nannten, jungen Freund aus Deutschland beschert hatten. Noch reicher deshalb, weil mein Bekenntnis, keinen weiteren schreibenden Isländer persönlich zu kennen, ihn oder Auður, das erinnere ich nicht mehr genau, sofort zum Telefon greifen ließ, und noch für denselben Abend war ein Treffen mit einer Kollegin aus der Theaterbranche arrangiert. Sigrún Valbergsdóttir, so hieß die Dame, die sich meiner annehmen musste (sie und ihr Mann Gísli Már, ein Verleger, zählen heute zu meinen besten Freunden), reichte mich weiter, und so lernte ich noch viele kennen in den Tagen, die mir bei meinem ersten Aufenthalt in Reykjavík verblieben: Schriftstellerinnen und Dichter, Theater-, Film- und Radiomacher, Malerinnen, Schauspieler und Übersetzer. Und zu welcher Tageszeit auch immer sie mich zu sich einluden, es stand Kaffee auf dem Tisch und nicht gerade selten gesellte sich auch ein Gläschen Svartidauði hinzu, der im isländischen Volksmund „Schwarzer Tod“ genannte Schnaps. Ja, und diesen ersten, Halldór Laxness ursächlich zu verdankenden Begegnungen und der dabei in mir geweckten Neugierde insbesondere auf die mir bis dahin völlig unbekannte Fülle der isländischen Literatur, habe ich es zu verdanken, dass ich heute diesen Beitrag zur Reihe #MeinKlassiker schreiben konnte.

Wolfgang Schiffer
https://wolfgangschiffer.wordpress.com/

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

10 Gedanken zu „#MeinKlassiker (30): Ein Besuch mit Wolfgang Schiffer bei Halldór Laxness“

  1. was für ein wundervoller beitrag!
    am liebsten habe ich von eurer begegnung gelesen, wie wunderbar, wie bereichernd muss das gewesen sein!
    danke, wolfgang, und danke, birgit.
    beste grüße
    von diana

  2. Ich kann mich Diana nur anschließen: was für schöne Erinnerungen und was für ein warmes Gefühl hat der Text in mir ausgelöst! Meine Hochzeitsreise führte mich 2007 nach Island und ich habe mich in dieses Land fast genauso verliebt wie in den Mann an meiner Seite. Eine Herzenslandschaft, in der ich mich beihnahe so wiederfinde wie in den Hügeln meiner Heimat. Laxness habe ich mir damals mitgebracht und bis heute sind die Bilder aus „Sein eigener Herr“ in mir lebendig. Und der wunderbar geschriebene Beitrag von Wolfgang Schiffer hat sie mir heute morgen wieder aufgerufen, verstärkt und mir ein großes, beglücktes Lächeln geschenkt! Danke!

  3. Was für ein schöner Beitrag! Vielen Dank für die Mühe.
    Bisher bin ich immer um Laxness herum geschlichen. Aber jetzt habe ich das Gefühl, den „Gletscher“ sofort lesen zu müssen. 🙂

  4. Wow – ich muss ja wieder einmal gestehen … von Laxness noch nichts gelesen zu haben … aber ich habe eine Tasse mit dem zitierten wunderbaren Satz über das Leben in der Poesie als Überlebensnotwendigkeit in isländisch, englisch und deutsch! LG und vielen Dank für diesen tollen Beitrag!, Bri

  5. Ich freue mich, von Halidór Laxness endlich einmal gehört zu haben – werde mir „Am Gletscher“ besorgen. Der Artikel hat mir eine wahre Lust darauf gemacht. Vielen Dank an Wolfgang Schiffer, vielen Dank auch an Birigt Böllinger! Dieser Blog ist eine wahre Bereicherung für mich.

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