Virginia Woolf: Flush

Virginia Woolf bezeichnete ihr Buch selbst als „nur so eine Art Witz“. Herausgekommen ist ein differenziertes Portrait eines Hundes und seiner Besitzerin.

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Bild von sabsykorova auf Pixabay

„In London konnte er kaum bis zum Briefkasten trotten, ohne einem Mops, Retriever, einer Bulldogge, einem Mastiff, einem Collie, Neufundländer, Bernhardiner, Foxterrier oder einer der sieben berühmten Familien vom Stamme der Spaniels zu begegnen. Jedem gab er einen anderen Namen und jedem einen anderen Rang. Hier in Pisa hingegen gab es, obwohl es von Hunden wimmelte, keine Rangstufen; alle – war das denn möglich? – waren Mischlinge. Soweit er sehen konnte, waren sie einfach bloß Hunde – graue Hunde, gelbe Hunde, gesprenkelte Hunde, gefleckte Hunde; es war jedoch unmöglich, auch nur einen einzigen Spaniel, Collie, Retriever oder Mastiff unter ihnen zu entdecken. Hatte die Rechtsprechung des Kennel Clubs denn in Italien keine Geltung? War der Spaniel Club unbekannt? (…) Flush fühlte sich wie ein Fürst im Exil. Er war der einzige Aristokrat inmitten der canaille. Er war der einzige reinrassige Cocker Spaniel in ganz Pisa.“

Virginia Woolf, „Flush. A Biography“, 1933


Nicht nur für den Cocker mit Stammbaum, dem Virginia Woolf eine eigene Biographie widmete, war die Flucht nach Italien auch eine Befreiung von engen Zwängen und Konventionen: Sondern auch für sein Frauchen, die viktorianische Dichtern Elisabeth Barrett. Und ein Stück weit „literarisches Atemholen“ wohl auch für die Verfasserin, die sich von den „Wellen“ erholen musste.

„Flush ist nur so eine Art Witz. Ich war so müde nach den Wellen, daß ich im Garten lag und die Liebesbriefe der Brownings las, und die Figur ihres Hundes brachte mich zum Lachen …“,

schrieb Virginia Woolf 1933 in einem Brief. Eine „Gehirnlockerung“ sollte das Buch sein, an dem sie später ihre Zweifel hegte, befürchtete, diese „törichte“ Arbeit könnte zum Erfolg werden – auf Kosten ihrer ernsthafteren Werke. Tatsächlich ist diese kleine Hundebiographie von einer sanften Ironie getragen – die einen als Leser aber auch dieses spezielle Hundeschicksal viel viel besser ertragen lässt. Weil man ansonsten eher wütend gegen den Tort anbellen müsste, der Flush angetan wird.

Der Hund am Krankenbett von Elisabeth Barrett

Denn Flush ist eigentlich ein wilder Racker vom Lande, streunend, strolchend, freiheitsliebend. Dessen gutmütige Besitzerin, Mrs. Mitford, beschließt jedoch den Hund ihrer Freundin Elisabeth Barrett (1806 – 1861) zu deren Erbauung und Erheiterung überlassen. Für den Cocker Spaniel ändern sich damit die Lebensverhältnisse auf das Extremste – vom freien Feld ans Krankenlager. Das Bett in einem abgedunkelten Zimmer ist der Lebens- und Schreibort von Miss Barrett seit dem Tode ihres geliebten Bruders. Ob ihre Bettlägerigkeit tatsächlich mit körperlichen Erkrankungen oder psychosomatisch bedingt war, ist heute umstritten. Hier ein Link zu ihrer Biographie:  fembio. Gleichwohl: Für Flush ist das künftig der Zwinger, den er zu mit Frauchen zu teilen hat.

Schwer vorstellbar, dass ein Hund das mit Freuden tut. Virginia Woolf beschreibt die Erstbegegnung so:

„Beide waren überrascht. Schwere Locken hingen zu beiden Seiten an Miss Barretts Gesicht herab; große helle Augen leuchteten daraus hervor; ein großer Mund lächelte. Schwere Ohren hingen zu beiden Seiten von Flushs Gesicht herab; auch seine Augen waren groß und hell; sein Mund war breit. Während sie einander anstarrten, fanden beide: Das bin ja ich! – und dann fanden beide: Doch wie anders! (…) Zwischen ihnen lag die breiteste Kluft, die zwei Wesen voneinander trennen kann. Sie konnte sprechen. Er war stumm. Sie war Frau; er war Hund. So eng verbunden, so unendlich weit getrennt, starrten sie einander an. Dann sprang Flush mit einem Satz aufs Sofa und legte sich, wo er fortan für alle Zeiten liegen sollte – auf die Decke zu Miss Barretts Füßen.“

Wie es sich für die Biographie des Hundes einer Dichterin gehört, werden die profanen Einzelheiten ausgespart, z.B.: War Flush schon stubenrein? Wer ging mit ihm täglich mehrmals Gassi? Wie wurde sein Bewegungsdrang kompensiert? Oder verfettete er in den Jahren als Sofahündchen? Bevor man sich jedoch zu sehr den Kopf über artgerechte Tierhaltung zerbricht, tritt eine Lichtgestalt in unser aller Leben: Mr. Browning.

Der Konkurrent von Mr. Browning

Flush macht den Zweibeiner sofort als Konkurrenten um Miss Barretts Zuneigung aus – und reagiert sowohl eifersüchtig als auch bissig. Denn Frauchen beginnt sich zu verhalten, komisch zu verhalten: Sie verlässt immer öfter das Bett, sogar das Zimmer, sogar das Haus. Und er selbst steht nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens. Ein Hund, der auf sich hält, setzt da die Beißerchen ein – so viel ist Flush von seinen Urinstinkten auch auf dem Sofa noch geblieben.

Für ihre wundersame Heilung sorgt also nicht die zum Hund, sondern die zum Mann – und für den lesenden Hundeliebhaber kommt so das Ganze doch noch zu einem Happy-End: Robert Browning ehelicht Elisabeth, entführt sie förmlich aus den Fängen des dominanten Vaters und in Italien durften sie dann alle, solange sie gelebt haben, endlich wieder nach Herzenslust streunen.

Man muss die Verzärtelung und Vermenschlichung, die die einsame Miss Barrett ihrem Hund angedeihen ließ, nicht mögen – das Buch von Virginia Woolf, von Beginn an auch als Parodie typischer viktorianischer Biographien gedacht, jedoch schon: Das Barrett-Browning-Flush-Verhältnis ist mit so feiner Ironie, ja mit leichtem Sarkasmus gestrickt, das ringt einem beim Lesen einfach ein Lächeln ab.


Bibliographische Angaben:

Virginia Woolf
Flush
Übersetzt von Karin Kersten
S. Fischer Verlag, 1993
ISBN: 978-3-10-092521-3

Autor: Birgit Böllinger

Büro für Text&Literatur: Pressearbeit für Verlage, Autorinnen und Autoren, Literatureinrichtungen

12 Gedanken zu „Virginia Woolf: Flush“

  1. Liebe Birgit,
    wie froh bin ich über das Erscheinen Mr Brownings und der Entführung von Hund und Dame aus dem engen England in das sonnige Italien. So ein Leben im verdunkelten Zimmer, das kann ja weder für Hund noch für Frauchen gut sein. Da ist ein Streunern rund um den schiefen Turm und ein Kennenlernen der italienischen Hundeweelt doch eine gute Sache. – Flush kannte ich noch gar nicht. Schön, ihn nun kennengelernt zu haben als literarisches Geschöpf Vorginia Woolfs.
    Viele Sonntagagendgrüße, Claudia

    1. Ja, man kann schon sehr erleichtert sein über das Ausbüchsen nach Italien … vor allem für den Hund habe ich mich gefreut. Auch wenn ich versuche, für die Situation von Miss Barrett Verständnis aufzubringen – die sich wohl vor allem aus psychischen Gründen in ihren selbsterschaffenen Kerker zurückzog – den Hund da mit einzusperren, ist schon deutlich egozentrisch … Naja, diese überkandidelten Dichterinnen 🙂

  2. Nachdem ich im letzten Sommer „To the Lighthouse“ gelesen habe, habe ich schon damit geliebäugelt, „Flush“ zu lesen, um auch mal eine andere Seite von Virginia Woolf kennenzulernen. Jetzt hast Du mir noch mehr Lust darauf gemacht 😀 Liebe Grüße, Peggy

    1. Liebe Peggy, ja, ich hab so einen großen Respekt vor den Büchern von Virginia Woolf – Mrs. Dalloway habe ich sehr gerne gelesen, aber die Ernsthaftigkeit und Tiefe der Texte, in die ich bislang reinschaute, war ein Grund, dass ich sie bisher immer wieder auf „ruhigere“ Zeiten verschoben habe – insofern war „Flush“ für mich vielleicht gerade auch wieder die richtige Annäherung auf die leichte Art…

  3. „Flush“ – wie schön! Das Buch habe ich sehr, sehr gerne gelesen. Für das arme Tier war das Leben in London sicher nicht schön, um so schöner das allgemeine Aufblühen in Italien und die gewonnene Freiheit.

    Von Virginia Woolfs Romanen habe ich bisher außer Flush auch nur Mrs. Dalloway gelesen, dazu ein paar Erzählungen, einzelne Essays in Der gewöhnliche Leser, eine Auswahl aus den Tagebüchern (toll!) und vor allem „Augenblicke des Daseins“ – „Autobiographische Skizzen“ (so der Untertitel), die einen interessanten Einblick in das Leben dieser faszinierenden Schriftstellerin bieten. Bei dem Umfang ihres Werks wird sie mich noch einige Jahre beschäftigen. 🙂

    1. Ich finde es herrlich, wie sie den durch die Gassen Italiens streunenden Flush beschreibt, immer seiner Nase nach – und wie sie es dabei schafft, sogar Shakespeare ins Spiel zu bringen. Eine großartige Erzählerin, so feinfühlig, so gut beobachtend … ja, ich freue mich auch auf die Jahre mit Virginia 🙂 Orlando liegt jetzt ganz weit oben auf dem Lesestapel…

      1. Ja, in Italien darf Flush endlich Hund sein und seinen Instinkten folgen. Die Shakespeare-Stelle habe ich eben nachgeblättert – wie selbstverständlich findet Virginia Woolf hier einen verbindenden Gedanken.

        Auf Orlando bin ich auch gespannt. Da freue ich mich darauf, hier darüber zu lesen. 🙂

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